Digitalstunde

An mehr als 130 Berliner Schulen lernen Kinder mit dem Mini-Computer Calliope spielerisch die Sprache der Digitalisierung. Zu Besuch im naturwissenschaftlichen Unterricht an einer Charlottenburger Grundschule

Der Computerraum in der ersten Etage der Mierendorff-Grundschule in Berlin-Charlottenburg sieht heute mehr aus wie ein Labor. Zwischen den Tischreihen mit den über 30 Computerarbeitsplätzen hat Lehrer Faris Hammad auf einem kleinen Tisch ungewöhnliche Materialien für den Unterricht bereitgelegt: Schüsseln mit roten, grünen, gelben und schwarzen Kabeln, andere mit Minitomaten und Babyzucchini, eine Gießkanne und eine ausgediente Gemüsekiste mit der Aufschrift „Frisches aus der Pfalz“. Darin sind kleine hellbraune Pappboxen gestapelt.

Die Kinder der Klasse 5c sitzen an diesem heißen Sommermorgen um kurz nach acht Uhr still in den Bankreihen hinter großen Monitoren. Aus dem Blickfeld ihres Lehrers sind sie fast völlig verschwunden. „Löst euch von euren Bildschirmen“, fordert Hammad sie auf. „Checkt eure Aufmerksamkeit“, mahnt er. Dann beginnt er zu erklären, worum es im naturwissenschaftlichen Unterricht, in der NaWi-Doppelstunde, heute gehen wird: ein Programm für Pflanzenbewässerung schreiben.

Hammad steht vor dem Whiteboard – mit seiner eng anliegenden Hose und den lässigen Flipflops würde der 34 Jahre alte Lehrer auch gut in eines der angesagten Cafés in Kreuzberg passen. Er hält eine Platine hoch, wie sie als Herzstück in jedem Computer steckt, nur dass diese hier nicht viereckig ist, sondern sternförmig mit abgerundeten Ecken. „Wir können aus dem Calliope nicht nur einen Roboter bauen, wie wir es in der letzten Stunde gemacht haben, wir können mit ihm auch Feuchtigkeit messen“, sagt er zu seinen Schüler*innen.

Der Calliope mini ist ein sogenannter Microcontroller, eine Art Minicomputer, der Waschmaschinen genauso steuern kann wie CD-Player oder Fernbedienungen. Die handtellergroße Platine ist mit einem Lagesensor bestückt, einer LED-Anzeige, einem Lautsprecher, einem Mikrofon und Tasten sowie USB-Anschluss und Bluetooth für die Datenübertragung – und sie gehört in Kinderhände. Jedenfalls wünscht sich das Gesche Joost. „Wir haben ein niedrigschwelliges digitales Werkzeug für Kinder ab der Grundschule entwickelt, damit Mädchen wie Jungs früh und spielerisch die digitale Welt erkunden können“, sagt Joost. Die Professorin für Designforschung an der Universität der Künste, die im Vorstand des Einstein Center Digital Future sitzt, hat den Calliope gemeinsam mit dem Internetunternehmer Stefan Noller und weiteren Mitstreiter*innen im Rahmen eines gemeinnützigen Start-ups mit Sitz in Berlin entwickelt. Eigentlich müsste es die Calliope heißen, denn benannt wurde das Gerät nach der Tochter des Zeus, Muse der schreibenden Künste.

Im November 2016 stellten sie Calliope der Öffentlichkeit vor. Seither hat die gemeinnützige Firma mehr als 1000 Schulen in ganz Deutschland mit dem Microcontroller ausgestattet. Selbst erklärtes Ziel ist, dass jedes Kind ab der dritten Klasse in Deutschland mit einem Calliope das Programmieren lernen soll. „Es gibt eine erschreckend große digitale Kluft in Deutschland, die entlang von Alter, Geschlecht und Bildungsschicht verläuft“, beklagt Joost. „Um wenigstens die finanziellen und organisatorischen Hürden niedrig zu halten, verteilen wir Calliope kostenfrei – finanziert durch Spenden.“

Das selbst erklärte Ziel von Calliope ist, dass jedes Kind ab der dritten Klasse in Deutschland Programmieren lernen soll.

Die Mierendorff-Grundschule war eine der ersten Berliner Schulen, die das digitale Lernwerkzeug in den Unterricht integrierte. Die Calliope, mit denen die 5c arbeitet, brachte Faris Hammad mit. Der studierte Wasserbauer und Umwelttechniker, der im September 2017 als Quereinsteiger an die Charlottenburger Schule kam, hatte bei einer Fortbildung einen Klassensatz bekommen. Und weil der Calliope schon damals Bestandteil des „eEducation Berlin Masterplans“ der Berliner Bildungsverwaltung war, konnte Hammad ihn an seiner neuen Schule gleich einsetzen.

„Ihr nehmt euch jetzt jeder einen Calliope, zwei Krokodilklemmen und die Materialien, die ihr untersuchen wollt“, sagt Hammad, nun etwas lauter und bestimmter, aber noch immer freundlich und zugewandt. Sofort stellen sich die meisten der 20 Jungs und Mädchen um den kleinen Tisch herum, greifen sich Microcontroller aus den halbgeöffneten Pappschachteln und decken sich mit Krokodilklemmen ein, den bunten Kabeln, an deren Enden Metallklemmen hängen.

Hammad nimmt eine flache Holzbox vom Tisch und zeigt den Versuchsaufbau. Durch das Plexiglasfenster auf der einen Seite der Box sieht man, dass sie mit dunkler Erde gefüllt ist. Die Enden der Kabel, die er am Microcontroller festgeklemmt hat, steckt er in die Erde. „Aus dem Calliope fließt ein bisschen Strom von der grünen Krokodilklemme in den Boden und durch die andere wieder zurück“, sagt er. Die 25 LED-Leuchten des Calliope zeigen plötzlich einen Smiley an. „Das bedeutet, wir haben einen Stromkreis gebildet“, sagt er und fragt in die Runde: „Warum geht das?“ – „Wegen der Feuchtigkeit“, kommt die Antwort postwendend aus der Klasse.

NaWi-Unterricht und Calliope sind für Faris Hammad eine geradezu perfekte Kombination. Für ihn, weil er anwendungsbezogen denkt und arbeitet und sich nicht vorstellen kann, Phänomene wie einen Stromkreis anhand eines Buchs zu erklären. Und für seine Schüler*innen, weil sie sich bei der Arbeit mit dem Calliope anders als mit Smartphone und Tablet nicht einfach nur berieseln lassen. „Sie entdecken die Welt dahinter, sie erlernen die Sprache der Digitalisierung“, meint Hammad.

Smartphones und Internet spielen eine dominierende Rolle im Leben der Kinder, sie müssen lernen, kompetent damit umzugehen.

Matthias Lenz, Lehrer

Während er erklärt, an welche Spitze des Sterns die Kabel geklemmt werden müssen, sitzen die Kinder schon wieder an ihren Bildschirmen. In einer der hinteren Reihen programmieren die Freundinnen Yagmur und Nada, beide zehn Jahre alt, ihren Calliope. Dafür schieben sie auf dem Bildschirm bunte Programmierbausteine zusammen – sie bauen das Muster nach, das auf ihrem Arbeitsblatt abgebildet ist. Hellorange Bausteine stehen für Aktionen wie „Zeige ein Bild auf der LED-Anzeige“, grüne Bausteine steuern die Sensoren des Calliope – etwa eine der sechs Spitzen, die als digitale Taste fungiert und registriert, wenn Strom fließt. Mit den hellorangen Bausteinen können beide Funktionen logisch verknüpft werden: Wenn Strom fließt, dann zeige einen Smiley an. Klassenkameradin Onalia, die in der Tischreihe dahinter sitzt, hat die Anleitung etwas abgewandelt und statt des vorgegebenen Smileys ein Herz ausgewählt.

Für das Programmieren des Microcontrollers nutzen die Schüler*innen Open Roberta, eine vom Fraunhofer-Institut für Intelligente Analyse- und Informationssysteme (IAIS) entwickelte frei zugängliche Plattform, die von Google finanziell unterstützt wird. Mit der Software lassen sich auch Technikspielzeuge oder andere für den Schulunterricht entwickelte Minicontroller programmieren.

In Berlin wird mittlerweile an mehr als 130 Schulen mit dem Calliope unterrichtet, 250 Lehrkräfte haben an der vom Fraunhofer IAIS angebotenen Fortbildung zum „Roberta-Teacher“ teilgenommen. Für die Berliner Bildungsverwaltung ist es ein „Leitprojekt im Rahmen des eEducation Berlin Masterplans“ mit dem Ziel, „mehr Kinder und Jugendliche für Technik zu begeistern sowie grundlegende Kenntnisse in Informatik und Programmieren zu vermitteln“.

Das ist auch ein Anliegen des Didaktikers Philipp Straube, der an der Freien Universität Berlin Lehramtsstudierende für den Sachunterricht ausbildet – auch mit dem Calliope. „Es geht bei digitaler Bildung in der Grundschule nicht darum, eine bestimmte Programmiersprache zu lernen, die können sich ändern, sondern darum zu verstehen, was Programmieren ausmacht.“ Damit meint er die Sprache, in der Computer „denken“, besser gesagt, mit der Programmierer*innen sie zum „Denken“ bringen. Dazu gehören beispielsweise Schleifen oder Bedingungen, also Wiederholungen oder logische Verknüpfungen wie „wenn, dann“. Dieses computational thinking, so Straube, sei Kindern nicht fremd. Sie kennen es aus ihrem Alltag, aus einfachen Anweisungen wie „Schlage die Sahne so lange, bis sie fest wird“.

Kritische Begleiter*innen der digitalen Bildung an Grundschulen wie der Historiker und FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube würden jetzt einwenden, folgerichtiges und logisches Denken könne ebenso an analogen Geräten eingeübt werden oder es sei, so wie das abstrakte Denken, Sache des Mathematikunterrichts. Matthias Lenz, Lehrer und Medienbeauftragter an der Charlottenburger Mierendorff-Grundschule, sieht das anders: „Smartphones, Tablets und Internet spielen schon jetzt eine dominierende Rolle im Leben der Kinder, sie müssen lernen, kompetent damit umzugehen. Auch spielen ist mal erlaubt, aber wir wollen ebenso die anderen Möglichkeiten zeigen. Dazu gehört Recherchieren im Internet genauso wie sicheres Verhalten in den sozialen Medien.“ Das Programmieren ist für Lenz so etwas wie das „Sahnehäubchen“ der digitalen Bildung. Und keine Selbstverständlichkeit an einer Schule im Norden Charlottenburgs, wo die meisten Kinder nicht aus gut situierten Familien kommen. 

„Digitale Bildung findet zurzeit noch häufiger an privilegierten Schulen oder im Privatunterricht statt“, meint Gesche Joost. Das verstärke die digitale Spaltung, und der will sie mit ihrem Engagement entgegenwirken. An den Tischen hinter den Monitoren wird es jetzt wieder lebendiger. Die Kinder testen die Leitfähigkeit der verschiedenen Objekte und Materialien, die ihr Lehrer auf dem Tisch bereitgelegt hat. „Wir nehmen eine Tomate“, verkündet Tymon, der an einer der mittleren Tischreihen mit David und Tommy zusammenarbeitet. „Wir müssen die Klemme richtig reinstecken, sonst leitet das nicht“, weist er seine Klassenkameraden an. Gesagt, getan. Trotzdem leuchtet auf dem Calliope ein Totenkopf anstatt des erwarteten Smiley. Die drei beschließen, das Gerät noch einmal ganz neu zu programmieren. Ein paar Klicks später springt die Anzeige auf Smiley. „Die Tomate leitet, da ist Flüssigkeit drin“, sagt Tymon stolz. „Ich leite auch“, ruft David begeistert, er hat die Klemmen an seinem feucht geschwitzten T-Shirt befestigt.

Programmieren ist so etwas wie das „Sahnehäubchen“ der digitalen Bildung.

Gegen Ende der Doppelstunde, nachdem die Schüler*innen neben Gemüse und feuchter Erde weitere Materialien wie trockenen Sand, Gummi, Nägel, Schwämme und Magnete auf ihre Leitfähigkeit getestet und die Ergebnisse auf dem Arbeitsblatt eingetragen haben, geht die ganze Klasse auf den Flur. Ihr Auftrag: mit dem selbst programmierten Calliope messen, ob die großblättrigen Grünpflanzen gegossen werden müssen, die dort in zahlreichen Töpfen stehen. Normalerweise kümmert sich der Hausmeister um sie. Doch heute greifen die Kinder der 5c zur Gießkanne, wenn auf dem Calliope ein Totenkopf aufleuchtet.

Hammad fordert die Kinder auf, sich im Kreis aufzustellen. Er bittet sie, sich vorzustellen, wie es wäre, wenn auf dem riesigen Flachdach der Schule Tomaten und Zucchini wüchsen. „Dann wäre unsere Schule auch an heißen Tagen wie heute kühl – außerdem könnten wir Gemüse ernten. Und wenn wir in jeden Kübel einen Sensor stecken, dann können wir schnell herausfinden, welche Pflanzen wann Wasser brauchen!“ Am Ende der Doppelstunde hat Faris Hammad geschafft, was ihm wichtig ist: einen großen Bogen zu schlagen vom digitalen Feuchtigkeitsmesser zu Klimawandel und urbaner Landwirtschaft und wieder zurück. Computational thinking – das, was ihre Handys und Tablets unsichtbar steuert, haben die Kinder fast nebenbei gelernt.

Und was sagt ihr dazu? Kinder der Mierendorff-Grundschule erzählen vom Calliope und ihrem digitalen Leben

Yagmur Sophia Peters (10)

Zu Hause habe ich einen Computer und ein Handy. Ich glaube, ich war acht, als ich zum ersten Mal ein Handy benutzt habe. Meistens höre ich Musik oder gucke Filme. Ich schaue auch sehr gerne Serien, zum Beispiel eine mit Agentinnen. Wenn ich bei den Hausaufgaben eine Aufgabe lösen muss, benutze ich auch den Taschenrechner im Handy. Und ich spiele Videospiele, aber ich bin keine Zockerin.

Der Calliope ist interessant, weil wir so viel damit machen können. Zum Beispiel draußen messen, wie viel Wasser in der Erde ist, oder wenn ich meinen schüttele, dann ändert sich wegen des Bewegungssensors das Bild, das die LED-Leuchten anzeigen. Es macht Spaß, den Calliope zu programmieren, weil man ihm sagen kann, was er machen soll. Da fühlt man sich irgendwie groß.

Ich würde gerne einen Roboter bauen, der sehr schnell ist. Wenn er fährt, dann leuchtet er in verschiedenen Farben. Und wenn er gegen die Wand fährt, dann dreht er wieder um. Ich würde ihn so programmieren, dass er zum Beispiel hier auf dem Boden nur dort fährt, wo der Boden rot ist. An der schwarzen Linie hält er an und fährt wieder zurück. Er soll Farben erkennen. Und zu Hause hätte ich gerne einen elektrischen Kleiderschrank, der sich selber aufräumt, denn da kommt morgens immer viel durcheinander.


Tymon Gerhardt (10)

Was wir in der Schule mit dem Calliope machen, gefällt mir. Am besten war, als ich mit Tommy daraus den Roboter auf Rädern gebaut und programmiert habe. Ich fand den megasüß, der hat nach fünf Sekunden unten vier LED-Lichter angemacht und oben auf der LED-Anzeige das Wort „Party“ geschrieben. Wir haben ein Wettrennen gemacht und unser Roboter hat zweimal gewonnen! In der ersten Stunde waren wir sehr langsam mit dem Programmieren – klick – klick – klick. Jetzt machen wir das schon viel schneller.

Zu Hause habe ich ein Tablet, darauf spiele ich Videospiele, was soll ich auch anderes damit machen? Ich habe es bisher nur zweimal für Schulaufgaben benutzt, da habe ich mir einen Film auf Youtube rausgesucht. Am liebsten spiele ich Brawl Stars, ein Kampfspiel mit Zeichentrickfiguren. Wenn man gewinnt, bekommt man Pokale. Meistens haben die Figuren menschliche Namen, aber meine Lieblingsfigur heißt 8bit, das ist ein Roboter, der mit Laserstrahlen schießen kann.

Ich darf jeden Tag nur eine halbe Stunde spielen, außer freitags, da darf ich eine Stunde, und am Wochenende eineinhalb. Ich kann mir auch vorstellen, auf dem Tablet etwas zu programmieren. Vielleicht würde ich dann ein paar Verbesserungen bei dem Spiel machen, mir zum Beispiel neue Figuren ausdenken. Die hätten dann besondere Fähigkeiten. Und in Zukunft habe ich vielleicht eine Fernbedienung, mit der ich alles steuern kann, was im Haus ist. Zum Beispiel eine Sicherheitsanlage. Oder ein Haushaltsroboter, damit ich nie putzen oder aufräumen muss.


Jade Odongo (11)

Mit dem Calliope hier in der Schule kann man vieles herausfinden. Wie man Programme schreibt zum Beispiel. Für mich macht das einfach nur Spaß, weil man immer was Neues entdeckt. Das hört nie auf.

Zu Hause benutze ich Tablet und Handy, damit spiele ich meistens. Am liebsten Minecraft, da ist die ganze Welt quadratisch. Man kann Häuser bauen, Dörfer und Städte, um Gewinnen oder Verlieren geht es kaum. Mir wird oft langweilig mit dem Tablet oder dem Handy, dann schaue ich gerne im Fernsehen Cartoons.

Vielleicht könnte man den Calliope so programmieren, dass er mein Tablet von hier aus steuern kann. Dann könnte ich zu Hause eine Klimaanlage anschalten, damit es kühl ist, wenn ich aus der Schule nach Hause komme. Wenn ich einen ganzen Roboter programmieren könnte, dann würde der schön hilfreich sein. Ich bin nicht so faul, dass ich mir ein Glas Wasser bringen lassen muss oder so was. Aber vielleicht könnte er einem Freund, der weiter weg wohnt, etwas zurückbringen, das der bei mir vergessen hat.

Was ich mir für die Zukunft wünsche? Eigentlich gefällt mir alles so, wie es gerade ist, verändern möchte ich nichts. Abgesehen vom Klimawandel. Ich möchte, dass nicht mehr so viele Abgase oben in der Luft schweben, das stinkt, verschmutzt die Umwelt, und es wird heißer im Sommer. Ich weiß nicht, aber vielleicht können wir dafür auch Roboter oder Computer gebrauchen.

Text: Kristina Vaillant