Mit 22 Jahren durchlebt Albert Einstein einen Tiefpunkt seines Lebens. Er hat keine Aussicht auf eine Doktorarbeit oder Assistentenstelle. Verzweifelt wendet er sich an einen Mann, der erst Jahre später großen Einfluss auf sein Leben nehmen wird: den berühmten Chemiker Wilhelm Ostwald. Chronik einer unerwiderten Brieffreundschaft
Text: Maike Huckschlag, Mirco Lomoth, Michael Sven Meier
1901. Mailand, Italien. Der 22-jährige Albert Einstein lebt wieder bei seinen Eltern, Hermann und Pauline Einstein, in der Via Bigli 21, unweit des Mailänder Doms. Ein Jahr zuvor hat er sein Studium der mathematisch-physikalischen Fachlehre am Zürcher Polytechnikum abgeschlossen – Notendurchschnitt 4,91 von 6. Der junge Albert träumt schon lange davon, Karriere als Wissenschaftler zu machen. Er versucht einen Doktorvater zu gewinnen, bewirbt sich um Assistentenstellen, doch überall wird er zurückgewiesen. „Bald werde ich alle Physiker von der Nordsee bis an Italiens Südspitze mit meinem Offert beehrt haben!”, schreibt er an seine Freundin Mileva, die er fünf Jahre zuvor am Zürcher „Poly” kennengelernt hat, wo auch sie Mathematik und Physik studiert.
Während des gemeinsamen Sommers in der Lombardei bietet ihm die Beziehung zu Mileva Halt. Doch seine Bemühungen, in der akademischen Welt Anerkennung zu finden, weichen zunehmend Frust und Enttäuschung: „Was diese Philister einem, der nicht von ihrer Sorte ist, alles in den Weg legen, ist wirklich schauderhaft”, klagt er ihr. Auch finanziell wird es allmählich eng für ihn, die elektrotechnische Firma seines Vaters Hermann meldet angesichts zunehmenden Konkurrenzdrucks durch Siemens und AEG Konkurs an, seine Eltern können ihn nicht länger unterstützen. Und Mileva wird schwanger. Einstein hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, schaltet Annoncen – „Probestunden gratis” – und arbeitet als Privatlehrer. Selbstzweifel plagen ihn. Es ist ein Tiefpunkt im Leben des jungen Albert.
Den Misserfolg seiner Bewerbungen führt Einstein auch auf seinen einstigen Professor Heinrich Friedrich Weber zurück, der nicht gut auf ihn zu sprechen ist. Denn während des Studiums glänzte Einstein vor allem mit Abwesenheit, ungebührlich sprach er seine Lehrer mit „Herr” an, erhielt sogar einen Verweis wegen Fernbleibens vom Physikalischen Praktikum. Er zieht es vor, zu Hause im Selbststudium physikalische Theorien zu durchdenken – Pfeife rauchend im Kaffeehaus „eifrigst an einer Elektrodynamik bewegter Körper” zu feilen. „Für Menschen meiner Art von grüblerischem Interesse ist das Universitätsstudium nicht unbedingt segensreich.”
Einsteins Vater Hermann, selbst durch Kredite verschuldet, kann nicht länger mit ansehen, wie sehr sein Sohn leidet. Er beschließt einzugreifen und den berühmten Naturwissenschaftler Wilhelm Ostwald in Leipzig um Hilfe zu bitten: „Herr Professor!”, schreibt er am 13. April 1901, „Verzeihen Sie gütig einem Vater, der es wagt, im Interesse seines Sohnes sich an Sie [...] zu wenden. Mein Sohn fühlt sich [...] in seiner gegenwärtigen Stellenlosigkeit tief unglücklich & täglich setzt sich die ldee stärker in ihm fest, daß er mit seiner Carriere entgleist sei & keinen Anschluss mehr finde.” Ostwald gilt als renommierter Begründer der Physikalischen Chemie, macht bahnbrechende Entdeckungen zur Katalyse und erarbeitet die technischen Grundlagen zur Herstellung von Salpetersäure durch die katalytische Ammoniakoxidation an Platinkontakten. Eine Antwort erhält Hermann Einstein nie.
Kurz zuvor, am 19. März, hatte auch der Sohn an Ostwald geschrieben. Mit seiner beigefügten Abhandlung zur Kräftewirkung zwischen Molekülen fragt Einstein, ob er Verwendung habe „für einen mathematischen Physiker, der mit absoluten Messungen vertraut ist”, und gesteht: „Ich nehme mir nur darum die Freiheit zu einer solchen Anfrage, weil ich unbemittelt bin.” Doch auch er erhält keine Antwort. Am 3. August erlaubt er sich, höflichst nachzuhaken: „... weil ich nicht sicher bin, ob ich damals meine Adresse beigefügt habe”. Natürlich hatte er, wie immer, seine Mailänder Adresse genannt.
Einstein ändert seine Taktik. Er schreibt seinem Studienfreund Marcel Grossmann, der am „Poly” promoviert. Eine Anstellung im Patentamt Bern ist alles, was dieser ihm vermitteln kann. Einstein nimmt 1902 widerwillig an. Die Stelle bietet ihm die nötige finanzielle Freiheit, sich der eigenen Forschung zu widmen. Die Strategie geht auf: Akribisch verfolgt er die Ausarbeitungen zur Elektrodynamik und zum fotoelektrischen Effekt. Seine abschließenden Veröffentlichungen im Jahre 1905 wälzen die geltenden Regeln der Physik gehörig um. Ihm gelingt nichts weniger als die Begründung einer Wissenschaftstheorie für das 20. Jahrhundert. Und so wird auch der von Einstein so geschätzte Wilhelm Ostwald auf ihn aufmerksam.
Schlag auf Schlag geht es nun endlich mit seiner Karriere voran: 1906 erlangt er an der Universität Zürich seinen Doktor. Nur ein Jahr später habilitiert er an der Universität Bern. 1909 folgt eine außerordentliche Professur für Theoretische Physik an der Universität Zürich. Im selben Jahr erhält Wilhelm Ostwald den Chemie-Nobelpreis für seine Arbeiten zur Katalyse. Dass dies auch ein entscheidender Moment für Einsteins Karriere werden soll, ahnt dieser noch nicht. Denn als Preisträger darf Ostwald den Kandidaten des Folgejahres vorschlagen – und er benennt: Albert Einstein.
Ob Ostwald jemals den Brief des jungen Albert gelesen hat? Sich womöglich sogar an die Bitte des Vaters erinnerte? Die Nominierung bleibt ohne Erfolg. Doch sie macht die Wissenschaftslandschaft jetzt erst recht auf den jungen Forscher aufmerksam. Über dreißig weitere Nominierungen folgen – auch Ostwald versucht 1913 ein zweites Mal, Einstein ins Spiel zu bringen, erneut ohne Erfolg. Dessen völlig unbeirrt forscht Einstein weiter und stellt 1915 seine Allgemeine Relativitätstheorie auf. Die Bewunderung gegenüber Ostwald bleibt. „Mit hochachtungsvollem Gruss”, schreibt er ihm im November 1916: „Ich danke Ihnen herzlich für die Abhandlung zur Farbenlehre, die ich schon zum zweiten Mal mit Entzücken lese.” Doch Ostwald scheint auch diesmal nicht daran gelegen zu sein, sich um eine Antwort zu bemühen.
1922 ist es so weit. Einstein erhält rückwirkend für das Vorjahr den Nobelpreis für Physik. Nicht wie meist angenommen für seine Relativitätstheorie, sondern für die „Entdeckungen des Gesetzes des photoelektrischen Effekts” – der Wechselwirkung zwischen Licht und Elektronen, deren Erklärungsmodell die moderne Quantenmechanik begründet. Im Februar 1929 treffen sich die beiden Preisträger, Einstein und Ostwald, in den Räumen der Preußischen Akademie der Wissenschaften, die heute die Staatsbibliothek Unter den Linden beherbergen. Wenige Tage darauf wendet sich Einstein wieder mit einem Brief an sein Idol: „Verehrter Herr Ostwald!”, schreibt er am 16. Februar, „ich danke Ihnen herzlich für die Uebersendung der ungemein ansprechenden und farbenprächtigen Blumenstücke. Sie können einfach alles, was Sie wollen.” Eine Antwort Ostwalds ist nicht überliefert.
Stand: Dezember 2020