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Die verkaufte Gesellschaft

Foto: Moritz Vennemann

Am 21. November war die einflussreiche Intellektuelle Nancy Fraser zu Gast in einem früheren Berliner Supermarkt. Dort diskutierte sie im Rahmen der Veranstaltungsreihe "Meeting Einstein" mit Wissenschaftlern und der Berliner Öffentlichkeit ihre neusten Forschungen auf dem Gebiet der Gesellschafts- und Kapitalismuskritik.
 

Christian Lammert vom John-F.-Kennedy-Institut (FU Berlin), der Gastinstitution Nancy Frasers in Berlin, musste nur wenige Worte verlieren, um die US-amerikanische Politikwissenschaftlerin dem Publikum vorzustellen. Viele der rund 180 Gäste, die auf Einladung der Einstein Stiftung Berlin in den „Supermarkt“ an der Brunnenstraße gekommen waren, kannten die amerikanische Politikwissenschaftlerin bereits aus Medien oder Hochschule. „Dass Nancy Fraser eine außerordentlich bedeutende Wissenschaftlerin ist, zeigen schon allein zwei Sektionen in ihrem Lebenslauf: ‚Bücher über meine Arbeit’ und ‚Weiterführende Diskussionen über meine Arbeit’“, so Christian Lammert. „Beide Sektionen sind keineswegs kurz.“

Nancy Fraser ist seit 2011 Einstein Visiting Fellow in Berlin – und das ist nicht nur für die Stadt, sondern auch für sie selbst ein Gewinn. „Aus meiner Sicht ist das Programm Einstein Visiting Fellows ein großer Erfolg“, sagte Nancy Fraser. „Im John-F.-Kennedy-Institut habe ich ein perfektes Zuhause für meine Forschung gefunden.“

Eine Diskussion außerhalb der Universität passte ganz zu ihrem wissenschaftlichen Anspruch, „die Situation zu verstehen, in der wir alle leben“ – und zu dieser Situation gehören derzeit die Folgen der Finanzkrise. In ihrem einführenden Referat machte Nancy Fraser deutlich, dass sie die derzeitige Krise nicht einfach als Wirtschaftskrise versteht, sondern als dreifache Krise in den Bereichen der Ökologie, der Schattenökonomie des Finanzkapitals und der sozialen Reproduktion. Die gemeinsame Quelle aller drei Krisen sieht sie in der Tiefenstruktur des Kapitalismus und seinem Prinzip der „fiktiven Kommerzialisierung“ – ein Begriff, den sie von dem ungarischen Ökonomen Karl Polanyi (1886 – 1964) übernommen hat. „Durch den freien, also unregulierten Markt wird die Gesellschaft immer stärker kommerzialisiert“, so Nancy Fraser mit Bezug auf Polanyi. Damit zeichnet der entfesselte Kapitalismus aber seine eigene Grenze – und damit sein eigenes Ende – voraus. Die Theorie der fiktiven Kommerzialisierung kann also nicht nur die aktuelle Krise, sondern die Unbeständigkeit des Kapitalismus überhaupt erklären.

„Um die Gründe der aktuellen Krise zu verstehen, muss man einen historischen Blickwinkel einnehmen und berücksichtigen, welche Probleme des Kapitalismus sich schon zu Polanyis Lebzeiten abzeichneten“, stimmte der Historiker Alexander Nützenadel von der Humboldt-Universität zu Berlin (HU) Nancy Fraser zu.

Kritische Töne äußerten hingegen die Philosophin Rahel Jaeggi (HU) und ihr chinesischer Fachkollege Tong Shijun (Shanghai Academy of Sciences). Rahel Jaeggi war besorgt, dass in Polanyis Theorie die normative Kapitalismuskritik zu kurz kommt. „Ob der Kapitalismus sich selbst widerspricht, ist die eine Frage. Die andere und wichtigere ist jedoch, in welcher Welt und mit welcher Wirtschaftsform wir überhaupt leben wollen.“ Tong Shijun vertrat insgesamt eine optimistischere Sicht auf den Kapitalismus: „Die Finanzkrise ist nichts anderes als ein Fehler in einem heute wie früher enorm erfolgreichen Wirtschaftssystem.“

Text: Julia Walter