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Das Altern verlangsamen

Im Interview mit dem Magazin bild der wissenschaft spricht die Biochemikerin und Einstein-Professorin Ann Ehrenhofer-Murray über die Vererbung von Traumata und darüber, was epigenetische Forschung leisten kann. Das Gespräch führte Ludger Weß.

Foto: Pablo Castagnola


Frau Professor Ehrenhofer-Murray, wie ist es möglich, dass Erlebnisse das Erbgut verändern? 
Umwelteinflüsse ändern nicht die DNA, also das Erbgut selbst, sondern lediglich das Schaltprogramm des Erbgutes. Die DNA im Zellkern ist sehr eng verpackt. Diese DNA-Verpackung kann durch äußere Einflüsse verändert werden. Das geschieht, indem sich kleine chemische Moleküle an die DNA und Proteine anhängen, die aber auch wieder entfernt werden können. Dadurch können Gene markiert und an- oder abgeschaltet werden. Jede Körperzelle nutzt immer nur die Gene, die sie für ihre Arbeit benötigt. Die sogenannte Epigenetik betrachtet Umwelteinflüsse als Einflussfaktoren für Veränderungen der DNA-Verpackung. 

Bleiben solche Veränderungen bei der Zellteilung erhalten? 
Ja. Das ist für die Funktion eines Organismus wichtig. Während der Zellteilung liegt ein Gen in einem bestimmten Zustand vor. Das bedeutet, ein bestimmter Bereich der DNA ist für die Zelle zugänglich. Sie kann die Abfolge der DNA-Basen, also das Gen, ablesen und sich die genetische Information zunutze machen, beispielsweise um Proteine herzustellen. Bei der Zellteilung erhalten die Tochterzellen denselben Ablesezustand wie die Ausgangszelle. Ist die DNA vorher modifiziert worden, werden diese Zustände auf den neuen, kopierten DNA-Strang übertragen. Auch die Art und Weise, wie die DNA im Zellkern verpackt ist, eng und dicht oder locker, wird in den Tochterzellen rekonstruiert. 

Werden die Erbgut-Veränderungen an die Nachkommen übertragen? 
Epigenetische Informationen werden bei Säugetieren in der Regel nicht über Generationen vererbt. Bei Pflanzen gibt es gut beschriebene Beispiele, aber das hängt mit der völlig anderen Bildung der Geschlechtszellen zusammen. Beim Wurm C. elegans findet unter bestimmten Umständen eine Vererbung der epigenetischen Informationen statt. Bei Säugern gibt es das – wenn überhaupt – nur zu einem verschwindend geringen Anteil. Denn bei der Bildung von Eizelle und Samenzelle und bei der Befruchtung wird die epigenetische Information komplett zurückgesetzt. Möglicherweise bleibt ein Hauch der epigenetischen Information aus der vorangegangenen Generation übrig. 

Gibt es Beispiele? 
Ja, aus Experimenten. Bei Mäusen gibt es unterschiedliche Möglichkeiten, wie ein Gen abgelesen werden kann. Hier kann man stellenweise eine Vererbung erkennen, die über Generationen hinweg besteht. Das sind aber Ausnahmebeispiele unter besonderen Umständen in speziellen Experimenten. Dort zeigte sich, dass Töchter von männlichen fettleibigen Mäusen oder von Mäusen, die während ihrer Embryonalentwicklung hungerten, eine leichte Neigung zu diabetesähnlichen Symptomen hatten. 

Warum forschen Sie über Epigenetik? 
Ich möchte verstehen, wie Gene abgelesen werden und wie sich die Zelle der genetischen Information bedient. Mich interessiert, wie das Erbgut im Zellkern organisiert ist und wieso es zu bestimmten Zeiten abgelesen wird und manchmal stillgelegt ist. 

Ist die Epigenetik auch von medizinischer Bedeutung? 
In der Tat. Alterungsprozesse gehen mit epigenetischen Veränderungen einher. Eine wichtige Frage ist, ob man solche Alterungsprozesse beeinflussen oder verlangsamen kann. Es gibt Substanzen, die lebensverlängernd wirken können, und es gibt Entwicklungen von epigenetischen Medikamenten, die beispielsweise in der Krebstherapie eingesetzt werden sollen. Viele dieser Wirkstoffe werden bereits klinisch getestet.


Es gibt Beispiele dafür, dass Hunger, Stress und Traumata zu Veränderungen im Embryo führen können, die ein Leben lang Folgen haben. Können diese Veränderungen an die Nachkommen vererbt werden? 
Das Thema kam durch die Untersuchungen der Kinder aus dem niederländischen Hungerwinter 1944/45 auf und geht seither immer wieder durch die Medien. Das Entscheidende ist, dass diese Kinder der Hungersnot direkt ausgesetzt waren. Sie waren zwar noch nicht geboren, doch ihre Mütter hungerten. Das beeinflusst die Ungeborenen ähnlich stark, wie wenn die Mutter raucht oder Alkohol trinkt. Solche Kinder kommen mit Nachteilen zur Welt, die ein Leben lang bestehen bleiben können. Aber ich würde den Hungerwinter nicht als Auslöser für eine über Generationen hinweg bestehende Vererbung bezeichnen. 

Auch die Kinder dieser Kinder, also die Enkel der Mütter aus dem Hungerwinter, zeigen Auffälligkeiten. Wie ist das möglich? 
Wir reden hier über eine statistisch leicht erhöhte Neigung zu Übergewicht, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Diabetes in dieser Generation. Manche betrachten das als Vererbung epigenetischer Veränderungen. Letztlich waren aber auch die Enkel dem Hunger ausgesetzt. Denn die Eizellen der Töchter waren bereits angelegt, als diese noch im Bauch der hungernden Mütter waren. Eizellen entstehen schon sehr früh in der Embryonalentwicklung. Man müsste im Grunde noch eine Generation abwarten, um die Situation beurteilen zu können. 

Stimmt es, dass mit der Epigenetik ein „zweiter Code des Lebens“ vorhanden ist, der das Konzept der klassischen Genetik infrage stellt? 
Wenn sich eine Eizelle zu einem fertigen Organismus entwickelt, laufen viele epigenetische Prozesse ab. Diese sind genetisch programmiert und nicht durch äußere Einflüsse gelenkt. Manche Ausprägungen können wir aber durch Ernährung oder Sport beeinflussen. Ein Beispiel dafür ist die Körpergröße. Sie ist zu 70 bis 80 Prozent genetisch bedingt, der Rest wird durch die Ernährung gesteuert, die dann epigenetische Prozesse verursacht. Viele Erkrankungen entstehen so. Der Effekt der Umwelteinflüsse ist mal stärker, mal schwächer. Epigenetik geht über Genetik hinaus. Aber letztlich geht es darum, vorhandene Gene variabel zu steuern. 

Wie kommentieren Sie die aktuelle Debatte über Epigenetik?
Die Hungerstudie ist überinterpretiert. Und Firmen, die über das Internet Nahrungsergänzungsmittel oder Vitamincocktails verkaufen und behaupten, damit epigenetische Veränderungen hervorzurufen, sind nicht ernst zu nehmen. Tatsächlich gibt es epigenetisch wirkende Medikamente, die ein Umlegen der Schalter hemmen. Das ist auf jeden Fall ernst zu nehmen. Diese Wirkstoffe können Genmutationen nicht rückgängig machen, aber die epigenetischen Mängel und die daraus entstehenden Erkrankungen abschwächen oder verlangsamen. Die Epigenetik ist von Bedeutung für unsere Gesundheit. 


Einstein-Professur
Seit 2013 ist Ann Ehrenhofer-Murray Einstein-Professorin für Molekulare Zellbiologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Mit dem Programm „Einstein-Professur“ unterstützt die Einstein Stiftung Berufungen von international herausragenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern an Berliner Universitäten und die Charité-Universitätsmedizin. Weitere Informationen zur Förderlinie finden Sie hier.


Interview: Ludger Weß
Quelle: bild der wissenschaft (bdw 1-2020)