Die Legitimitätsfigur der Demokratie, der mündige Bürger, hat immer weniger zu melden. Es braucht eine verpflichtende Bürgerbeteiligung auf kommunaler Ebene
Ein Plädoyer von Herfried Münkler
Allenthalben ist die larmoyante Klage zu hören, wir hätten eigentlich gar keine Demokratie mehr, alles sei festgelegt, man könne nichts ändern, der Bürgerwille spiele keine Rolle. Fragt man nach, bekommt man zu hören, die abgehobene Brüsseler Bürokratie habe mehr zu sagen als das Volk, Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts hätten größere Bedeutung als der Ausgang von Wahlen und die öffentliche Debatte werde stärker von Interessenverbänden bestimmt als von den Vorstellungen der Mehrheit. Es ist ein Syndrom aus Unbehagen und Hilflosigkeit, Überforderung und Widerwillen, das seit einiger Zeit der liberalen Demokratie zu schaffen macht.
Der mündige Bürger, diese ebenso reale wie fiktive Gestalt, fühlt sich an den Rand gedrängt. Er ist die Legitimitätsfigur der Demokratie und hat in Anbetracht von Globalisierung und Europäisierung, Verrechtlichung und Bürokratisierung doch immer weniger zu melden. Es ist kaum zu bestreiten: Wir bewegen uns in einer sozio-politischen Welt, die weitgehend festgelegt ist und an der wir wenig zu ändern vermögen. Eine Reaktion darauf ist Resignation und Rückzug ins Private, eine andere reicht von gelegentlichem Schimpfen bis hin zu offener Wut, wie sie sich in zunehmend aggressiveren Demonstrationen äußert.
Seit geraumer Zeit ist die Demokratie nicht nur von den politischen Rändern her, sondern auch aus der gesellschaftlichen Mitte heraus bedroht, wo sich Desinteresse am System politischer Partizipation breitmacht. Was lässt sich dagegen tun außer den ebenso üblichen wie hilflosen Appellen an das bürgerschaftliche Ethos?
Kaum etwas auf EU-Ebene, wo Entscheidungen Ergebnisse komplexer Verhandlungen sind und plebiszitäre Interventionen von Bürger*innen nur einen weiteren Vetospieler auf die politische Bühne brächten, der die EU endgültig lahmlegen würde. Wenig auch auf staatlicher Ebene, wo die Parteien ohnehin beständig auf demoskopische Umfragen reagieren. Bleibt also die kommunale Ebene, der unmittelbare Erfahrungsraum der meisten Menschen, wo man mehr Bürgereinfluss ermöglichen kann, ohne das System zu blockieren oder die Bürgerkompetenz zu überfordern. Hier sind die Dinge überschaubar, Entscheidungen werden in kurzer Zeit folgenreich und es lässt sich gut beobachten, ob die angestrebten Absichten umgesetzt werden. Damit die Bürgerschaft hier in höherem Maße ins Spiel gebracht werden kann, muss eine starke Entprofessionalisierung und Entbürokratisierung der Verwaltungsabläufe stattfinden. Hier sind die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte rückgängig zu machen, um mehr Entscheidungs- und Gestaltungsspielräume für die Bürger*innen zu schaffen.
Dabei ist noch ein weiterer Schritt zu mehr Bürgerbeteiligung zu erwägen, indem die Zusammensetzung der Beratungs- und Entscheidungsgremien nicht nur per Wahl-, sondern auch per Losverfahren erfolgt. Schon Aristoteles hat das Los als das genuin demokratische und die Wahl als ein aristokratisches Verfahren bezeichnet. Das Los kann jeden treffen, und wen es trifft, der muss sich in das zu bearbeitende Problem einarbeiten. Und man sollte sich dem Los nicht entziehen können. So wird mit der Vorstellung von demokratischer Verpflichtung wieder ernst gemacht, also der Idee, dass Demokratie die Sache eines jeden Bürgers und einer jeden Bürgerin ist. Die Reihen der notorischen Eckensteher und Herumschimpfenden werden sich schnell lichten, wenn die großen Sprüche in Taten umgesetzt werden sollen. Eine neue Ernsthaftigkeit kehrt ein und der Respekt vor der Politik als schwierigem und verantwortungsvollem Tun wird wieder wachsen.
Herfried Münkler ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin, wo er zu Ideengeschichte und Staatstheorien lehrte und forschte. Mit seiner Frau, der Literaturwissenschaftlerin Marina Münkler, verfasste er 2019 das Buch „Abschied vom Abstieg. Eine Agenda für Deutschland“, erschienen im Rowohlt Verlag.
Stand: Dezember 2021