Chemische Reaktionen haben den Planeten zum Gegenstand eines gefährlichen Experiments gemacht. Nun müssen die Systeme der Mobilität, Energieerzeugung, Landwirtschaft und Industrie in voller Fahrt umgebaut werden, um eine planetare Katastrophe zu verhindern. Die Effzienz katalytischer Systeme wird dabei eine zentrale Rolle spielen
Text: Benjamin Steininger
Gäbe es eine Brille, mit der man die Geschichten sehen könnte, die hinter den Stoffen stehen, und würde man diese Brille auf die Wirkung der industriellen Katalyse einstellen – man käme aus dem Staunen nicht mehr heraus. Fast in jedem Bereich des Alltags sähe man Stoffe, die es bis vor gut 100 Jahren so nicht gab und die seither die Moderne prägen. Kraftstoffe und damit Mobilität, Düngemittel und damit Nahrungsmittel, Munition und damit politische Macht, Pharmaka und damit Gesundheit, Kunststoffe und damit der auf Verpackung angewiesene Welthandel, Digitaltechnik oder gar moderne Operationssäle. Es sind keine statischen Dinge, es sind Stoffe, die im Mittelpunkt weitreichender Dynamiken stehen, die unseren Alltag und die moderne Geschichte prägen, und mehr und mehr auch die Geschicke des Planeten, der Biosphäre, der Atmosphäre und der Ozeane.
Alle Kurven schnellen immer steiler nach oben: Weltbevölkerung, Verlust an Biodiversität, CO2 und Methan in der Luft, Erosion und Entwaldung.
So fiktiv diese Brille ist, die chemisch-technischen Spuren des Menschen auf dem Planeten sind real. Im Jahr 2009 wurde eine geologische Fachkommission eingesetzt, die Anthropocene Working Group (AWG), um die Frage zu klären, ob nach den strengen Regeln der Stratigrafie das Holozän vorbei ist und auch im geologischen Sinn ein „Zeitalter des Menschen” vorliegt. Die Suche der AWG, aktuell unterstützt vom Haus der Kulturen der Welt in Berlin, zielt auf eine neue, unverwechselbare Schicht im Sediment, auf einen Marker oder „Golden Spike”, an dem die Veränderung festzumachen ist. Plastik, Hühnerknochen, Atombombenrückstände – ein breites Spektrum materieller Spuren kann den Eintritt in eine neue Erdschicht anzeigen.
Explosion der Messgrößen
Einer der entscheidenden Begriffe der Anthropozänforschung ist „Great Acceleration”, die große Beschleunigung. Unter diesem Schlagwort wird der Umstand zusammengefasst, dass seit den 1950er Jahren ein ganzes Bündel sozio-ökonomischer, ökologischer und geografischer Messgrößen regelrecht explodiert. Alle Kurven schnellen immer steiler nach oben: Weltbevölkerung, Verlust an Biodiversität, die Mengen an CO2 und Methan in der Atmosphäre, Erosion und Entwaldung.
Wenn man sich die einschlägigen Graphen ansieht, dann fällt auf: Sehr viele Phänomene auf der Makroebene lassen sich im Kern auf chemische Beschleunigung zurückführen. Es gäbe keinen Kunstdünger, kein Plastik, wenn nicht in den Reaktoren Katalysatoren beschleunigend am Werk wären. Im Fall der Ammoniaksynthese und damit der Kunstdüngerproduktion verknüpfen seit dem Vorabend des Ersten Weltkriegs Katalysatoren aus Eisen, Tonerde und Alkali Stickstoff und Wasserstoff zu Ammoniak. Ziegler-Natta-Katalysatoren etwa aus Titan verkoppeln seit den 1950er Jahren die Polymerketten zahlreicher Kunststoffe.
Die Wissenschaft mobilisiert die Stoffe
Eine exakt messende Katalysewissenschaft und eine Industrie, die von der katalytischen Beschleunigung von Reaktionen her denkt, gibt es seit den 1890er Jahren. Die maßgebliche Innovation ist eng mit dem Namen Wilhelm Ostwald verbunden: Von ihm stammt die bis heute gelehrte Definition, wonach ein Katalysator eine chemische Reaktion beschleunigt, ohne im Produkt der Reaktion vorzukommen. Das von Chemikern wie Johann Wolfgang Döbereiner und Jöns Jakob Berzelius in den 1820er Jahren erkannte Prinzip, dass manche Stoffe nur durch „Kontakt” und ohne verbraucht zu werden chemisch wirken, wird zum industriellen und historischen Treibsatz. „Überlegt man, daß die Beschleunigung der Reaktionen durch katalytische Mittel ohne Aufwand an Energie, also in solchem Sinne gratis vor sich geht, und daß in aller Technik, also auch in der chemischen, Zeit Geld ist, so sehen Sie, daß die systematische Benutzung katalytischer Hilfsmittel die tiefgehendsten Umwandlungen erwarten läßt”, so Oswald 1901 in einem programmatischen Vortrag. Und auch die Laudatio zum 1909 verliehenen Chemie-Nobelpreis betont die industrielle Rolle dieser Forschung. Mitten hinein in eine bereits industrialisierte Welt, in der Eisenbahn, Dampfmaschine und Elektrizität die alte technische und gesellschaftliche Ordnung hinweggefegt haben, werden jetzt auch die Stoffe mobilisiert. Wenn deren Produktionszeiten mit den Mitteln der Katalyse gestaltbar werden, dann werden die Stoffe selbst gestaltbar. Einerseits wird Wissenschaft gewissermaßen in die materielle Welt investiert. Umgekehrt fließt die Komplexität der materiellen Welt, fließen Weltmärkte, geostrategisches Kalkül und Machtpolitik in die Wissenschaft ein, die hier entsteht. Nicht nur an Universitäten, auch in den fast besser ausgestatteten Großlaboren der Industrie und an den außeruniversitären Spitzeninstituten der neuen Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, wie zum Beispiel am 1912 in Berlin-Dahlem gegründeten und von Fritz Haber geleiteten Kaiser-Wilhelm-Institut für Physikalische Chemie und Elektrochemie.
Labortechniker werden in einem chemisch geführten Krieg zu Politikstrategen. Mitunter endet das tragisch. Fritz Haber wird als Entwickler des Haber-Bosch-Prozesses zur Produktion von Ammoniak Nobelpreisträger – er ist aber auch Kriegsverbrecher. Seine Frau, die Chemikerin Clara Immerwahr, erschießt sich wohl aus Protest gegen dessen Giftgasforschung mit Habers Dienstpistole (siehe „Die Unvollendete”). Moleküle werden gestaltbar – um den Preis neuer, historischer Ambivalenz. Die Schlachtfelder von Verdun hängen wie die Ernährung einer rasant wachsenden Weltbevölkerung an katalytischen Prozessen in Hochdruckreaktoren – „Brot und Tod aus Luft“, wie Zeitgenoss*innen schreiben. Und dies ist nicht die letzte Ambivalenz. In den vermeintlich harmlosen Düngemittel-Molekülen steckt enorme Sprengkraft, wie die Explosion der Ammoniumnitratspeicher im Hafen von Beirut im August 2020 katastrophal zeigte. Auch kontrolliert eingesetzt landen die Moleküle längst nicht nur in Ackerfrüchten – der Großteil gelangt in Flüsse und ins Meer. Ganze Biosphären werden dadurch zu toten Zonen.
Zeit des Zweifelns
Der Optimismus, mit dem Wilhelm Ostwald um 1900 eine neue Zeit einläutet, mit dem in den 1920ern künstliche Kohlenwasserstoffe entstehen, mit dem Karl Ziegler und Guilio Natta in den 1950er Jahren mit neuartigen Katalysatoren Kunststoffe für den modern way of life entwickeln, ist verflogen. In wenigen Jahrzehnten haben sich alte Weltlösungen in neue Weltprobleme verkehrt. Was mit den Nobelpreisen für Habers Ammoniaksynthese und Zieglers Polymere geehrt wurde, führt heute zu Algenblüte und Mikroplastikflut. Wenn der Berliner Max-Planck-Direktor Gerhard Ertl – 2007 vorerst letzter deutscher Katalyse-Nobelpreisträger (siehe „Geduld, Geld, Glück”) – einerseits für seine Arbeiten zum Verständnis von Haber-Bosch-Katalysatoren geehrt wird, andererseits aber gemeinsam mit dem Philosophen und Chemiker Jens Soentgen vor der globalen Problematik der Stickstoffindustrie warnt, dann wird das Spannungsfeld offensichtlich. Der Planet selbst mit seinen Ökosystemen ist zum Gegenstand eines gefährlichen Experiments geworden. „Wer erfindet einen umgekehrten Haber-Bosch-Prozess?”, fragt Soentgen. Wir können nicht mehr ohne eine chemische Industrie, aber auch nicht mit ihr. Wir sind „Kohlenwasserstoffmenschen”, umgeben von Menschenkohlenwasserstoffen, und werden von unseren eigenen Produkten erdrückt.
Die planetaren Grenzen der Chemie
Was ist zu tun? Die Herausforderungen könnten kaum größer sein. In voller Fahrt müssen die Systeme der Mobilität, der Industrie, der Energieerzeugung, der Landwirtschaft umgebaut werden. Und auf der Ebene der Stoffe zeigt sich, dass alle diese Systeme einen Zusammenhang bilden. Mit Weitblick müssen Verfahren entwickelt werden, die nicht länger aus lauter tollen molekularen Produkten eine planetarische Katastrophe zusammenbrauen. Die Situation ist neu in der Geschichte der Technik und Industrie. Haber-Bosch, das Internet oder das Manhattan-Projekt zur Entwicklung der Atombombe wurden nicht mit der Vorstellung entworfen, dass der Fortschritt irgendwann an planetarische Grenzen stoßen könnte. Wer aber jetzt ohne ein Bewusstsein der planetaren Grenzen meint, auch nur ein Chemiewerk für 2050 entwickeln zu können, handelt fahrlässig.
Es sind neue Spezialist*innen gefragt, aber auch neue Generalist*innen. Chemiker*innen, die über aktive Zentren auf Festkörpern genauso nachdenken wie über Volkswirtschaften und Energiesysteme; Sozialwissenschaftler*innen und Kulturtheoretiker*innen, die versuchen zu verstehen, an welchen materiellen und konkret an welchen chemischen Stoffen die abstrakten Errungenschaften der Moderne hängen. Denn nur wenn man diesen Konnex versteht, kann man darangehen, Systeme zu entwerfen, die die Errungenschaften der Moderne sichern, ohne den Raubbau an den begrenzten Ressourcen voranzutreiben und den Planeten über alle Maßen zu verschmutzen. Die katalytische Industrie hat die Potenziale der fossilen Rohstoffe erschlossen, doch nun stellt sich die Frage: Wie lässt sich dieses Wissen auf eine postfossile Welt übertragen?
Tanz der postfossilen Moleküle
Die Wissenschaft der Katalyse muss in dieser Lage eine zentrale Rolle spielen. Denn die Effizienz katalytischer Systeme ist kein Phantasma. Sie ist real, in allen Zellen lebender Organismen. In ihrer industriellen Form ist die katalytische Chemie aber auch ein Warnbild. Größte Hoffnungen haben auch zu größten Problemen geführt. Es sind industriell produzierte Moleküle, über die wir einen Großteil unserer viel zu großen Spuren auf dem Planeten hinterlassen. Man muss schon den übernächsten Schritt im Blick haben, um Verfahren zu entwerfen, die mit günstigen chemischen Elementen und ohne den jetzt noch nötigen hohen Energieaufwand auskommen. Und die dann vielleicht sogar die Chance bieten, die milliardenschwere Infrastruktur, die für die fossile Technik in der Landschaft und den Garagen steht, mit postfossilen Molekülen weiter zu betreiben. Aber auch hier ist die Situation vertrackt. Man kommt mit den bestehenden Strategien nicht weiter, ebenso wenig aber gegen sie. Die Lösung müsste etwas Tänzerisches haben. Man muss die Mittel nutzen, die man loswerden und austanzen will. Tatsächlich wären Katalysatoren gute Tanzlehrer. Sie binden sich, nur um sich kurz darauf wieder zu lösen. Wenn wir nochmals genauer hinsehen, wie sie das machen, wäre es vielleicht möglich, die von uns Menschen im 20. Jahrhundert auf den Planeten aufgebrachte neue Erdschicht wieder hinter uns zu lassen, um dann auf weniger plumpen Füßen in die Zukunft zu tanzen.
Benjamin Steininger ist Kulturtheoretiker und Wissenschaftshistoriker. Er forscht am Exzellenzcluster UniSysCat sowie am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte Berlin zur industriellen Katalyse als Modellfall der Mensch-Erde-Interaktion im Anthropozän sowie zur Geschichte und Theorie der Petromoderne. 2020 erschien sein Buch: „Erdöl. Ein Atlas der Petromoderne” (gemeinsam mit Alexander Klose) im Verlag Matthes&Seitz. 2021 wird am Kunstmuseum Wolfsburg die von den Autoren kuratierte Ausstellung „Oil. Schönheit und Schrecken des Erdölzeitalters” gezeigt.
Stand: Dezember 2020