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Die Demokratie hat viele Wurzeln, nicht nur im „Westen“. Es braucht den globalgeschichtlichen Blick, um das Recht aller Menschen auf Freiheit zu begründen

 

Im August 2021 steht die Welt unter Schock: Die Taliban übernehmen die Macht in Afghanistan. Das westliche Aufbauwerk von 20 Jahren zerbröselt im Rekordtempo; Errungenschaften einer freien Gesellschaft, nicht zuletzt für Mädchen und Frauen, werden abgeschnürt. Zeigt sich damit erneut: Die Demokratie ist ein Produkt des Westens, das für andere Regionen und Kulturkreise nicht taugt? Es gibt sowohl linke als auch rechte Positionen, die einer solchen Deutung gerne zustimmen.

Die historische Perspektive ist komplizierter – und eröffnet am Ende einen optimistischeren Blick in die Zukunft. Unsere Vorstellung vom Westen ist überwiegend ein Produkt des 20. Jahrhunderts. Demokratie, Rechtsstaat, freiheitliche Gesellschaft haben jedoch viele Wurzeln, auch in den frühen Hochkulturen des östlichen Mittelmeerraums und Vorderasiens. Im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit verschob sich der Schwerpunkt ihrer Entwicklung nach Nordwesten, in das nordalpine Europa und besonders an seinen atlantischen Saum. Dabei entstanden politische und soziale Konstellationen, in denen auf neuartige Weise individuelle Rechte garantiert wurden oder Teilhabe ermöglicht wurde, von der Magna Carta bis zu den frühen nordamerikanischen Verfassungen, von der bürgerlichen Herrschaft in Städten bis zu Adelsversammlungen.

Doch all diese Konstellationen – von „Fortschritten“ mag man nicht umstandslos sprechen – waren eingebettet in schärfste Ungleichheiten, in die Ausgrenzung derer, denen die Rechte und Freiheiten versagt waren, in brutale Gewaltverhältnisse: Feudalismus und Sklaverei, Krieg und Kolonialismus. Die Geschichte der Siedlerdemokratien außerhalb Europas, besonders der USA und Australiens, zeigt das besonders eindrücklich. Eine naturwüchsige Geschichte der Demokratie hat das, was später „der Westen“ wurde, nicht vorzuweisen. Freiheitsrechte und politische Beteiligung waren immer umstritten oder galten auf Widerruf. Richtig, es gab sehr früh die Vorstellung einer universalistischen Geltung von Werten und Rechten. Aber wo verlaufen die Grenzen des Universalismus? Darüber wird bis heute gestritten.

Die Geschichte der Demokratie ist keine planmäßige Entfaltung einer Ur-Idee auf einem Boden, der irgendwie dafür gemacht war, sondern eine nicht endende Suchbewegung, ein Trial-and-Error voller Irrwege und Paradoxien. Gerade im frühen 20. Jahrhundert erwies sich der radikalisierte Kampf für die unbedingte Gleichheit aller oder der Ruf nach einer Herrschaft des Volkes als freiheitszerstörend, auch mit massenmörderischen Konsequenzen.

Dennoch ist es kein bloßer Zufall, dass sich seit dem späten 18. Jahrhundert, in Westeuropa ganz entschieden nach 1945, so etwas wie Rechtsstaatlichkeit und Demokratie durchgesetzt haben. Längst ist klar, dass daraus keine Arroganz abzuleiten ist – dieses Erbe ist immer mehr, wie auch der Fall Afghanistan zeigt, zu Verantwortung und Last geworden. Aber es gibt auch keinen Grund, diese Errungenschaften zu verstecken. Ein Recht aller Menschen auf ein Leben in Würde und Freiheit, auf Gerechtigkeit und politische Selbstbestimmung lässt sich philosophisch begründen. Aber es lässt sich auch aus den verschlungenen Pfaden der Geschichte von Demokratie herleiten: aus ihrem Transfer in andere Räume und Kulturen; aus den Überlagerungen mit Traditionen, die Freiheit und Demokratie feindlich gesonnen waren; und manchmal auch: aus Lernprozessen, die auf Rückschläge folgten. Wir müssen beides ineinander weben, den globalgeschichtlichen Blick auf Demokratie und die Anerkennung ihrer besonderen westlichen Entwicklung.

Paul Nolte ist Professor für Neuere Geschichte mit Schwerpunkt Zeitgeschichte an der Freien Universität Berlin. 2012 erschien von ihm „Was ist Demokratie? Geschichte und Gegenwart“, 2015 „Demokratie – die 101 wichtigsten Fragen“, beide bei C.H. Beck.

Text: Paul Nolte

Stand: Dezember 2021