In vielen autoritär regierten Ländern stehen Forschende massiv unter Druck. Berlin ist in den letzten Jahren zu einem Zentrum für gefährdete und geflüchtete Wissenschaftler*innen geworden. Doch für viele ist es ein Neuanfang mit Hindernissen
Text: Astrid Herbold
Für Fatemeh Nejati ist es nicht leicht, über das zu sprechen, was ihr zugestoßen ist. Die 39-jährige Biologin, die derzeit an der Technischen Universität (TU) Berlin über Milchsäurebakterien forscht, muss immer wieder innehalten, Luft holen. So groß war der Druck, der in ihrer Heimat Iran, wo sie bis 2016 als Associate Professor lehrte, auf ihr lastete. Weil es an ihrem Institut weder Budget noch moderne Geräte gab, reiste sie jahrelang in den Semesterferien auf eigene Kosten nach Deutschland und Italien, um ihre Laborforschungen an Milchprodukten voranzutreiben. „Ich wollte mich doch nur weiterbilden und die Situation für meine Studierenden verbessern!“ Die Kontakte hatte sie während eines Stipendiums als Doktorandin geknüpft. Aber weder der Universitätsleitung noch dem zuständigen Politbüro in der Islamischen Republik gefiel das Engagement der jungen Forscherin. „Nach meiner Rückkehr wurde ich regelmäßig befragt, gewarnt, eingeschüchtert. Man erpresste mich mit privaten Fotos und warf mir mangelnden Glauben vor.“ Am Ende erhielt Nejati ihre Kündigung. Überstürzt verließ sie den Iran. Zum Glück konnte sie zunächst an der Universität Stuttgart eine Projektstelle antreten.
Was für Wissenschaftler*innen in demokratischen Gesellschaften selbstverständlich ist – die freie Wahl ihrer Themen, der internationale Austausch mit der scientific community, die Möglichkeiten zu reisen, zu publizieren und sich öffentlich zu äußern –, das entspricht in keinerlei Weise den Arbeitsbedingungen, die Forschende in autoritären Regimen erleben. Die Forschungsfreiheit ist vielerorts in Gefahr, nicht nur in Syrien, China oder der Türkei. Auch in Ungarn gibt es umstrittene Gesetzesänderungen und Umstrukturierungen des Hochschulsektors, in denen Kritiker*innen eine Einmischung in die Autonomie der Universitäten sehen. Dabei hatten alle EU-Wissenschaftsminister*innen im Herbst 2020 in einer gemeinsamen Erklärung betont: „Forschungsfreiheit steht für Offenheit, Austausch, Exzellenz, Internationalität, Vielfalt, Gleichheit, Integrität, Neugier, Verantwortung und Reflexivität.“ Damit sei sie ein Grundpfeiler jeder Demokratie.
Doch warum muss das überhaupt betont werden? „Weil ein Muster erkennbar ist“, sagt Zafer Yılmaz, türkischer Politikwissenschaftler und Gastforscher an der Berliner Humboldt-Universität. Auch er hat eine Fluchtgeschichte hinter sich. Anfang 2016 hatte er die Petition „Academics for Peace“ unterschrieben, die sich gegen das militärische Vorgehen der türkischen Regierung vor allem gegen die kurdische Bevölkerung richtete – und daraufhin seinen türkischen Pass verloren. Yılmaz beschäftigt sich mit der Transformation von Rechtsstaaten in autoritäre Systeme. „Dass Universitäten und Wissenschaftler*innen unter Kontrolle gebracht werden sollen, können wir in vielen dieser Länder beobachten.“ Er führt das auf die wichtige gesellschaftliche Funktion der Wissenschaft zurück: „Hochschulen sind im Idealfall Orte der kritischen Auseinandersetzung und der freien Rede. Und hier wird die nächste Generation von Akademiker*innen ausgebildet.“ Für autoritäre Machthaber*innen dagegen seien Universitäten Mittel zum Zweck: Wirtschaftlich nützlich sollen sie sein und ideologisch auf Linie.
Subtile Formen der Unterdrückung
Schon lange macht das internationale Netzwerk „Scholars at Risk“ auf die Gefährdungen von Forscher*innen in zahlreichen Ländern aufmerksam. Zusammenstöße mit der Polizei, Verhaftungen, Ausweisungen – Vorfälle dieser Art dokumentieren die Mitglieder von „Scholars at Risk“ akribisch. Die subtilen Formen der Unterdrückung lassen sich dagegen schwerer sichtbar machen: Dazu gehören Hinterzimmergespräche an den Fakultäten, die systematische Behinderung von Karrieren, Disziplinarverfahren, Reiseverbote oder Entlassungen unter Vorwand. Die Politikwissenschafterin Janika Spannagel forscht über Menschenrechtsverletzungen und hat für das Global Public Policy Institute (GPPi), einen Berliner Thinktank, den „Academic Freedom Index“ mit entwickelt – eine Art globales Messinstrument, das es so bisher nicht gab. Auf der Basis von rund zweitausend Einschätzungen landeskundiger Expert*innen erfasst der Index seit 2020 das Ausmaß der Forschungsfreiheit beziehungsweise -unfreiheit weltweit. Berücksichtigt werden nicht nur Faktoren wie Forschung und Lehre, die Freiheit, sich auszutauschen und zu veröffentlichen, sondern auch die politische Autonomie von Universitäten und die Lernatmosphäre.
Aus den Rückmeldungen der Expert*innen ergibt sich der Gesamtwert eines Landes. Die Skala reicht von beruhigendem Grün bis zu alarmierendem Rot. Bestwerte erreichen fast alle EU-Staaten sowie die USA, Kanada und Australien. Unter den unfreien Forschungsnationen finden sich, neben den üblichen Verdächtigen, auch Belarus, Jemen, Thailand und Saudi-Arabien. „In diesen Ländern muss die Wissenschaft nicht zwangsläufig per Gesetz eingeschränkt sein“, erklärt Spannagel. Viele Staaten bekennen sich offiziell zur Forschungsfreiheit ls universellem Prinzip; im Rahmen des UN-Sozialpakts wurde ein entsprechender Artikel von 171 Staaten ratifiziert. „Trotzdem findet permanent informelle Einflussnahme statt.“ Etwa indem die Regierung vorgibt, welche Themen beforscht werden dürfen. Auch Angriffe gegen einzelne unliebsame Wissenschaftler*innen sind nicht selten. „Das wiederum erzeugt eine Atmosphäre der Angst, die auch bei denen, die nicht persönlich betroffen sind, zu Selbstzensur führt“, sagt Spannagel.
Ein Gefühl von Freiheit und Sicherheit
Nazan Maksudyan weiß, was es heißt, ständig anzuecken. Die jüdisch-armenische Historikerin aus der Türkei forscht über osmanische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, auch mit dem Völkermord an den Armenier*innen hat sich die 43-Jährige beschäftigt. Direkt verboten war ihr das an ihrer Universität in Istanbul nicht. „Aber bei der mündlichen Verteidigung meiner Habilitation fiel ich zweimal durch.“ Sie hatte im Gespräch immer wieder den Begriff „Genozid“ verwendet und sich geweigert, ihre Thesen abzuschwächen. „Erst beim dritten und letzten Versuch ließ man mich bestehen.“ Den Gegenwind innerhalb der Universität habe sie immer gespürt, sagt sie. „Als Frau, als Armenierin, als Jüdin, als kritische Intellektuelle, die in einem repressiven Land geboren und aufgewachsen ist, war ich daran gewöhnt.“ Ausschlaggebend für ihre Flucht im Herbst 2016 waren aber nicht erschwerte Arbeitsbedingungen, sondern die sich dramatisch zuspitzende politische Lage nach dem Putschversuch. Maksudyan fürchtete um ihre Familie, ihre Kinder.
Die Historikerin kam damals direkt nach Berlin, und hier wohnt sie bis heute. Das Gefühl von Freiheit und Sicherheit sei „fantastisch gewesen“, erzählt sie, „eine sehr, sehr positive Erfahrung“. Zunächst arbeitete Maksudyan am Leibniz-Zentrum Moderner Orient (ZMO), bekam dann eine Stelle am Centre Marc Bloch (CMB), einem an der Humboldt-Universität angesiedelten Forschungszentrum für Sozial- und Geisteswissenschaften. Seit 2019 wird sie über ein Sonderprogramm der Einstein Stiftung gefördert, wie auch der Politikwissenschaflter Zafer Yılmaz. Noch bis Jahresende forscht und lehrt Maksudyan als Einstein-Gastprofessorin an der Freien Universität. Zwar werde sie weiterhin als „Wissenschaftlerin im Exil“ wahrgenommen, aber durch die Anbindung an die hiesige Forschungslandschaft habe sie neue Themen erschließen und nächste Projekte auf den Weg bringen können. Derzeit beschäftigt Maksudyan sich mit der Geschichte akademischer Verflechtungen zwischen Deutschland und der Türkei in den 1930er und 40er Jahren, unter anderem mit deutsch-jüdischen Wissenschaftler*innen, die vor den Nazis fliehen mussten.
Mentoring und Wissenschaftsdiplomatie
„Deutschland ist eines der wichtigsten Zufluchtsländer für geflüchtete und gefährdete Forschende aus aller Welt“, sagt Florian Kohstall, der an der FU den Bereich „Globale Verantwortung“ in der Abteilung Internationales leitet und das deutschlandweite Mentoringprogramm „Academics in Solidarity“ aufgebaut hat. Rund 120 geflüchtete Wissenschaftler*innen werden zurzeit in dem Netzwerk betreut. Viele ausländische Forscher*innen kommen zunächst dank der Philipp Schwartz-Initiative der Alexander von Humboldt-Stiftung und des Auswärtigen Amts an deutschen Universitäten unter; die Initiative hat in den vergangenen fünf Jahren 306 mehrjährige Fellowship-Aufenthalte finanziert. Eine weitere Möglichkeit bietet das Programm für Wissenschaftsfreiheit der Einstein Stiftung Berlin, das einzige auf Landesebene. Seit 2018 hat die Stiftung darüber 56 Personen in Berlin unterstützt.
Doch mit Stipendien allein sind die Möglichkeiten einer demokratischen Gesellschaft, sich weltweit für Wissenschaftsfreiheit einzusetzen, natürlich nicht ausgeschöpft. Neuerdings denke man an vielen deutschen Universitäten über strengere wissenschaftsdiplomatische Strategien nach, erzählt Kohstall. Die FU hat beschlossen, bei internationalen Kooperationen gegebenenfalls „Einspruch zu erheben und rote Linien aufzuzeigen“, wenn an einer Partner-Universität im Ausland Forschende oder Studierende politisch unter Druck gesetzt werden. Ein entsprechendes Strategiepapier wurde im Sommer 2020 veröffentlicht.
Berlin sei zu einem wichtigen Zentrum und Schutzraum für geflüchtete und gefährdete Wissenschaftler*innen geworden, sagt Kohstall. Trotzdem müsse man sich selbstkritische Fragen stellen. Denn für langfristige Berufsperspektiven für die geflohenen Forschenden braucht es viel Geduld. „Unser Wissenschaftssystem ist nicht gut geeinigt, diese Menschen dauerhaft zu integrieren.“ Aussichten auf eine unbefristete Stelle, gar auf eine Professur, gibt es kaum. Der Konkurrenzdruck ist immens, die Abhängigkeit von Drittmitteln groß. „Wir hören diese Klage oft von unseren Mentees: Hier seien zwar die Gedanken frei, aber die materiellen Grundlagen der Forschungsfreiheit sind nicht gegeben.“ In vielen Ländern, aus denen die Geflüchteten kommen, ist der Hochschulsektor komplett anders strukturiert. Dauerhafte Festanstellungen sind dort die Regel, nicht die Ausnahme. Diese Unterschiede sollten bei den Hilfsprogrammen mitgedacht werden, findet Kohstall.
Wie es sich anfühlt, wenn jeder Vertrag wieder nur über einige Monate läuft, weiß Fatemeh Nejati, die iranische Biologin, genau. Seit 2016 lebt sie in der Angst, keine Visumsverlängerung zu erhalten und ihren fragilen Aufenthaltsstatus zu verlieren. „Diese Unsicherheit ist sehr belastend.“ Nejati stand noch am Anfang ihrer Laufbahn, als sie nach Deutschland kam. Das hat den Neustart nicht leichter gemacht. Sie hangelte sich von Projekt zu Projekt, von Universität zu Universität. Zwar habe das Programm der Einstein Stiftung ihren Berlin-Aufenthalt von 2019 bis 2020 gesichert, und auch habe die TU sie in den letzten Jahren unglaublich unterstützt. Doch was kommt nach 2021? Die Wissenschaftlerin klingt erschöpft: „Ich weiß es noch nicht.“
Immerhin, einen Lichtblick gibt es. Nejati hat in Berlin ein neuartiges Verfahren für die Herstellung von Kefir entwickelt. Gerade bereitet die TU einen internationalen Patentantrag vor. Sollte das Patent angenommen werden, wäre das der bisherige Höhepunkt ihrer Forschung. Vielleicht, so hofft Fatemeh Nejati, öffnen sich dann neue Türen.
Stand: Dezember 2021