Hirnflüsterer

Surjo Soekadar entwickelt Schnittstellen zwischen Gehirn und Computer. Mit seinen neurotechnischen Systemen sollen Gelähmte künftig Prothesen steuern und Depressive ihr psychisches Wohlbefinden beeinflussen können. Ein Besuch bei einem Hirnforscher, der vor großen Visionen nicht zurückschreckt

Der Patient im Rollstuhl greift ein paar Kartoffelchips vom Teller und führt sie bedächtig mit Daumen und Zeigefinger zum Mund. Nach kurzem Kauen blitzt der Schalk in seinen Augen auf und mit einem zufriedenen Grinsen blickt er zu den Wissenschaftler*innen. Es sind solche Momente, die Surjo Soekadars Arbeit den nötigen Schub geben. Der Patient hat gerade eines seiner neurotechnischen Systeme benutzt, um sich mehr als zehn Jahre nach einer schweren Rückenmarksverletzung wieder selbst bei den Knabbereien zu bedienen, trotz einer vollständig gelähmten Hand. Dabei hilft ihm ein Exoskelett, das seine Hand wie ein stählernes Stützgerüst umschließt. Lange Kabel führen von einer EEG-Kappe auf seinem Kopf wie Tentakel über ein Messgerät zum Computer. Dank dieser Hirn-Computer-Schnittstelle kann er die Roboterhand mit der Kraft seiner Gedanken steuern.

Zu sehen ist die Szene in einem 2016 veröffentlichten Video aus Soekadars damaliger Arbeitsgruppe in Tübingen. Mittlerweile ist der Forscher der Berufung auf eine Einstein-Professur an die Berliner Charité-Universitätsmedizin gefolgt, der deutschlandweit ersten Professur für klinische Neurotechnologie. In den kommenden Jahren will er hier neue Gehirn-Computer-Schnittstellen und darauf basierende neurotechnologische Hilfsmittel und Therapien entwickeln. Ein Ort, an dem man Surjo Soekadar derzeit häufig trifft, ist ein großer grauer Kubus auf dem Gelände der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB) in Berlin-Charlottenburg. Sieben Schichten aus speziellen Metalllegierungen und elektromagnetischen Spulen umhüllen das Gebäude wie Schalen eine Zwiebel. Soekadar hält einen Kompass in die Höhe. Die Kompassnadel zittert orientierungslos im Kreis herum. „In diesem Raum herrschen weltweit einzigartige Versuchsbedingungen“, sagt er. Keine Handystrahlung dringt ein, das Erdmagnetfeld ist aufgehoben. Derart abgeschirmt von den Störquellen der Außenwelt kann er die millionenfach schwächeren Magnetfelder, die durch Hirnströme in den einzelnen Nervenzellen erzeugt werden, besonders präzise messen. So will er dem Gehirn beim Denken zuhören.

Blick in die Blackbox

Im menschlichen Gehirn sind mehr als 80 Milliarden Nervenzellen über rund 100 Billionen Synapsen zu ei-nem Kommunikationsnetzwerk verschaltet. Es ist die komplexeste bekannte Struktur des Universums. Bei jedem Menschen sieht der Verschaltungsplan zwischen den Neuronen anders aus. Und jede neue Erfahrung, jede gelernte Bewegung oder Erinnerung verändert die Struktur. „Das Gehirn ist trotz intensiver Forschung nach wie vor in weiten Teilen eine Blackbox“, sagt Soekadar. Mit speziellen Sensoren möchte er Muster in der Hirnaktivität aufzeichnen. Die Informatiker*innen in seinem Team entwickeln neue Algorithmen und Systeme auf der Basis künstlicher Intelligenz, um diese Muster in Echtzeit zu analysieren und daraus beispielsweise Steuerbefehle für Prothesen oder Hirnstimulatoren abzuleiten.

Die Erkenntnisse aus dieser Forschung sollen Menschen wie Annette Dreher zugutekommen. Die 54-jährige Informatikerin – glatte braune Haare, Hornbrille, Perlenohrringe – sitzt in einem Sessel in Soekadars Büro, scherzt mit den Anwesenden, lacht schallend. Nur wer genauer hinsieht, merkt, dass sie ihre rechte Hand mit der linken stützt. Als Studentin erlitt sie einen Schlaganfall, seither ist ihre Hand gelähmt, genau wie das rechte Bein, das sie beim Gehen leicht nachzieht. Dreher war schon in Tübingen Probandin von Soekadars Forscherteam, um ein Hand-Exoskelett zu testen. Als eine der Ersten soll sie bald eine neue, verbesserte Version ausprobieren – für die Vorbereitung des Experiments ist sie extra nach Berlin gekommen. Sie erzählt, wie sie vor sechs Jahren das erste Mal mit den Gedanken ein Hand-Exoskelett steuerte, mehr als 20 Jahre nach ihrem Schlaganfall. Bis heute fehlen ihr die Worte für dieses Erlebnis. „Das war ein unbeschreiblicher Moment“, sagt Dreher und wischt sich eine Freudenträne aus dem Augenwinkel. „Ich muss mir nur vor dem inneren Auge vorstellen, dass ich die Hand schließe, und schon hilft sie mir beim Greifen“, sagt Dreher. „Es fühlt sich an, als wäre die Prothese ein Teil meines Körpers.“ Dreher hofft, die Roboterhand bald dauerhaft im Alltag tragen zu können.

„Die Bedürfnisse und Wünsche der Patientinnen und Patienten stehen bei meiner Forschung im Mittelpunkt, wir wollen die Neurotechnologien, die wir entwickeln, möglichst zügig verfügbar machen“, sagt Soekadar. Doch die hochindividuellen Systeme müssen ausreichend robust und sicher sein, zudem müssen sie aufwendig zertifiziert werden, um im Alltag eingesetzt werden zu können. Seine Vision: Gelähmte Menschen erhalten mehr Eigenständigkeit durch Prothesen, die Bewegungen mit vielen Freiheitsgraden ermöglichen und sich per Gedankenkraft präzise steuern lassen. Locked-in-Patient*innen diktieren dem Computer über eine Gehirn-Schnittstelle direkt, was sie sagen möchten. Menschen mit schweren Depressionen, Angst- oder Zwangs- erkrankungen werden in ihrer Therapie von neurotechnischen Geräten unterstützt, die krankhaft entgleiste Gedankenschleifen und Gefühlszustände erkennen und sie durch gezielte Stimulation per Magnetfeld oder Strom wieder in gesunde Bahnen lenken.

Es sind ehrgeizige Ziele, die Soekadar sich gesteckt hat, denn auf dem Gebiet der Neurotechnologie hat es rasante Fortschritte gegeben.

Neuroethische Fragen

Es sind ehrgeizige Ziele, die Soekadar sich gesteckt hat, doch in den vergangenen drei Jahrzehnten hat es auf dem Gebiet der Neurotechnologie rasante Fortschritte gegeben. In Laborversuchen konnten am ganzen Körper gelähmte Menschen bereits Roboterarme mit mehreren Freiheitsgraden bewegen oder durch computergestützte Gehhilfen einige Schritte gehen. Und auch wenn wir heute noch nicht in einer vom kollektiven Neuronengewitter erzeugten virtuellen Welt à la Matrix unterwegs sind – die Weltbühne für den breiten Einsatz der Neurotechnologie ist bereitet, spätestens seit der Milliardär und Unternehmer Elon Musk im Juli 2019 das Hirnimplantat seiner Firma Neuralink im Stil einer Apple-Keynote präsentierte. In Zukunft könne man sich Apps und neue Fähigkeiten in sein Gehirn laden, beschwor Musk die Symbiose des menschlichen Gehirns mit der Rechenpower von Supercomputern. Nur so könne der Mensch dauerhaft mit der Entwicklung der Künstlichen Intelligenz mithalten.

„Elon Musk weiß, wie man solche Technologien vermarkten muss, um Investoren anzuziehen“, sagt Soekadar. Das System von Neuralink basiere auf jahrzehntelangen Vorarbeiten, etwa dem an der US-amerikanischen Brown University ins Leben gerufenen Braingate-Projekt. In diesem Projekt wurden fast hundert hauchdünne Elektroden über ein Loch in der Schädeldecke in das Gehirn eingeführt, um die elektrischen Ströme der Nervenzellen direkt messen und verarbeiten zu können. Das Team von Elon Musk hat die Bandbreite auf über 3000 Elektroden ausgeweitet, die über einen Operationsroboter halbautomatisch in das Gehirngewebe eingebracht werden. Unklar bleibt bislang, welche Signale die Firma mit welchem Ziel messen wird und wo im Gehirn sie über die Elektroden Reize an die Nervenzellen senden möchte.

Soekadars Hauptkritik an Systemen wie dem von Neuralink: Die Schnittstelle fußt auf invasiven Technologien, bei denen die Schädeldecke geöffnet und Sensoren eingebracht werden müssen. „Das ist für die Grundlagenforschung interessant, wird aber kaum Relevanz für die breite Patientenversorgung oder gar Alltagsanwendungen bei völlig Gesunden haben“, glaubt er. In den meisten Anwendungsfällen sei der Eingriff schlicht zu riskant. „Der Nutzer darf keinen Nachteil durch die Schnittstelle haben.“ Die Implantation von Elektroden werfe zudem komplexe neuroethische Fragen auf. Soekadar setzt daher ausschließlich auf nicht-invasive Techniken. Derzeit nutzt er EEG-Kappen, um Hirnströme zu messen, doch deren Auflösung reicht nicht für seine Zwecke. Heiße Kandidaten sind sogenannte Quantensensoren, die besonders empfindliche und hochauflösende Messungen von Hirnaktivität in Echtzeit ermöglichen. Im Abschirmraum der PTB kommen sie bereits zum Einsatz – in der Außenwelt sind die Störquellen zu intensiv, um die sensible Messtechnik erforschen zu können. Soekadar will einen ähnlichen Abschirmraum auf dem Campus der Charité in Berlin- Mitte einrichten, damit er das System dort einsetzen kann, wo es benötigt wird: bei den Patient*innen. Mit den Quantensensoren will Soekadars Team erfassen, wie sich bestimmte Bilder, Gedanken oder Gefühlszustände in der Hirnaktivität abzeichnen. Hierfür sollen die neuesten Methoden aus dem Bereich des Maschinellen Lernens eingesetzt und nahezu in Echtzeit interpretiert werden – eine Mammutaufgabe.

Heiße Kandidaten sind Quantensensoren, die hochauflösende Messungen von Hirnaktivität in Echtzeit ermöglichen.

Basierend auf diesem System, das individuelle Aktivitätsmuster identifizieren kann, möchte Soekadar künftig Therapien entwickeln, bei denen die Patient*innen Rückmeldungen zu diesen Mustern erhalten und lernen können, sie willentlich zu verändern. Dieser Lernprozess soll durch äußerlich angelegte Magnetfelder oder schwache elektrische Ströme erleichtert werden. Dafür baut der Forscher in Berlin schrittweise ein Zentrum für Translationale Neuromodulation auf. Dass gezielte Hirnstimulation das Denken, Handeln und Fühlen beeinflussen kann, ist schon lange etabliertes Wissen. In vereinzelten therapeutischen Anwendungen hat die Neuromodulation auch schon Einzug in Kliniken gehalten. Besonders schwer erkrankte Parkinson-Patient*innen erhalten beispielsweise einen Hirnschrittmacher, um ihr Zittern abzustellen. Bei schweren, behandlungsresistenten Depressionen bietet die von außen an den Kopf angelegte Magnetstimulation mit bis zu drei Tesla starken Magnetfeldern eine Alternative. Soekadar möchte diese Methoden verfeinern und somit die Hirnaktivität der Patient*innen gezielt beeinflussen.

„In Zukunft werden wir dem Gehirn mit schwachen Magnet- oder Stromimpulsen einen sanften Schubser geben, um krankhafte Gedankenschleifen oder Stimmungslagen in gesunde Bahnen zu lenken“, schildert er sein Vorhaben. Etablierte Verfahren wie die Psychotherapie oder die Pharmakotherapie könnten so bei Behandlungsresistenz oder zur Vermeidung von Nebenwirkungen ergänzt werden.

Unkonventionelle Wege

Wie kam es dazu, dass die Schnittstellen zwischen Mensch und Maschine zu Soekadars Berufung wurden? „Meine Mutter ist Nervenärztin, sie hat mir oft von den faszinierenden Fällen aus ihrem Klinikalltag erzählt“, erinnert er sich. Ihre Begeisterung steckt ihn an: Soekadar studiert Medizin, entscheidet sich schließlich für die Psychiatrie. Noch während seines Studiums in Mainz trifft er den berühmten Frankfurter Neurowissenschaftler Wolf Singer, der damals zu Entscheidungsprozessen im Gehirn und der Frage nach dem freien Willen forscht. Singer lotst ihn an das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim, wo er auf dem Gebiet der Neuropsychologie promoviert. Die Ergründung des Gehirns wird zu seiner Leidenschaft. 15 Jahre lang arbeitet der heute 42-jährige Wissenschaftler mit tschechischen und indonesischen Wurzeln an der Universität Tübingen. Koryphäen wie der Neurowissenschaftler Niels Birbaumer entwickelten dort Ende der 1990er Jahre ein Kommunikationssystem, mit dem Locked-in-Patient*innen per Gedankenkraft ganze Briefe diktieren können, indem sie einen Cursor auf einem Bildschirm steuern. „Das war seinerzeit eine Sensation und hat mich motiviert, den klinischen Nutzen von Hirn-Computer-Schnittstellen weiter zu untersuchen“, erinnert sich Soekadar. 2011 gründet Soekadar in Tübingen seine eigene Arbeitsgruppe, mit der er sich auf die Weiterentwicklung dieser Schnittstellen für klinische Anwendungen spezialisiert.

Um die Wunder des Gehirns aufzudecken, geht Surjo Soekadar zuweilen unkonventionelle Wege. So stand er letztes Jahr mit mehreren Bungeespringern auf der Europabrücke, die bei Innsbruck über die Sill führt – im Dienste der Wissenschaft. Mit seinem Team wollte er unter realen Bedingungen beobachten, wie sich eine Entscheidung in der Hirnaktivität abzeichnet – mehrere Hundert Millisekunden bevor es das Bewusstsein mitbekommt. Dafür beobachteten Soekadar und sein Doktorand Marius Nann, wie zwei professionelle Klippenspringer den Sprung in gut 190 Meter Tiefe mehrfach wiederholten. Sie trugen dabei ein kabelloses EEG-System, mit dem sich die Hirnströme von nur wenigen Millionstel Volt zuverlässig aufzeichnen lassen. Ist Soekadar auch selbst gesprungen? – „Dazu war keine Zeit“, schmunzelt er. Umso mehr Begeisterung zeigt er für die Ergebnisse der Studie: „Einvoller Erfolg.“ Es sei dem Team erstmals gelungen, das sogenannte Bereitschaftspotenzial außerhalb eines abgeschirmten Labors nachzuweisen. Ähnlich gute Resultate erhofft er sich schon bald für seine neuen Hirn-Computer-Schnittstellen auf Basis von Quantensensoren. Soekadar ist überzeugt: „In wenigen Jahren werden solche Technologien vielen Patienten helfen.“

Text: Dietrich von Richthofen