Die Zahl 10 liefert uns einen erstklassigen Anlass zu feiern. Etwa den 10. Jahrestag der Einstein Stiftung. Der Grund dafür liegt in einem Zufall der Natur – und an der Schwelle zur Ewigkeit.
Text: Martin Grötschel
Die meisten Personen und Institutionen feiern gerne – zumindest gelegentlich. Die Einstein Stiftung wird 10 Jahre alt. Und das feiert sie. Doch warum feiert sie ihren 10. Jahrestag und nicht den 9., 11. oder 23.? Sind diese Zahlen etwa unbedeutender?
Nein, das sind sie nicht und das lässt sich sogar mathematisch beweisen: Gäbe es in der Folge der natürlichen Zahlen (0, 1, 2, 3, ...) unbedeutende Zahlen, dann befände sich unter diesen eine kleinste unbedeutende Zahl, was dieser wiederum Bedeutung gäbe. Daraus folgt, dass es keine unbedeutende natürliche Zahl gibt.
Somit könnte im Grunde jede Zahl x Anlass dafür geben, einen x-ten Jubiläumstag zu feiern. Ich kenne ein Mathematikerpaar, das den 3141. Tag seines Kennenlernens gefeiert hat. Doch die meisten Leute feiern eben durch 10 teilbare Jahrestage. Ist die Zahl 10 also doch irgendwie bedeutender oder gar magischer als andere Zahlen?
Mich amüsiert, welche Bedeutungen Esoteriker der 10 zuschreiben. Es gibt Numerologen, die behaupten, 10 sei die Zahl der Veränderungen und Wendepunkte im Leben, sie bedeute Wandel, Unabhängigkeit, Neubeginn, aber auch Unbeständigkeit, Unruhe, Misserfolg. Die 10 wird als Zahl des Kosmos gehandelt, als Gesetz, Ordnung, Herrschaft. Die 10, heißt es, enthalte die unendliche Schöpfung, denn die Null, die zu der Eins der Ur-Quelle dazukommt, ermögliche die Neuschöpfung aus der Leere. Kein Numerologe erklärt allerdings, warum das so sein soll. Mir fehlt zum Verständnis dieser Anhäufungen von beliebigem Unsinn offenbar die „höhere Einsicht“.
Befragt man, wie ich das gemacht habe, zufällig ausgewählte Personen danach, was sie mit der Zahl 10 verbinden, so sind die zwei häufigsten Antworten: 10 Finger und 10 Gebote. Die erste Antwort ist meiner Einschätzung nach der Schlüssel zur Bedeutung der Zahl 10.
Unsere Vorfahren waren irgendwann vor langer Zeit gezwungen, zu zählen und zu rechnen. Und was liegt da näher, als die fünf Finger beider Hände als Hilfsmittel zu benutzen?
Darauf deutet das Wort zehn hin, welches von zehan, der althochdeutschen Bezeichnung der Zahl 10, abgeleitet ist. Die Wurzel von zehan ist die indogermanische Bezeichnung für „zwei Hände“.
Aus dem Zählen mit 10 Fingern hat sich das Dezimalsystem zur Darstellung von Zahlen entwickelt. In der Regel wird darunter das Stellenwertsystem zur Basis 10 verstanden, das der indischen Zahlschrift entstammt, über Arabien nach Europa gelangt und heute internationaler Standard ist. Wenn wir eine Zahl wie 2019 verwenden, denken wir meist nicht daran, dass dies eine abgekürzte Darstellung der Formel 2019 = 2 • 103 + 0 • 102 + 1 •101 + 9 •100 ist.
Jede natürliche Zahl, die größer als 1 ist, kann als Basis eines Stellenwertsystems dienen. Wären Mathematiker vor langer Zeit einmal mit der Entwicklung eines Stellenwertsystems beauftragt worden, hätten sie vermutlich statt der 10 die 12 ausgewählt und das Duodezimalsystem eingeführt. Die 12 hat den großen praktischen Vorteil, dass sie mehr Teiler als die 10 hat. 10 Objekte kann man nur in zwei Fünfergruppen oder fünf Zweiergruppen aufteilen; 12 dagegen ist durch 2, 3, 4 und 6 teilbar und somit bei vielen Aufteilungsproblemen im Alltag besser verwendbar.
Auch die Zahl 60 ist durch ihre gute Teilbarkeit (viele Primfaktoren) eine geeignete Kandidatin für die Basis eines Stellenwertsystems. Das Babylonische Zahlensystem basierte auf der 60, unsere Zeitmessung (Sekunden, Minuten) und Winkelmessungen ebenfalls. Durchgesetzt hat sich die 60 allerdings nicht, denn man müsste im Alltag mit Namen und speziellen Symbolen für die Zahlen von 0 bis 60 umgehen – zu viel für ein Durchschnittsgedächtnis.
Die Zahl 2 ist, seit Konrad Zuse den ersten binären elektronischen Rechner erfunden hat, als Basis eines Stellenwertsystems weitaus erfolgreicher. Schreibt man 2019 als Binärzahl (zur Basis 2), sieht das zwar lang und ineffizient aus: 11111100011 = 1•210 + 1•29 + 1•28 +1•27 + 1•26 + 1•25 + 0•24 + 0•23 + 0•22 + 1•21 + 1•20. Dennoch haben Binärzahlen den Dezimalzahlen im digitalen Zeitalter den Rang abgelaufen, weil sich Rechenoperationen mit ihnen technisch weitaus schneller als mit Dezimalzahlen durchführen lassen. Computer rechnen heute ausschließlich binär. Die Ergebnisse werden am Ende nur deshalb in Dezimalzahlen übersetzt, damit wir Menschen sie besser verstehen.
Die Zahl 10 ist also so besonders nicht. Sie ist keine Glücks- oder Unglückszahl, als Basis eines Stellenwertsystems bestenfalls zweite Wahl. Sie verdankt ihre Bedeutung lediglich einem Zufall der Natur: der Anatomie unserer Hände. Hätten Maulwürfe oder Pandas das Stellenwertsystem erfunden, würden wir heute mit dem praktischeren Duodezimalsystem arbeiten, da diese Tiere sechs Finger haben.
Dennoch, die 10 gilt seit jeher als eine große Zahl. „Besser ists zehen schuldige losz machen als einen unschuldigen verdammen“, steht schon im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. „Es ist besser ein vogel im käfig als zehen auffm baum“ und: „Wie wenn ein narr mehr fragen kündte, denn zehen weisen antworten.
Das Muster dieser alten deutschen Sprichwörter ist klar: Die 10 fungiert hier nicht als Zahl, sondern als Symbol für die Schwelle zu „ganz vielen“. Und das liefert uns einen triftigen Grund, weiterhin 10. Jahrestage zu feiern – wie jenen der Einstein Stiftung. Man hat einen kritischen Zeitraum überstanden, etwas erreicht und strebt nun auf die Ewigkeit zu.
Martin Grötschel ist Mathematiker und Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Von 2011 bis 2015 war er Vorstandsvorsitzender der Einstein Stiftung Berlin, deren Vorstand er weiterhin angehört.