Interview mit Prof. Dr. Marcus Mall

Lieber Herr Mall, wie geht es Ihnen, vor allem im Hinblick auf die Corona-Pandemie?


Persönlich geht es mir gut. Beruflich und familiär ist das natürlich eine große Herausforderung. Beruflich dahingehend, dass wir die Kinderklinik der Charité auf die befürchtete Überlastung vorbereiten und die Krankenversorgung weitgehend umstrukturieren mussten. Das war eine völlig neue organisatorische Herausforderung. Familiär ist es so, dass seit über zwei Monaten drei Schulkinder zuhause sitzen. Die sind zwar schon in einem Alter, in dem sie die Schulsachen weitgehend selbst erledigen können, aber man merkt, dass die fehlende Möglichkeit, in die Schule zu gehen und Freunde zu treffen, auch für die Kinder eine gewisse Belastung darstellt.


Und wie genau hat sich ihr Alltag geändert?


Ich bin stark in das Pandemiemanagement der Klinik eingespannt. Die reguläre Krankenversorgung war über mehrere Monate deutlich reduziert. Im Wissenschaftsbetrieb wurden die Forschungsarbeiten deutlich eingeschränkt und es wurden alle Veranstaltungen und Kongresse abgesagt. Das hat meinen beruflichen Alltag wirklich verändert, zumal der persönliche Austausch mit anderen Wissenschaftlern fehlt, auch wenn wir uns per Telefon- und Videokonferenzen verständigen.


Was für Auswirkungen hat die Corona-Krise explizit auf Ihre Forschungstätigkeit?


Auch an der Charité wurde die Präsenzforschung zeitweise eingestellt. Wir konnten allerdings in begründeten Ausnahmefällen weiter forschen – insbesondere rund um das Corona-Virus. Die Forschung an vielen anderen Projekten ist weiterhin deutlich eingeschränkt. Beispielsweise arbeiten wir im Moment gemeinsam mit Kollegen der University of California in San Francisco im Rahmen eines von National Institute of Health geförderten Projekts an der präklinischen Testung eines neuen schleimlösenden Wirkstoffs für Patienten mit Mukoviszidose und andere chronische Lungenerkrankungen. Durch die derzeitige mehrmonatige Einschränkung und Verzögerung unserer Arbeiten in der frühen Entwicklungsphase könnte sich die Verfügbarkeit einer möglichen neuen Therapie für Patienten um mehrere Jahre verzögern. Ein anderes Beispiel ist eine Studie zur frühen Entwicklung der Lungenerkrankung in einer großen Kohorte von Kindern mit Mukoviszidose, bei welchen die Erkrankung schon in den ersten Lebenswochen diagnostiziert wurde. Hierzu werden die Kinder regelmäßig und sehr genau untersucht. Weil aber auch hier aufgrund der Corona-Pandemie viele Untersuchungen ausfallen mussten, wird es unter Umständen schwierig werden, die Ergebnisse der Studie sinnvoll auszuwerten und zu interpretieren. Ein drittes Beispiel ist der Start einer Medikamentenstudie für eine neue Therapie der Atemwegsentzündung. Hier liegen uns zwar schon alle Genehmigungen und eine Finanzierungszusage vor, diese Studie konnte aufgrund der Corona-Pandemie bislang aber nicht gestartet werden und wird auch in Zukunft vielleicht nicht mehr durchführbar sein, weil durch die Verzögerung neue Kosten entstanden, die nicht abgedeckt sind.


Sind Sie konkret in eine Forschungseinheit für das Corona-Virus involviert?


Ja, aufbauend auf unseren Arbeiten am Atemwegsepithel bei Mukoviszidose untersuchen wir beispielsweise, wie das neue Corona-Virus Atemwegsschleimhautzellen infiziert und welche Mechanismen eine Rolle spielen könnten, diese Infektion zu verhindern. In einem weiteren Projekt versuchen wir in einem interdisziplinären Team gemeinsam mit Infektiologen, Immunologen und Grundlagenwissenschaftlern zu verstehen, warum die Krankheitsverläufe bei Kindern und Erwachsenen nach einer Corona-Infektion so unterschiedlich sind. Ich denke, der schnelle Zusammenschluss von WissenschaftlerInnen aus so vielen unterschiedlichen Fachbereichen, um mit vereinten Kräfte an einer neuen Erkrankung zu arbeiten, ist ein positiver Nebeneffekt dieser Pandemie.


Behandeln Sie derzeit auch Kinder, die sich mit Corona infiziert haben?


Wir haben seit Beginn der Pandemie an der Charité nur wenige Kinder und Jugendliche behandelt, die mit dem neuen Corona-Virus infiziert waren und bei keinem davon hat sich eine schwere Covid-19-Lungenerkrankung entwickelt, die wir vor allem bei älteren erwachsenen Patienten mit Risikofaktoren wie Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder chronischen Lungenerkrankungen sehen. Das sind bislang auch die Erfahrungen der anderen Kliniken in Deutschland. Wenn Kinder Krankheitszeichen entwickeln, dann sind es meistens Fieber, Kopf- und Halsschmerzen, seltener Husten, aber schwere Lungenerkrankungen, die zu einer Beatmung oder gar zum Tod führen, das sehen wir bei Kindern praktisch nicht. Wissenschaftlich ist das hoch interessant und eines der Themen, mit denen wir uns aktuell beschäftigen.


In Frankreich oder in den USA gab es Berichte von schweren Entzündungen bei Kindern, die auch mit dem sog. Kawasaki-Syndrom in Verbindung gebracht wurden. Könnte dies mit dem Coronavirus zu tun haben? Wie ist Ihre Einschätzung?


Das sollte man mit Vorsicht interpretieren, da nur bei einem Teil der betroffenen Kinder und Jugendlichen  das neue Corona-Virus nachgewiesen konnte. Das Kawasaki-Syndrom ist schon länger bekannt und es wurde in früheren Untersuchungen vor allem in Japan beobachtet, dass die Häufigkeit im Rahmen von Grippe-Epidemien zunimmt. Es ist also denkbar, dass auch das neue Corona-Virus bei empfänglichen Kindern eine besonders starke Entzündungsreaktion bis hin zum Kawasaki-Syndrom auslöst. Ein kausaler Zusammenhang mit spezifischen Virusinfektionen konnte bislang aber nicht nachgewiesen werden. Wir haben in Deutschland mehrere Hundert Fälle dieser Erkrankung pro Jahr. Im Moment scheinen  in Großbritannien beispielsweise sogar weniger Kawasaki-Fälle aufzutreten als sonst in dieser Jahreszeit.


Glauben Sie, dass die aktuelle Forschung rund um das Corona-Virus auch Auswirkungen für die Lungenforschung haben wird?


Das hoffe ich natürlich sehr. Lungenerkrankungen sind sowohl medizinisch als auch sozioökonomisch gesehen von großer Bedeutung. Wenn man die WHO-Todesursachenstatistik betrachtet, sieht man, dass es sich bei vier der Top-Ten-Killer der Menschheit um Lungenerkrankungen handelt. Hierzu gehören die chronisch-obstruktiven Lungenerkrankungen, Lungenentzündungen, Lungenkrebs und die Tuberkulose. Im Vergleich zu Krebserkrankungen oder Herzkreislauferkrankungen wurde bislang jedoch vergleichsweise wenig zur Lunge geforscht und es standen auch international deutlich weniger Forschungsmittel zur Verfügung. Ich gehe aber davon aus, dass diese Pandemie die Lunge und die Bedeutung der Lungenforschung in den Fokus rücken wird. Zudem glaube ich, dass sich neue Erkenntnisse zur Entstehung und zum Verlauf der COVID-19-Lungenerkrankung zumindest teilweise auf andere akute und chronische Lungenerkrankungen übertragen lassen werden können.


Sie wollten schon seit Längerem ein Zentrum für besonders seltene Lungenerkrankungen an der Charité ausbauen. Glauben Sie, dass die aktuelle Situation diesem Vorhaben einen zusätzlichen Schub geben wird?


Wir sind bereits auf einem ganz guten Weg. Ausgehend von der Mukoviszidose, kümmern wir uns in Berlin vermehrt um Kinder und Jugendliche mit anderen seltenen Lungenerkrankungen. Da wäre zum Beispiel die sogenannte primäre Ziliendyskinesie, bei der die sogenannten Zilien, die kleinen Flimmerhärchen auf der Oberfläche unserer Atemwege, die Schleim und inhalierte Bakterien, Viren und Schadstoffe aus der Lunge abtransportieren, nicht richtig funktionieren. Das führt dann zu einer chronischen Verschleimung und Infektion der Atemwege, und über die Zeit zu einer fortschreitenden Schädigung der Lunge. Darüber hinaus gibt es auch seltene Lungenerkrankungen, bei denen nicht primär die Atemwege betroffen sind, sondern das Lungengewebe, zum Beispiel die sogenannte Lungenfibrose. Bei diesen Erkrankungen wird zu viel Bindegewebe gebildet, das Lungengewebe vernarbt zunehmend und die Lunge kann letztendlich keinen Sauerstoff mehr aufnehmen. Bei Kindern und Jugendlichen existieren seltene Formen dieser Krankheit, welche durch eine Reihe von Gendefekten verursacht werden können, oft bleibt die Ursache jedoch unbekannt. Auch mit diesen seltenen Lungenerkrankungen möchten wir uns in Zukunft verstärkt beschäftigen.


Worin besteht der Unterschied zwischen pädiatrischer Pneumologie und Pneumologie bei Erwachsenen und bis wann gilt eine Lunge noch als Kinderlunge?


Das Spektrum an Lungenerkrankungen bei Kindern und Erwachsenen unterscheidet sich erheblich. Häufige chronische Lungenerkrankungen bei Erwachsenen sind die Raucherlunge (COPD), das Bronchialkarzinom – eine der nach wie vor häufigsten und am schwersten behandelbaren Krebserkrankungen – und die sogenannte ideopathische Lungenfibrose. Auch die Untersuchungsmethoden zum Beispiel der Lungenfunktion sind im Kindesalter ganz anders als im Erwachsenenalter. In der Regel behandeln wir die Kinder und Jugendlichen bis zur Volljährigkeit, bei schweren angeborenen Lungenerkrankungen wie der Mukoviszidose behandeln wir die Betroffenen auch altersübergreifend bis ins Erwachsenenalter. Neuere Untersuchungen deuten darauf hin, dass sich die Lunge viel länger entwickelt als man bisher gedacht hat. Die Mechanismen der Lungenentwicklung spielen wahrscheinlich auch eine wichtige Rolle bei Regenerations- und Reparaturvorgängen nach akuter oder chronischer Lungenschädigung.


Sie sind 2018 nach Berlin gekommen. Warum haben Sie sich für Berlin entschieden bzw. welche besondere Bedeutung hat die Stadt für Ihre Forschung?


Im Vordergrund stand zunächst mein Interesse an der pädiatrischen Pneumologie und Immunologie. An der Charité gibt es eine der wenigen eigenständigen Kliniken mit diesen Schwerpunkten in Deutschland. Die Möglichkeit, die Leitung dieser renommierten Klinik zu übernehmen und die Krankenversorgung und Forschung auf meinem Spezialgebiet unter einem Dach zu vereinen, war natürlich hoch attraktiv. Inzwischen habe ich die Berliner Forschungslandschaft auch über die Charité und das BIH hinaus besser kennengelernt und bin davon überzeugt, dass dieses stimulierende Umfeld mit seiner modernen Infrastruktur und exzellenten Kooperationsmöglichkeiten ein hervorragender Standort ist, um unsere Forschungsarbeiten an der Mukoviszidose und anderen schweren Lungenerkrankungen bei Kindern und Jugendlichen voranzubringen, Krankheitsmechanismen besser zu verstehen und die Diagnostik und Therapie zu verbessern. 

 

Interview: Maike Huckschlag
Juli 2020