Vom Haus der Kulturen der Welt, mitten im grünen Tiergarten in Berlin gelegen, kann man über die Spree und hinüber zum Kanzleramt schauen. Ausflugsschiffe gleiten ins Regierungsviertel. Wer im Sommer an diesen Ort kommt, gerät leicht in Ferienstimmung, aber der Idylle ist, wie so oft, nicht zu trauen
Interview: Jens Bisky
Seit die Brit*innen sich für den Brexit entschieden haben und Trump Präsident wurde, redet die deutsche Öffentlichkeit mit nahezu morbider Angstlust davon, wie Demokratien sterben. Ist die Sorge berechtigt oder übertrieben, Herr Zürn?
MICHAEL ZÜRN Sterben ist ein extremer Begriff. Ein Problem aber gibt es schon. Die Qualität der Demokratie und ihrer institutionellen Merkmale ist weltweit im Rückgang begriffen, und zwar stärker, als wir das bisher jemals gesehen haben. Es geht um eine latente Krise, die nicht nur zufällig in einem einzelnen Land zu beobachten ist, sondern einen fast schon globalen Charakter hat. Viele Länder der Welt sind betroffen, etwa die Türkei, Russland, aber auch die USA oder Indien. Die liberalen Demokratien wie in Skandinavien, Deutschland, Kanada, die bisher von Demokratieeinbußen weitgehend verschont geblieben sind, stellen inzwischen eher eine Minderheit dar.
Sehen Sie das ähnlich, Frau Jaeggi, befinden sich die Demokratien im Rückzug gegenüber autokratischen Systemen?
RAHEL JAEGGI Einerseits verlieren Demokratien weltweit an Akzeptanz und Attraktivität, andererseits beobachten wir in den Kernländern des liberalen Demokratiemodells so etwas wie eine Erosion, eine Austrocknung, eine Entlebendigung dessen, was Demokratie heißt. Es gibt ihre Institutionen noch, aber sie werden nicht mehr wirklich mit Sinn und Inhalt gefüllt. Dabei ist es wichtig, sich klarzumachen, dass nicht nur die Demokratie in der Krise ist. Wir erleben ökonomische Krisenerscheinungen in rascher Folge, wir sind mit immer offensichtlicher und drängender werdenden ökologischen Krisen konfrontiert, wir stehen vor sozialen Verwerfungen verschiedenster Art. Diese Krisen verstärken sich wechselseitig in ihrer Dynamik und werden zur Vielfachkrise. Die Krise der Demokratie ist in gewisser Hinsicht eine Metakrise: eine Krise der Bearbeitung der auftauchenden Probleme.
MICHAEL ZÜRN Man sollte in der Tat zwischen intern selbstgemachten Krisen der Demokratie und demokratieexternen Krisen unterscheiden. Die Demokratien haben die großen Krisen der letzten Jahre nicht verursacht. Der Ursprung von Corona lag in China und die Flüchtlinge flohen vor staatlichen Gewaltexzessen autoritärer Machthaber in Syrien. Nur hilft das den Demokratien wenig, weil sie in gewisser Weise in eine Krise der Krisenbewältigung geraten sind. Es galt immer als eine Stärke der liberalen Demokratien, dass sie dynamisch auf Krisen und Probleme reagieren. Wenn das nicht mehr der Fall ist, werden externe Krisen zu einer internen Krise der demokratischen Institutionen.
Welches sind die Symptome dieser Krise? Woran erkennt man sie?
RAHEL JAEGGI Wenn ich von einer Erosion der Demokratie spreche, dann geht es um zum Teil schleichende Prozesse der Aushöhlung demokratischer Prozesse und um die Frage, inwiefern die Betroffenen sich in demokratischen Prozessen tatsächlich gemeint fühlen, inwiefern sie den Eindruck haben können, ihr Geschick in diesen und durch diese beeinflussen zu können. Meiner Meinung nach ist das Empfinden, dass hier überhaupt etwas gestaltbar ist, gestört. Das Gefühl der Machtlosigkeit – Entfremdung – herrscht vor. Aber das ist eben nicht nur ein Gefühl oder ein subjektiver Eindruck – die Machtlosigkeit ist in mancher Hinsicht real.
Das hängt mit komplizierten Fragen zusammen, die man die drei W-Fragen nennen könnte. Erstens: Wer entscheidet? Wer ist der Souverän und wer gehört zu diesem dazu oder wird ausgeschlossen – wie sehr viele der hier lebenden Migrant*innen? Zweitens: Wie wird entschieden? Sind die demokratischen Verfahren beweglich und responsiv genug?
Es gibt aber noch eine dritte wichtige W-Frage, über die seltener gesprochen wird, nämlich: Worüber wird oder kann überhaupt entschieden werden? Wenn Dinge, die von überragender Bedeutung für das öffentlich-soziale Leben sind, gar nicht erst in den Bereich gemeinsamer Beratung und Entscheidung gelangen können, dann ist der Gegenstandsbereich der Demokratie nicht groß genug. In all diesen Problemfeldern liegen Gründe für die Erosion von Demokratie.
MICHAEL ZÜRN Eine Ursache für die doppelte Entfremdung von der Demokratie – wie das Armin Schäfer und ich in unserem Buch über die demokratische Regression genannt haben – liegt in der Auswanderung der Krisen und Problemlagen aus den demokratischen Gehäusen des Nationalstaates. Wir haben in der Finanz- und Eurokrise gesehen, dass digitalisierte, globale Finanzmärkte dem Regelungsbereich der nationalen Demokratien entzogen waren. Das macht deutlich, dass wir nicht unbedingt eine Krise des demokratischen Prinzips durchleben, sondern eine Krise der demokratischen Institutionen, die nicht für die weltgesellschaftlichen Krisen unserer Zeit gemacht sind.
In den vergangenen zwei, drei Jahrzehnten haben sich die Orte, an denen Probleme entstehen, und diejenigen, an denen Entscheidungen getroffen werden, stark verändert. An Macht gewonnen haben Institutionen wie Zentralbanken und internationale Organisationen, die nicht direkt vom Willen der Wähler*innen und gewählten Politiker*innen abhängig sind, gegenüber den Parlamenten, über deren Zusammensetzung in den Wahlkabinen abgestimmt wird.
Wäre es also vernünftig, die Nationalstaaten wieder zu stärken?
MICHAEL ZÜRN Viele dieser nicht durch Wahlen legitimierten Institutionen sind einfach bitter notwendig. Wir müssen Wege finden, sie zu demokratisieren, sie für die politische Auseinandersetzung zu öffnen, Streit in sie hineinzutragen, statt à la Merkel zu sagen: Wir haben hier eine gute Vereinbarung und darüber können wir zu Hause nicht mehr diskutieren.
RAHEL JAEGGI Ich würde in diesem Zusammenhang gern die Frage nach dem Gegenstandsbereich der Demokratie noch einmal aufgreifen. Wenn Demokratie der Ort der Reflexion und der kollektiven Selbstbestimmung in Bezug auf Angelegenheiten ist, die uns alle angehen, dann wird sie geschwächt, sobald Bereiche, die von öffentlichem Belang sind, der demokratischen Debatte entzogen werden. Die wirtschaftlichen Grundlagen unseres gemeinsamen Lebens, Fragen der Organisation von Arbeit und Eigentum etwa, bestehen aber – man könnte sagen: zunehmend wieder – in einem vordemokratischen Bereich.
Das Problem besteht ja schon länger: In liberalen Demokratien gelten wirtschaftliche Fragen gewissermaßen als Privatsache, auch wenn die Politik immer schon Rahmenbedingungen für das Ökonomische geschaffen hat. Es gibt ein Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und Kapitalismus. In der Demokratie gilt das Betroffenheitsprinzip, im Idealfall sollen alle, die von Maßnahmen betroffen sind, über diese auch mitentscheiden. Doch in Bereichen, die rein nach ökonomischen Prinzipien reguliert werden, wird dies offenbar außer Kraft gesetzt. Bei Entscheidungen, die ungeheure Auswirkungen auf eine ungeheure Anzahl von Betroffenen haben, werden diese oft gar nicht erst gefragt und kaum gehört.
Wer heute mit Gewerkschafter*innen spricht, hört gruselige Geschichten darüber, wie Unternehmensleitungen die Gründung von Betriebsräten und Mitbestimmung zu verhindern versuchen. In Berlin erleben wir das gerade mit dem Lieferdienst Gorillas. Hier geht es nicht nur um die Umverteilung von Ressourcen, sondern um die Demokratisierung einer Lebenspraxis, die Mitbestimmung über Arbeitsverhältnisse und das Arbeitsklima.
Kann also auch das Volksbegehren „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ die Demokratie stärken, weil es darum geht, den Gegenstandsbereich demokratischer Politik neu und umfassender zu definieren?
RAHEL JAEGGI Ja, diese Initiative ist ein gutes Beispiel dafür. Das Handeln einiger großer Wohnungsgesellschaften hat direkte und einschneidende Auswirkungen auf das Leben vieler Menschen in der Stadt und auch darauf, was städtisches Leben – das ja für das Zusammenleben der Verschiedenen steht und damit eine ganz grundlegende Einübung in demokratische Kultur ist – überhaupt sein kann. Die Auswirkungen, die sozialen Verwerfungen, die das Resultat zum Beispiel von städtebaulicher Segregation und Privatisierung öffentlicher Räume sind, betreffen uns alle. Wenn über unsere Lebensbedingungen von privaten Eigentümer*innen unreguliert bestimmt wird, so schränkt das demokratische Partizipation enorm ein. Auch das Vergesellschaftungsbegehren betrifft also nicht nur die Frage, wer Anteil an Ressourcen hat, sondern die Frage der Demokratie: Der Staat beziehungsweise das demokratische Gemeinwesen muss eine gewisse Verfügungsmacht über solche Bereiche haben – und die erreicht man im Zweifelsfall nur über eine Veränderung in den Eigentumsverhältnissen.
MICHAEL ZÜRN Der demokratische Staat muss – in Grenzen – auch Verfügungsmacht über Eigentum haben. Da stimme ich zu. Allerdings sollte man Enteignung und Demokratisierung nicht gleichsetzen; es geht vor allem um die Fähigkeit des demokratischen Staates, bestimmte Leistungen – wie etwa akzeptable Wohnbedingungen zu einem angemessenen Preis – bereitzustellen. Warum befindet sich diese Demokratie nach Wahrnehmung vieler Bürgerinnen und Bürger in der Krise? Weil der Staat in vielen Bereichen die Möglichkeit verloren hat, Maßnahmen zu ergreifen und Entwicklungen zu beeinflussen. Vor 30 oder 40 Jahren konnte er große Unternehmen einfach besteuern. In einem Zeitalter, in dem digitale Unternehmen sich ihre Standorte aussuchen können, ist dies oft nicht mehr möglich. Damals hatten wir ein sehr hohes Maß an Zufriedenheit mit der Demokratie, obwohl es wohl nicht viel mehr Mitbestimmung in den Betrieben gab. An dieser Stelle sehe ich keine drastische Veränderung. Das ist kein normatives Gegenargument gegen die Enteignung, sondern schlicht die empirische Frage, was sich eigentlich verändert hat, welche Entwicklungen erklären könnten, dass die Unterstützung für das demokratische System so deutlich zurückgegangen ist.
In der Wohnungsfrage und der Mietpolitik ist das Entscheidende, ob der Staat die Möglichkeit hat, den benötigten Wohnraum zu adäquaten Preisen zur Verfügung zu stellen, sei es durch den teuren Rückkauf von Tausenden Wohnungen, sei es durch andere Maßnahmen. Enteignung ist dann ein Instrument, vermutlich nicht das effizienteste. Es geht also generell um die wahrgenommene Unfähigkeit der demokratischen Institutionen, bestimmte Leistungen bereitzustellen. Das ist der Kern der gegenwärtigen Krise. Nicht die Ungleichheit und die Politiken, die zu dieser Ungleichheit geführt haben, sondern die zunehmende Erfahrung, dass diese Politiken kaum änderbar sind und die demokratischen Institutionen keinen Zugriff auf diese Prozesse finden, führt zur Entfremdung von der Demokratie.
Autoritäre Populist*innen problematisieren diese Schwierigkeiten ...
RAHEL JAEGGI Die autoritären Populist*innen beziehen sich auf eine extrem exklusive, anti-pluralistische Vorstellung von Volk. Das richtet sich gegen alle vermittelnden Institutionen und Organisationen, in denen Willensbildung stattfindet, in denen Positionen verändert und ausgehandelt werden. Es geht ihnen um eine Art Volksgemeinschaftsdemokratie. Das ist nicht eine Erneuerung, sondern die Regression der Demokratie, wie auch Herr Zürn sie in seinem Buch thematisiert.
MICHAEL ZÜRN Autoritäre Populist*innen greifen die Unzufriedenheit mit den etablierten demokratischen Institutionen auf. Sie attackieren das Ganze, die „Systemparteien“, und sie behaupten, dass die Mehrheit nicht mehr zum Zuge komme. Genau darin steckt das autoritäre Potenzial. Sie vertreten eine hochgradig antipluralistische Vorstellung von dieser Mehrheit und ein Verständnis von Demokratie, in dem die parlamentarischen und rechtsstaatlichen Verfahren zugunsten schneller Entscheidungen der gewählten Exekutive im Namen der schweigenden Mehrheit entleert sind. Die autoritären Populist*innen betreiben Entdemokratisierung im Namen der Demokratie. Viktor Orbán will nach eigenem Bekunden Demokratie, Wladimir Putin möchte Demokratie, Donald Trump ebenfalls. Sie wollen aber keine liberale Demokratie.
Die autoritären Populist*innen haben auch ein Feindbild in der Wissenschaft, attackieren etwa ständig die Genderforschung. Wie sehen Sie die Rolle von Wissenschaft und Forschung in der gegenwärtigen Situation? Fühlen Sie sich in Ihrer wissenschaftlichen Arbeit als Verteidiger* in der Demokratie? Braucht die Demokratie Ihre Arbeit?
RAHEL JAEGGI Hoffentlich ja, aber wer weiß. Zum einen sind wir ja selbst Teil des demokratischen Prozesses und selbst eine gesellschaftliche Institution, die es zu demokratisieren und inklusiv zu machen gilt. Aber braucht uns die Demokratie zu ihrer Verteidigung? Man muss erforschen, womit wir es eigentlich zu tun haben, versuchen zu erklären, wie es zu den un- und antidemokratischen Zeiterscheinungen kommt, und hier spielen Wissenschaft und Theorie natürlich eine Rolle. Aber man sollte auch in eine emanzipatorische Stoßrichtung fragen, wie man Demokratisierungsprozesse weiterdenken könnte. Es kann nicht nur darum gehen, gewissermaßen das Bollwerk der Demokratie zu halten. Man wird dieses gar nicht halten können, wenn man nicht weiterdenkt. Gegen die Krise der Demokratie hilft nur mehr Demokratie.
Nehmen wir das Beispiel der Universitäten, an denen etwa durch Drittmittelförderung und die Exzellenzinitiative eine zweite Institutionenschiene aufgebaut wurde. Bei diesen Parallelinstitutionen stellt sich die Frage nach Mitbestimmung oft gar nicht mehr – Entscheidungen werden im Präsidialmodus, von oben, getroffen. Die demokratischen Möglichkeiten und Energien verflüchtigen sich. Ähnliches kann man in vielen gesellschaftlichen Institutionen feststellen. Auch an dieser Stelle muss man einsetzen, wenn man die liberale Demokratie verteidigen will.
MICHAEL ZÜRN Ich stimme Ihnen zu, dass die Demokratie nicht verteidigt werden kann, ohne sie zu verändern. Das ist das Herkuleshafte in der gegenwärtigen Situation. Das Problem der Universitäten ist die starke Verlagerung von der Grundfinanzierung zur Projektfinanzierung. Das scheint mir jedoch eher eine Folge des deutschen Föderalismus als ein Demokratieproblem zu sein.
Die Frage nach Demokratie und Wissenschaft würde ich daher grundsätzlicher angehen. Das liberale Skript, die liberale Demokratie beruhen auf einer gewissen epistemologischen, also von den Bedingungen des Wissens abhängigen, Grundlage. Zunächst einmal ist die individuelle Selbstbestimmung, die Unabhängigkeit der eigenen Einschätzung ein wichtiger Teil der liberalen Wissensordnung. Damit geht einher, dass man auch die Selbsteinschätzung der anderen akzeptiert und in der Auseinandersetzung ernst nimmt. An dieser Stelle kommt das Deliberative, der öffentliche Austausch von Argumenten, ins Spiel. Drittens gehört aber auch – und bisher wenig thematisiert – dazu, dass man akzeptiert, dass es bestimmte Dinge gibt, die andere besser wissen, aufgrund ihrer langjährigen Beschäftigung, ihrer Messinstrumente und ihrer Verfahren.
Es ist vor allem diese privilegierte Wissensposition der Wissenschaft, die von den autoritären Populist*innen infrage gestellt wird. Sie kennen die Mechanismen der Zuteilung von wissenschaftlicher Reputation und damit epistemische Autorität nicht mehr an. Dann wird auch noch das Deliberative weggeschafft. Es soll nur das Individuum selbst ganz allein bestimmen, was falsch oder richtig ist, indem es sich in digitalen Bubbles die Informationen zusammensucht. In vielen konkreten Problemfragen wird die etablierte Wissenschaft nicht mehr als eine neutrale Instanz angesehen, sondern als Partei – genauso wie in den USA die Qualitätsmedien von einer neutralen Instanz mit gesicherten Informationen zu einem Parteigänger der Liberalen umdefiniert wurden. Das macht einen Teil der Krise aus.
RAHEL JAEGGI Da stimme ich zu. Altmodisch gesagt: Es gibt die Verpflichtung auf so etwas wie Wahrheit – und methodisch auf die Nachvollziehbarkeit, Transparenz und Diskutierbarkeit von Ergebnissen. Nun geht es in der Demokratie und in der Politik natürlich nicht direkt um Wahrheit, sondern immer auch um Fragen, die gar nicht im wissenschaftlichen Modus zu entscheiden sind. Da gibt es keine andere Autorität außer den Menschen, die gemeinsam entscheiden. Dennoch ist die Anerkennung der Autorität wissenschaftlicher Erkenntnisse, die Orientierung an dem, was man wissen kann, auch wenn dieses Wissen fehlbar ist, Voraussetzung für ebendiese demokratische Entscheidungsfindung. Das erleben wir ja gerade so deutlich in der Corona-Pandemie.
Natürlich findet die demokratisch-politische Diskussion in einem Spielraum statt, in dem sich Entscheidungen nicht unmittelbar aus wissenschaftlichen Erkenntnissen ableiten lassen: Keine Inzidenz sagt uns aus sich heraus, welche Maßnahmen wir ergreifen sollen. Aber die Grundlage demokratischer Entscheidung ist hier die Anerkennung wissenschaftlicher Erkenntnis. Damit erkennt man im Grunde, wieder altmodisch gesagt, die Realität an – anstatt in die irrwitzige Abwehr von Realität und Allmachtsfantasien zu verfallen, die aus einer narzisstischen Kränkung erwachsen. Interessanterweise bedeutet dann gerade das Pochen auf die Wissenschaft, sich die Grenzen unserer Verfügungsmacht einzugestehen, auch der demokratischen. Realitätsanerkennung bedeutet ja: Da steht uns etwas gegenüber, das wir nicht völlig beherrschen oder nach Belieben gestalten können. Wir setzen nicht alle Bedingungen unseres Handelns selbst. Demokratische Politik gestaltet das, was sich aus diesen Bedingungen ergibt – und deshalb muss sie diese zunächst einmal so gut wie eben möglich kennen.
Insofern gibt es tatsächlich so etwas wie epistemische, also wissens-technische Grundlagen einer liberal-demokratischen Verfassung. Zum demokratischen Aushandlungsprozess gehört auch, dass sich Positionen verändern und erste Meinungen und Interessen überdacht werden.
Was wäre zu tun, um Demokratisierung voranzubringen?
RAHEL JAEGGI Mit dem so häufig gehörten Appell an Gemeinsinn und demokratische Tugenden wird man nicht weit kommen. Man kann nicht strukturelle Machtlosigkeit erzeugen und dann Krokodilstränen über Demokratiemüdigkeit vergießen. Die Menschen fühlen sich ja nicht machtlos, sie sind es. Sie sind nicht demokratiemüde, sie werden durch die Drögheit der Prozesse, die sie erleben, eingeschläfert. Die Demokratie retten kann man nur, indem man die institutionellen und strukturellen Gründe für das Gefühl der Machtlosigkeit verändert. Das fängt in den Kapillaren der Gesellschaft an, den Mikroinstitutionen und Prozessen, in denen die Einzelnen sich als Subjekte kollektiver Selbstbestimmung erfahren können, oder eben nicht. Demokratie ist, in diesem Sinne, nicht nur eine Regierungs-, sondern eine Lebensform.
MICHAEL ZÜRN Diejenigen, die an der Demokratie interessiert sind und daran, dass wir in einer Demokratie leben, sollen die Institutionen so umgestalten, dass das Gefühl der Entfremdung und Machtlosigkeit nicht weiter zunimmt. Ich glaube, das Bewusstsein dafür, dass es unsere demokratischen Institutionen sind, die zu einem erheblichen Maße dieses Gefühl der Machtlosigkeit erzeugen, ist noch nicht so weit verbreitet, weil wir doch viel mehr über Ungleichheit, über kulturelle Praktiken und über die Arroganz der Eliten als Ursachen für die Krise reden. Wir sollten aber über unsere demokratischen Institutionen reden, die wir verändern müssen, um sie verteidigen zu können.
So furchtbar die Corona-Krise war und ist – hat sie das Potenzial, Demokratie zu stärken, weil sichtbar wurde, wie viel an Selbstverständlichem in kurzer Zeit geändert werden kann?
RAHEL JAEGGI Dazu habe ich jeden Tag eine andere Meinung. Solche Krisensituationen, in denen auf einmal alles offen ist, lösen die Versteinerung des Status quo. Ja, uns ist der politische Charakter und auch die Unselbstverständlichkeit des Gegebenen deutlich geworden – bis hin zu manchen für ehern gehaltenen ökonomisch-politischen Sachzwängen. An diese Erfahrung der Gestaltbarkeit und des Ausnahmezustands ließe sich anknüpfen. Andererseits aber auch nicht. Gerade weil der Status quo ausgesetzt war, ist die Sehnsucht danach, zur „Normalität“ zurückzukehren, sehr stark. Das birgt die Gefahr, nicht mehr zu sehen, wie problematisch diese Normalität war und in welchem Maße in dieser Normalität schon die Mängel angelegt waren, die jetzt in der Krise zum Tragen kommen. Dass beispielsweise die Corona-Schule die Bildungsungleichheit so dramatisch verstärkt, liegt ja daran, dass diese in unserem Schulsystem strukturell angelegt ist.
MICHAEL ZÜRN In jeder Krise steckt ein ambivalentes Potenzial – in diesem Fall auch für die Demokratie. Ja, wir mussten feststellen, dass die handlungsstarken technokratischen Autokratien, etwa China, die Corona-Krise schneller in den Griff bekommen haben als viele – nicht alle – liberalen Demokratien. Das stärkt bei manchen das Grundgefühl, es sei möglicherweise besser, von einem wohlwollenden Autokraten regiert zu werden. Und wenn die soziale Ungleichheit und die Sparpolitik des Staates tatsächlich ein Hintergrund für den Aufstieg der autoritären Populist*innen sind, dann könnten die Langfrist-Wirkungen der staatlichen Verschuldung dieser Krise ihnen in die Hände spielen. Denn bald werden wir auch wieder über Sparmaßnahmen reden.
Andererseits haben wir auch manches gesehen, was Mut macht. Erstens: das offensichtliche Scheitern der autoritären Populist*innen beim Umgang mit der Krise. Bolsonaros und Trumps Ansteckungen haben das symbolisiert. Die Krisenbewältigung der Demokratie war im Vergleich hierzu gut. Aber wir haben auch Bewegung gesehen bei der Entwicklung von bis dato undenkbaren Politiken und Praktiken. Die Demokratien in Europa haben mit großer gesellschaftlicher Unterstützung wieder eine Nachfragepolitik betrieben und sich teilweise von den Fesseln des Neoliberalismus befreit. Das gibt demokratischen Prozessen mehr Optionen. Die Solidarität in der Gesellschaft und zumindest institutionell auch im europäischen Kontext hat sich als stärker erwiesen als von vielen behauptet. Damit könnten sich neue Wege der Demokratisierung der EU verbinden. Vielleicht erweist sich die Corona-Krise als historischer Wendepunkt, an dem die Demokratie wieder in die Offensive gelangte.
Stand: Dezember 2021