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Ein Transfer, der begeistert: Hélène Esnault

Foto: Pablo Castagnola

 

Noch gibt es nicht vieles im neuen Büro von Hélène Esnault. Einen Stuhl, einen Tisch, einen freien Blick ins Grün einer Pappel vor dem Fenster. Dafür gibt es jede Menge zu organisieren. Unter welcher Telefonnummer ist die Mathematikprofessorin mit dem Schwerpunkt Zahlentheorie an der Freien Universität zu erreichen? Welche Bewerber könnten in die Forschergruppe der neuen Einstein-Professorin passen? Haben alle Mitarbeiter schon Tische und Internetzugang? „So ein Transfer ist immer kompliziert“, sagt Esnault.

Ein Transfer, der in der Berliner Wissenschaftslandschaft ähnlich begeistert gefeiert wurde wie anderswo höchstens ein Neuzugang im Profifußball: Hélène Esnault gilt als eine der wichtigsten Mathematikerinnen der Welt. Am ersten Oktober hat die 59-jährige Mathematikerin die erste Einstein-Professur an der Freien Universität angetreten. Mit ihrer Arbeit zur Zahlentheorie soll sie einen Bereich der Mathematik ausbauen, der bisher noch nicht zu den Forschungsschwerpunkten in Berlin zählte. Ein Umstand, den die gebürtige Französin ändern möchte. „Berlin, vor allem Ostberlin, hatte in diesem Bereich eine lange Tradition“, erklärt Esnault.

In ihrer Forschung bewegt sie sich in einem Grenzgebiet. Die Diophantische Mathematik liegt zwischen Zahlentheorie und Algebraischer Geometrie. Mit dem vergleichenden Blick zwischen den Disziplinen der Reinen Mathematik gelang es Esnault, einige ungelöste Fragen der Mathematik entscheidend voranzubringen.

"Es ist wie in der Liebe"

„Man zieht quasi Analogien. Man kann dann versuchen, Erkenntnisse aus der Geometrie und der Topologie in die Arithmetik zu übertragen – und umgekehrt. So lassen sich manchmal auch Probleme lösen, die vorher unerreichbar schienen“, erklärt die Wissenschaftlerin. Und knüpft daran eine Liebeserklärung an das abstrakte Gebiet der Mathematik: „Man entdeckt immer wieder neue Aspekte eines Bereichs, neue Fragen, das Geheimnis bewegt sich immer. Es ist wie in der Liebe.“

Die Liebe zur Reinen Mathematik entdeckte Esnault schon früh. Nach dem Studium der Mathematik an der Pariser Elite-Universität École Normale Supérieure (ENS) und ihrer Promotion arbeitete sie zunächst als Assistentin an der Universität Paris VII und kam 1983 als Gastwissenschaftlerin an das Max-Planck-Institut für Mathematik in Bonn – eines der wichtigsten Forschungszentren für Reine Mathematik. Nach der Habilitation und weiteren Stationen in Paris und Bonn übernahm Esnault 1990 die Professur für Analytische Geometrie an der Universität Duisburg-Essen.

Licht ins Dunkel noch unerforschter Mathematik bringen

Auch ihr Mann Eckart Viehweg hatte dort bis zu seinem Tod 2010 einen Lehrstuhl für Mathematik inne. Gemeinsam bauten sie den Fachbereich aus und verhalfen ihm zu internationalem Renommee. 2003 erhielten beide Forscher gemeinsam den Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der als wichtigster Wissenschaftspreis Deutschlands gilt. „Das war sicher die Auszeichnung, die am meisten in Bewegung gesetzt hat“, sagt Esnault heute. Forschungsgelder, Kooperationen, Förderungen – auf einmal war in diesem Bereich mehr möglich als zuvor.

Dass ihr Name gerne in Verbindung mit dem Begriff „Koryphäe“ genannt wird, dazu sagt Hélène Esnault einfach: „Das ist sehr freundlich.“Anstelle eines weiteren Kommentars zitiert sie lieber den belgischen Mathematiker Pierre Deligne, an dem sie nicht nur sein Werk, sondern auch seine Analogien für die mathematische Forschung schätzt. „Wir können nur dort etwas erkennen, wo Licht ist.“ Wenn also bereits Licht in einem anderen Gebiet der Mathematik sei, versuche man dort analoge Schlüsse zu ziehen – um auch etwas zu sehen, wo es noch dunkel ist. „Wenn einem das gelingt, ist das eine riesige Freude, die das Leben zutiefst prägt.“

Text: Christine Schreiber
Mit freundlicher Genehmigung der Autorin. Der Artikel erschien erstmalig am 18. Oktober 2012 im Online-Magazin campus.leben der Freien Universität Berlin.