In unserer Demokratie bleibt regelmäßig fast die Hälfte zurück. Auch das ist ein Grund, sie zu feiern!
Ein Plädoyer von Petra Kohse
Interessanterweise sind demokratische Entscheidungen nicht unbedingt gerecht. Selbst dann nicht, wenn absolute Mehrheiten vorliegen. Wenn eine Position mehr als die Hälfte aller Stimmen hat, bedeutet das ja unter Umständen, dass ihr fast die Hälfte der Stimmen auch fehlt. Stellen Sie sich zwei Schulhöfe zur Zeit der großen Pause vor. Auf dem einen springt ein Kind mehr herum als auf dem anderen. Sind die Bedürfnisse der Kinder auf diesem Hof deswegen relevanter als die derjenigen auf dem anderen?
Die Frage, ob es im Urlaub in die Berge oder ans Meer geht, wird wohl in den wenigsten Familien nach dem Mehrheitsprinzip entschieden. Eher würde man vielleicht Berge suchen, die am Meer liegen. Und wenn Richtungsfragen damit beantwortet würden, erst zehn Schritte nach links und dann zehn nach rechts zu gehen, hätte sich am Ende nichts bewegt. Will sagen: Das Verfahren ist das eine, die Wirklichkeit das andere. Das gilt auch für das Prinzip der Konsensentscheidung, das sich entweder als unpraktizierbar oder unlauter erweist. Oder gibt es jemanden, der bei einem Wahlergebnis von 98 Prozent ein gutes Gefühl hätte?
In der Tierwelt hat sich ja überwiegend das Alphatierprinzip bewährt, wobei Anführer im Zweifel spontan entmachtet und durch geeigneteres Personal ersetzt werden können. Bei den Pferden etwa wird die kleinste Schwäche, die eine Leitstute in einem beiläufigen Konflikt mit einem Herdenmitglied zeigt, ihre Position kosten. Da gibt es keine Verbündeten, und es hilft ihr auch nicht, wenn sie in der Mehrheit der Konflikte bisher gesiegt hat. Allerdings ist auch die ständige Optimierung der Führung keine hundertprozentige Lebensversicherung. Einen Pumaangriff im Nebel oder Steinschlag kann es immer geben.
Oft ist also die bessere Wahl nur einen zusätzlichen Schritt von der schlechteren entfernt. In diesem Licht besehen war der Slogan „Wähle dich selbst!“, mit dem Christoph Schlingensief seine Kunst-Partei „Chance 2000“ 1998 zur Bundestagswahl antreten ließ, natürlich verführerisch und vermeintlich eine sichere Sache. Zum Bundeskanzler gekürt wurde damals allerdings Gerhard Schröder. Und dessen Politik der „Ich-AGs“ (ein Begriff, in dem das Schlingensief‘sche Empowerment noch nachklang) stärkte am Ende weder das Individuum noch die Gerechtigkeit. Im Gegenteil leitete sie eine gesellschaftliche Partikularisierung ein, die, durch Digitalisierungsfolgen noch getriggert, die Idee von Mehrheiten inzwischen fast exotisch erscheinen lässt.
Was also tun mit der Zartheit des Züngleins an der Waage, der Fragwürdigkeit der oft nur einen Stimme mehr für das, was sich durchsetzt? Vielleicht den Status quo doch einfach feiern und sich darüber freuen, dass der Einzelne hier buchstäblich noch zählt! Schließlich kann es jedermanns Stimme sein, die am Ende den Unterschied macht – und anders als unter Pferden muss man in der Demokratie weder der Stärkste noch der Schnellste sein, um Dominanzverhältnisse zu verändern.
Petra Kohse ist promovierte Theaterwissenschaftlerin und Redakteurin der Berliner Zeitung. Bis 2017 war sie Leiterin der Sektion Darstellende Kunst der Akademie der Künste.
Stand: Dezember 2021