Meinung ist kein Virus

Ein Beitrag aus ALBERT Nr. 7 "Demokratieforschung"

Verschwörungstheorien und Hatespeech untergraben die Demokratie. Die Philosophin Romy Jaster beschäftigt sich mit aggressiver Gesprächskultur und gesellschaftlicher Spaltung. Im Interview spricht sie über den Umgang mit Andersdenkenden und darüber, warum es wichtig ist, die eigenen Argumente immer wieder zu hinterfragen

Interview: Susanne Götze

Demokratie lebt von der Debatte. Wenn die Menschen nicht mehr miteinander reden, dann stirbt auch die Demokratie. Wie stark haben Hatespeech und Fake News unsere Debattenkultur schon zerstört?

Wir haben in Deutschland glücklicherweise ein relativ stabiles Medienvertrauen. Gerade durch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk gibt es eine Anti-Fake-News-Bastion, die stark dagegenhält, auch wenn die ein oder andere Falschmeldung natürlich auch dort vorkommt. Und viele Menschen vertrauen diesen Medien auch. Trotzdem gibt es ein erhöhtes Risiko durch Falschinformationen.

 

Hat sich das mit Corona noch verschärft?

Gerade in der Corona-Krise haben Fake-News-Verbreiter*innen die Unsicherheit vieler Menschen ausgenutzt. Oftmals bewerten wir neue Informationen danach, wie gut diese bereits zu unseren vorhandenen Überzeugungen passen. Genau da setzt die Fake-News-Industrie an. Sie produziert Neuigkeiten, die leicht zu konsumieren sind und bestehende Vorurteile gegen die angeblich autoritären Corona-Maßnahmen, den totalitären Klimaschutz oder kriminelle Flüchtlinge noch anheizen. Damit verfestigt sich der Irrglaube.

 

In den USA hat das sogar dazu geführt, dass ein Fake-News-Multiplikator zum Präsidenten wurde. Wie gefährlich sind Falschinformationen für die Demokratie?

Wenn sich viele Menschen epistemisch von der Realität abkoppeln, dann wird es gefährlich. Möglicherweise springen dann auch größere Privatmedien auf und machen mit. Dann bekommt das eine Dynamik wie in den USA, die nur schwer zu stoppen ist und sogar wahlentscheidend sein kann. Allerdings ist Deutschland keineswegs in so einer Situation. Die AfD versucht es immer wieder, hat aber gerade in der Corona-Krise eher verloren. Auch die sogenannten Querdenker sind ja ein verschwindend kleiner Teil der Bevölkerung. Die Gefahr ist permanent da, aber dass Fake News Mainstream werden, ist in einer starken Demokratie keineswegs ein Selbstläufer.

Ich schlüpfe jetzt mal ins Gewand eines Klimaleugners: „Frau Jaster, der Klimawandel ist nicht menschengemacht, das ist alles ein Komplott von Wissenschaftlern und Politikern, um Geld zu machen und uns unsere Freiheit zu rauben. Wachen Sie endlich auf!“ Was entgegnen Sie?

Ich würde mich erstmal ziemlich ausführlich mit Ihrer Position beschäftigten. Es hat keinen Sinn, Sie mit meiner eigenen Position zu konfrontieren und zu hoffen, dass Sie das schon einsehen. Das ist unrealistisch. Mir würde es eher darum gehen, Sie zum Nachdenken zu bringen. Ich würde also nachhaken und fragen, warum Sie das glauben, welchen Quellen Sie vertrauen oder warum anderen Quellen nicht. Je mehr ich nachhake, desto mehr müssen Sie über ihre eigenen Positionen nachdenken. Das gilt auch für Menschen, die keinen Fake News anhängen. Je weiter Sie bohren, desto schwieriger wird es für den Gesprächspartner.

 

Solch ein Gespräch kann schnell bösartig werden. Wie vermeidet man Aggressivität?

Das Gespräch sollte in einer ruhigen und möglichst sachlichen Atmosphäre stattfinden. Die Idealsituation ist, wenn beide Gemüter entspannt sind und Zeit füreinander haben. Auf einer Querdenker-Demo, wo die Polizei am Rand steht und die Teilnehmer*innen total aufgepeitscht sind, ist diese Situation beispielsweise nicht gegeben. Es ist auch nicht sinnvoll, dem Corona-Leugner in der Familie per Mail oder Telegram Hunderte Links zu Studien und Artikeln zu schicken – nach dem Motto „Guck mal, wie Unrecht du hast“. Sie brauchen eine Gesprächssituation, in der Ihr Gegenüber das Gefühl hat, dass Sie sich ehrlich für seine Positionen interessieren. Solch ein Gespräch hat die höchsten Chancen, etwas zu bewegen – auch wenn man keine schnellen Erfolge erwarten kann.

 

Überzeugen kann man diese Menschen ja selten bis nie. Was wäre aus Ihrer Sicht ein erfolgreiches Gespräch?

Es ist ein Erfolg, wenn es gelungen ist, dass beide Seiten sich für die Sicht der anderen Person interessieren und sich respektieren. Das ist schon ein sehr hohes Ziel. Diese Offenheit bedeutet nicht, dass man die Fake News annehmen soll, sondern es geht darum zu verstehen, warum die andere Person so denkt. Es ist sehr einfach, Positionen abzulehnen, wenn man voraussetzt, dass nur sehr dumme oder sehr bösartige Menschen diese vertreten würden. Wenn man sich hingegen mit den tatsächlichen Gründen beschäftigt, aus denen Menschen bestimmte Überzeugungen haben, stellt man manchmal fest, dass viele weder dumm noch bösartig sind, auch wenn sie eine Position vertreten, die man selbst ablehnt. Diese Möglichkeit anzuerkennen, ist in einer Demokratie sehr wichtig, weil es der affektiven Polarisierung, also der emotionalen Ablehnung Andersdenkender, entgegenwirkt.

 

Reden Sie denn gezielt mit Menschen, die nicht zur Akademiker-Bubble gehören, oder auch mit Querdenkern?

Am Anfang des „Forums Streitkultur“ sind wir tatsächlich in Kneipen gegangen und haben uns an den Tresen gesetzt, um Gespräche anzufangen. Das nannten wir „Streitlabor“. Aber ich bin schnell an meine Grenzen geraten, weil es sehr schwer zu verbergen ist, dass ich die typische Akademikerin bin. Mir fällt es schwer, am Tresen den richtigen Ton zu treffen und nicht wie eine Professorin zu sprechen. Ich sehe meine Rolle eher darin, in Argumentations-Workshops das Wissen weiterzugeben, damit andere Menschen im Alltag anders mit diesen Situationen umgehen.

 

Von welchen Philosoph*innen kann man lernen, ein zivilisiertes Gespräch zu führen?

Meine Empfehlung ist John Stuart Mill. Er war britischer Philosoph und Politiker im 19. Jahrhundert und hat sich sehr für einen freien Meinungsaustausch starkgemacht. Er gehörte der Strömung des Liberalismus an. Mill glaubte, dass die Gesellschaft Schaden nimmt, wenn die Menschen aufhören, miteinander zu diskutieren. Denn Positionen, die von einer breiten Mehrheit vertreten werden, können auch zu starren Dogmen werden. Deshalb ist es gut, sie immer wieder zu hinterfragen. Denn wenn es nicht mehr genug vernünftige Argumente gibt, die diese Positionen stützen, müssen sie neu ausdiskutiert werden – auch, damit sich die Gesellschaft weiterentwickelt.

 

Ein gewisser Zweifel ist also ein Garant für Fortschritt.

Einige Leute meinen, dass bestimmte Themen irgendwann mal „ausdiskutiert“ seien, beispielsweise Gender-Themen. Aber das ist falsch. Wir müssen immer weiter darüber diskutieren, weil das Ziel nicht bloß sein sollte, die „richtige“ Meinung zu haben, sondern, diese Meinung auch aus den richtigen Gründen zu haben. Nur so ist der Fortschritt stabil.

 

Aber beim Klimawandel haben viele zu Recht keine Lust mehr, mit Klimaleugner*innen zu diskutieren, ob die Erwärmung nun vom Menschen gemacht ist oder von der Sonne. Solche Leute in Talkshows einzuladen, kann doch nicht zielführend sein.

Das ist richtig. Aber man muss in der Lage sein, jederzeit seine eigene Position mit Argumenten zu stützen. Solange es Leute gibt, die diese Gründe nicht kennen oder nicht akzeptieren, müssen wir immer wieder diskutieren. Das heißt aber nicht, dass Vertreter*innen solcher Organisationen, deren Standpunkte komplett wissenschaftlich widerlegt sind, eingeladen werden müssen. Man muss weder einen Klimaleugner noch eine Rassistin ins Fernsehen holen, um eine gesellschaftlich wichtige Diskussion zu führen. Es geht eher darum, seine Argumente für Menschen bereitzuhalten, die einfach noch wenig über das Thema wissen oder auf ihrem Erkenntnispfad noch nicht angekommen sind – ohne sie gleich zu verurteilen.

 

Und wie ist es bei Künstler*innen? Die Kabarettistin Lisa Eckhart wurde vom Hamburger „Harbour Front Literaturfestival“ ausgeladen. Sie hatte sich trotz der Proteste wegen ihrer umstrittenen Aussagen zu Minderheiten und Migrant*innen geweigert, einen Rückzieher zu machen. Ist das ein Verstoß gegen die Freiheit der Kunst?

Es gibt anscheinend Leute, die Lisa Eckhart lustig finden. Die Frage ist, ob es der Gesellschaft schadet, wenn diese Art von Humor kultiviert wird. Andererseits finde ich die Diskussionen um Cancel Culture meistens extrem unterkomplex. Wir müssen unterscheiden, ob der Veranstalter Angst vor einer Demo oder Vandalismus hat oder es hier nur um Empörung in Medien und der Bevölkerung geht. Grundsätzlich sollten wir in einer offenen Gesellschaft aber alle Positionen erlauben, die nicht gegen die Verfassung verstoßen. Wenn wir von unserem Grundgesetz ausgehen, dann merken wir ganz schnell, ob eine Position aus moralischen Gründen abgewehrt wird oder handfeste Verstöße beispielsweise gegen die Menschenwürde vorliegen.

 

Also müssen wir auch lernen, mit Positionen zu leben, die wir verabscheuen.

Solange sie nicht unwidersprochen bleiben, diskutiert werden und sie nicht gegen das Grundgesetz verstoßen – ja. Solche Meinungen sind meist auch weniger gefährlich, als oft angenommen wird. Nur weil jemand in den Medien etwas kundtut, ist diese Meinung ja nicht wie ein Virus, der alle ansteckt. Solche Situationen sollte man lieber selbst nutzen, um seine eigenen Argumente nochmal auf ihre Standhaftigkeit zu überprüfen.

Romy Jaster ist wissenschaftliche Mitarbeiterin für Theoretische Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie ist Mitgründerin des Forums für Streitkultur und hat mit David Lanius 2019 „Die Wahrheit schafft sich ab: Wie Fake News Politik machen“ (Reclam) veröffentlicht.

Stand: Dezember 2021