Craig Calhoun widmet sich der Öffentlichkeit in all ihren Facetten: In den letzten 30 Jahren prägte der US-amerikanische Soziologe die Forschung zu politischem Protest, Nationalismus und Machtstrukturen nachhaltig. Als Einstein Visiting Fellow hat Craig Calhoun in der Berlin Graduate School of Social Sciences zwei Arbeitsgruppen aufgebaut. Von 2012 bis 2016 war Craig Calhoun Direktor der London School of Economics and Political Sciences (LSE), die zu den fünf britischen Spitzenuniversitäten zählt.
»Die großen Fragen unserer Zeit verstehen«
Ich habe immer ein emotionales Verhältnis zu meiner Arbeit gehabt, nicht nur ein rein intellektuelles Bedürfnis, den Dingen auf den Grund zu gehen. Das ist mir vor allem bei den Protesten auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1989 in China so gegangen, als ich an Ort und Stelle mit den Studenten gesprochen habe. Ich fühlte eine große Verbundenheit mit ihnen und eine moralische Verpflichtung, dem Rest der Welt verständlich zu machen, was dort vor sich ging. Seitdem habe ich es mir zum Prinzip gemacht, meine Arbeit an die Öffentlichkeit zu bringen.
Eine wichtige Lektion in dieser Hinsicht war der 11. September 2001 mit den Angriffen auf das World Trade Center. Wir haben damals führende Sozialwissenschaftler gebeten, die Bedeutung dieses Ereignisses in kurzen, verständlichen Abhandlungen zu erläutern. Wie funktioniert das Netzwerk der Untergrundbewegung Al-Kaida? Mit welchen Risiken ist eine Invasion in den Irak verbunden? Wie sieht der Krieg heutzutage aus und welche Rolle spielen die Medien dabei? Diese Essays wurden von mehr als anderthalb Millionen Menschen weltweit heruntergeladen.
Das war der Startschuss für unsere sozialwissenschaftliche Forschung „in Echtzeit“. Wir untersuchen seither Probleme von großer Tragweite noch während sie sich ereignen, etwa die sozialen Begleiterscheinungen von Hurrikan Katrina. Ich versuche andere Sozialwissenschaftler davon zu überzeugen, ihre Erkenntnisse auch in aktuelle Debatten einzubringen. Auch wenn Langzeitstudien natürlich weiterhin wichtig bleiben.
Am spannendsten ist für mich die Frage, wie individuelle Wünsche und Werte in kollektives Handeln „übersetzt“ werden. Warum ist es zum Beispiel so schwierig, unsere Regierungen dazu zu bringen, Armut zu beseitigen oder auf den Klimawandel zu reagieren? Mit meiner Einstein-Forschergruppe in Berlin untersuche ich, wie einander fremde Menschen ihr soziales Miteinander organisieren und welche Rolle physische Orte bei diesem sozialen Prozess spielen. Diese Arbeit wollen wir auch auf das Thema Migration ausdehnen.
Ich bin der Überzeugung, dass die Sozialwissenschaften Erkenntnisse liefern, die relevant sind für das Leben der Menschen. Doch Sozialwissenschaftler müssten sich stärker einbringen, damit die öffentliche Debatte informierter verläuft und das empirische Wissen zu den großen Fragen unserer Zeit allgemeiner bekannt wird. Ich betrachte es als unsere Pflicht, eine breite Öffentlichkeit zu erreichen.
Video: Mirco Lomoth
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