Kaum eine Frage der Weltordnung kommt heute ohne einen Hinweis auf Thukydides aus. Das gibt wenig Anlass zur Hoffnung, was den Zustand unserer Welt betrifft.
Text: Neville Morley
Über 1500 Jahre ist es inzwischen her, dass das Römische Reich untergegangen ist. Die Blütezeit der griechischen Kultur liegt sogar noch weitere 1000 Jahre zurück. Doch den Autoren und Ereignissen der Antike hat die Zeit nichts anhaben können. Bis auf den heutigen Tag sind sie in unseren Debatten gegenwärtig. Offenbar ist die Autorität der Antike ungebrochen, wenn es um Wissen geht oder um Welterkenntnis.
Ein besonders eindrückliches Beispiel dafür bietet die jüngste Diskussion um die Flüchtlingskrise und die Integrationsfähigkeit von Migranten und Migrantinnen in unsere Gesellschaft. Das alte Rom führt überzeugend vor, dass das Bürgerrecht etwas ist, das man erwerben kann und das auf dem Wunsch der Zugehörigkeit beruht − Rom wurde schließlich von Flüchtlingen gegründet und das volle römische Bürgerrecht zeitweise auch Bewohnern eroberter Gebiete zugestanden. Doch viel häufiger wird das Bild barbarischer Horden beschworen, die die Grenzen des Imperiums überrannten und den Untergang des Römischen Reichs besiegelten –und zwar von denjenigen in unserer Gesellschaft, die Ausländer fernhalten oder ausweisen wollen.
Das Vorbild der Antike ist äußerst wirkmächtig und beständig, aber ebenso vieldeutig wie anfällig für Manipulationen. Denn das Bild, das sich die Wissenschaft auf der Grundlage jüngster Forschungsergebnisse von der Antike gemacht hat, dringt nicht leicht ins allgemeine Bewusstsein. Dort halten sich vielmehr einmal etablierte Vorstellungen hartnäckig, mögen sie auch längst überholt sein.
Für die Aktualität und Autorität, die ein antiker Schriftstellers auch im beginnenden 21. Jahrhundert noch haben kann, steht Thukydides. Er war ein Angehöriger der attischen Oberschicht und lebte im 5. Jahrhundert vor Christus, zur Zeit des Peloponnesischen Krieges zwischen Athen und Sparta. Viel mehr ist aufgrund der mangelhaften Quellenlage über sein Leben nicht bekannt. Wir wissen nur, dass er während des Krieges ein attischer General war und aufgrund einer militärischen Niederlage aus Athen ausgewiesen wurde. Die Jahre seiner Verbannung nutzte er für ausgiebige Reisen durch Griechenland, bei denen er mit Menschen im ganzen Land Gespräche über ihre Kriegserfahrungen führte.
Sein Ziel war es, das Geschehene möglichst wahrheitsgemäß und akkurat zu schildern, und zwar auf der Grundlage seiner eigenen Erfahrungen und in kritischer Auseinandersetzung mit den Augenzeugenberichten anderer, anstatt einfach nur „unterhaltsame“ Geschichten zu erzählen, wie viele seiner Zeitgenossen dies taten. Er wollte mit dieser Arbeit „ein Besitztum für immer“ hinterlassen und zukünftige Leser in die Lage versetzen, die Ereignisse der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft besser zu verstehen. Seit der Renaissance gilt Thukydides damit als der erste „wahre“ oder gar wissenschaftliche Historiker. Sein Versuch, die Gesetze des menschlichen Handelns, die Ursachen für Kriege und die Beziehungen zwischen Staaten zu verstehen, machen ihn darüber hinaus zu einem Pionier der politischen Wissenschaft.
In der Tat kommt kaum eine Frage der Weltordnung im 20. Jahrhundert ohne einen Hinweis auf Thukydides aus. Die Lehrwerke für Internationale Beziehungen präsentieren ihn, vor allem in den Vereinigten Staaten, als ersten Vertreter des politischen „Realismus“. Er habe in aller gebotenen Nüchternheit dargelegt, dass zwischenstaatliche Beziehungen von Macht geprägt sind, nicht von Recht und Gerechtigkeit. Im Melierdialog etwa, einer berühmten Episode aus der Geschichte des Peloponnesischen Krieges, schildert Thukydides eine Verhandlung zwischen Vertretern des übermächtigen Athen und der kleinen Insel Melos, die sich als Kolonie Spartas neutral verhielt und sich nun der freiwilligen Unterwerfung unter Athen widersetzt. Dem begegnen die Athener mit dem Argument, dass ihnen die Macht, Melos zu unterwerfen, auch das Recht dazu gebe – „die Starken tun, was sie wollen, und die Schwachen ertragen, was sie müssen“.
Der ehemalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis gestaltete die Verhandlungen zwischen Griechenland und seinen Gläubigern nach dem Modell von Thukydides’ Melierdialog.
Dieses Argument, mit dem jede Auseinandersetzung auf eine Frage des reinen Kräfteverhältnisses reduziert wird, bildet ein Leitmotiv in der Beschreibung der globalen politischen Ordnung: die „Neocons“ in Amerika bedienen sich seiner etwa bei ihren Plänen für eine neue globale Hegemonie der USA, und auch in den Diskussionen über die Annexion der Krim durch Russland tauchte es mehr als einmal auf. Der ehemalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis, der den Melierdialog einst als Beispiel der Spieltheorie analysiert hatte, nutzte ihn in den Verhandlungen zwischen Griechenland und seinen Gläubigern als Vorlage − mit der übermächtigen EU sowie dem Internationalen Währungsfonds (IWF) in der Rolle der überlegenen Macht, die die absolute Unterwerfung des schwächeren Gegenübers forderte. Auch in seinem Buch über die Politik der Austerität und das globale Finanzsystem setzt er sich mit dem Melierdialog auseinander und wählte sogar ein wörtliches Thukydides-Zitat als Titel: „Und die Schwachen ertragen, was sie müssen?“
Nach dem EU-Referendum im Vereinigten Königreich, das den Brexit in Gang setzte, erinnerten manche Kommentatoren ebenfalls an eine Vorlage von Thukydides, in diesem Fall an seine Mytilene-Debatte über Bündnistreue. In dem Rededuell sprechen sich die Athener zunächst dafür aus, die Stadt zur Strafe für ihren Untreue vollständig zu vernichten und alle erwachsenen Mytilener zu töten, ziehen dann aber den Befehl kurz vor Vollstreckung noch einmal zurück. Ein Meinungswandel tut einer Demokratie also nach dieser Lesart bei Thukydides keinen Abbruch. Seine Analyse der inneren Probleme Athens und anderer Demokratien, die durch unversöhnliche Positionen im Inneren geschwächt werden, wirft ein Licht voraus auf die Polarisierung und eskalierende populistische Rhetorik der demokratischen Staaten unserer Zeit.
Auch die Diskussionen über die Beziehungen zwischen China und den Vereinigten Staaten kommen ohne einen Verweis auf die sogenannte „Thukydides-Falle“ nicht aus. Dieser vom amerikanische Politologen Graham Allison geprägte Begriff bezieht sich auf Thukydides’ Schilderung der Ereignisse, die zum Ausbruch des Peloponnesischen Kriegs geführt haben: „Der Aufstieg Athens und die Angst, die dieser bei den Spartanern hervorrief, ließen den Krieg unvermeidlich werden.“ Allison versteht die Erklärung, dass eine „aufstrebende“ Macht zur Bedrohung für eine „herrschende“ wird und damit eine kriegerische Auseinandersetzung unvermeidlich, als allgemeingültiges Prinzip und Warnung für die pazifischen Beziehungen.
Es ist beeindruckend, wie viele Lesarten von Thukydides heute im Umlauf sind: Die meisten sehen in ihm einen nüchternen Realisten, Kriegsbefürworter und Machtideologen − eine Art Henry Kissinger der griechischen Antike −, andere wiederum halten ihn für einen Idealisten und Pazifisten, der, von den eigenen Kriegserfahrungen traumatisiert, alles daransetzte, zukünftige Kriege zu verhindern. Diese widersprüchlichen Interpretationen liegen vor allem darin begründet, dass sein Werk es uns sprachlich nicht leichtmacht und zu verschiedenen Deutungen einlädt.
Weil seine Schriften lang −und um ehrlich zu sein, über weite Strecken auch langweilig − sind, greifen sich viele Leser nur Absätze oder Zitate heraus, die sich für ihre eigenen Zwecke eignen. Doch es war nicht Thukydides selbst, der behauptete, dass „die Starken tun, was sie wollen“, sondern die Athener, von denen er berichtete. Dass er ihre Ansicht teilte und uns von ihrer Wahrheit überzeugen wollte, bleibt reine Spekulation.
Wenn Thukydides uns heute etwas zu sagen hat, dann wohl, weil die Welt uns unberechenbar und fragil erscheint.
Kein Zweifel kann allerdings daran bestehen, dass Thukydides heute hoch im Kurs steht: Zitate von ihm tauchen in den unterschiedlichsten Kontexten auf, und wie Zeitungsberichten zu entnehmen ist, beruft man sich derzeit auch im Weißen Haus auf seine Autorität in Fragen der Politik und Strategie. Woher diese plötzliche Popularität? Sie gibt jedenfalls kaum Anlass zur Hoffnung, was den Zustand der Welt betrifft. Schließlich beschäftigen sich seine Schriften mit düsteren Themen wie dem Ursprung von Kriegen, dem Untergang der Demokratie und dem Zerfall einer Gesellschaft in Interessengruppen und interne Konflikte. Wenn Thukydides uns heute also etwas zu sagen hat, dann liegt das wohl daran, dass die Welt uns unberechenbar und fragil erscheint. Und dass wir auf der Suche nach einer Autorität sind, die die Gesetze hinter den Ereignissen verstanden hat und uns einen Ausweg aus der Gefahr zu weisen vermag.
Doch rechter Trost und Zuspruch sind bei Thukydides kaum zu finden. Was er uns hingegen anzubieten hat, ist eine tiefere Einsicht in das menschliche Handeln und in unsere Neigung zu vorschnellem Urteil. In seinem Bericht treffen Menschen eine dramatische Fehlentscheidung nach der anderen. Die Lektüre hilft uns zu verstehen, wie und warum sie dies taten, und lässt uns hoffen, dass wir es besser machen können als sie. Thukydides zeigt, wie verwickelt und unvorhersehbar die Welt ist. Aber er verspricht uns auch, dass wir lernen können, mit der Ungewissheit der Zukunft zurechtzukommen − vorausgesetzt, wir lesen ihn richtig.
Neville Morley ist Professor an der University of Exeter in Großbritannien. Seit 2016 ist er Einstein Visiting Fellow an der Freien Universität Berlin. Morley ist einer der international bedeutendsten Experten für den griechischen Historiker Thukydides.