#32 - Paul Gellert
Wie kann unsere Gesellschaft erfolgreich altern?
Wie kann unsere Gesellschaft erfolgreich altern?
Intro: Welche Ziele setze ich mir im Alter? Weniger als natürlich im mittleren Erwachsenenalter. Optimierung. Ich setze mehr Energie in die gleichen Ziele und übe mehr beispielsweise. Oder Kompensationen. Sachen, die vielleicht früher geklappt haben, mache ich jetzt etwas anders, hole mir Hilfe, auch digitale Unterstützung, operative Unterstützung, ja, und erreiche so meine Ziele. AskDifferent, der Podcast der Einstein Stiftung.
Anton Stanislawski: Mit Anton Stanislawski. Hallo. Vater, Mutter, Kind. Alle leben zusammen unter einem Dach. Die Ehe hält natürlich ein Leben lang. Vielleicht kommen irgendwann noch ein paar Geschwisterchen dazu. Die Großeltern passen ab und an auf die Kinder auf. Im Garten hängt eine Schaukel. Der Hund hat genug Platz zum Spielen.
Das ist so das klassische Bild der Kernfamilie aus den Bilderbüchern. Ist natürlich längst nicht mehr alternativlos. Unsere Gesellschaft, die verändert sich und damit auch die Familie. Zum Vater-Mutter-Kind-Modell sind eine ganze Menge neuer Lebensweisen dazugekommen. Es gibt mehr und mehr Single-Haushalte, Patchworkfamilien, offene Beziehungsformen. Co-Parenting ist aktuell ein großes Stichwort.
Das ist das eine, aber dazu kommen ja noch demografische Entwicklungen. Wie leben wir zusammen in den verschiedensten Familienmodellen, die ich grad so umrissen habe, wenn wir alle immer älter werden? Diese Fragen erforscht mein heutiger Gast, Professor Paul Gellert von der Charité. Hallo, schön, dass Sie extra zu uns ins Studio gekommen sind.
Paul Gellert: Ja, ich freu mich, hier zu sein.
Stanislawski: Sie sind Professor für Gerontologie, genauer sozial- und verhaltenswissenschaftliche Gerontologie. Sie beschäftigen sich also mit dem Altern. Ein Fokus sind dabei, habe ich gelesen, die Bedingungen erfolgreichen Alterns. Was heißt das denn? Wie verstehen Sie das, erfolgreich zu altern?
Gellert: Dieser Begriff des erfolgreichen Alterns kommt eigentlich aus dem angloamerikanischen Bereich von „successful ageing“ und übersetzt sich ins Deutsche recht sperrig, sodass wir den Begriff des erfolgreichen Alterns, wenn wir mit Menschen, gerade mit älteren Menschen sprechen, selten verwenden und eher von gutem Altern sprechen.
Stanislawski: Und was heißt das dann, gutes Altern?
Gellert: Da gibt es verschiedene theoretische Ansätze, die auch diverse Dekaden hinter sich haben. Aber aktuell schaut sich die führende Theorie zum erfolgreichen Altern das erfolgreiche Alter nach drei Kategorien an. Das eine ist, ob eine Abwesenheit von Erkrankungen oder Risikofaktoren für Erkrankung vorliegt. Das ist der erste Faktor. Der zweite Faktor ist, ob ein hohes Funktionsniveau im Alltag vorliegt gerade was die geistigen Fähigkeiten, aber auch was die körperlichen Fähigkeiten angeht. Und das dritte wäre soziale Eingebundenheit.
Stanislawski: Geht es auch darum, Parameter herauszufinden, was ein besonders langes Leben begünstigt? Also da gibt's ja die verschiedensten Formeln, die wo ältere Menschen eben drauf schwören, viel frische Luft, viel Sport. Geht's auch darum in Ihrer Forschung?
Gellert: Ja, wir versuchen zumindest Risikofaktoren für Erkrankungen zu identifizieren und die gehen ganz stark entlang dieser drei Kategorien des erfolgreichen Alterns. Also soziale Eingebundenheit, Risikofaktoren, natürlich die Einsamkeit. Diese Parameter, die erforschen wir natürlich, Risikofaktoren oder begünstigende Faktoren für ein langes Leben, Verhaltensweisen, die eben ein längeres Leben begünstigen. Das sind Ernährung, körperliche Aktivität, guter Schlaf, wenig Stress. Alle die man sich auch für die Einzelerkrankung vorstellen kann, die einem gesunden, erfolgreichen Alter zugrunde liegen können. Aber wir schauen uns auch ganz klar psychologische Faktoren an. Das sind beispielsweise von den neueren Theorien des erfolgreichen Alterns Zielsetzungsprozesse und Zielerreichungsprozesse, also Selektion, welche Ziele setze ich mir im Alter – weniger als natürlich im mittleren Erwachsenenalter. Optimierung, ich setze mehr Energie in die gleichen Ziele und übe mehr beispielsweise. Oder Kompensationen. Sachen, die vielleicht früher geklappt haben, mache ich jetzt etwas anders, hole mir Hilfe, auch digitale Unterstützung, operative Unterstützung und erreiche so meine Ziele.
Stanislawski: Grade haben Sie Ihre Arbeit aufgenommen als Direktor vom Einstein Center Bevölkerungsvielfalt. Sie wollen dort, wenn ich es richtig verstanden hab, mit einem interdisziplinären Team untersuchen, wie sich aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen, wir haben grad schon über immer Älterwerden der Gesellschaft gesprochen, wie sich das auf Familien auswirkt. Welche Erkenntnisse erhoffen Sie sich denn von dieser Arbeit?
Gellert: Also das Besondere an dem Einstein Center ist, dass wir hier ganz interdisziplinär zusammenarbeiten. Es gibt ja in Berlin aktuell sieben Einstein Center zu im Wesentlichen biomedizinischen und auch anderen Themen, aber es gibt bisher kein wirklich sozialwissenschaftlich getriebenes Center. Und was wir uns erhoffen, ist, dass wir durch die diesen Fokus auf die Sozialwissenschaften Demografie, Soziologie, Psychologie und dann in der Kombination mit biomedizinischer Expertise, die wir ganz klar mit unter den Principle Investigators, also den leitenden Personen in diesem Einstein Center haben, dass wir in dieser Kombination eben die Mechanismen zwischen Diversität, Familiendiversität und Bevölkerungsdiversität auf der einen Seite und dann verschiedenen Formen von Ungleichheit aufspüren können.
Stanislawski: Jetzt kam das Stichwort Ungleichheit, was versuchen Sie da zu erforschen?
Gellert: In meiner Forschung ganz konkret schauen wir uns im Wesentlichen gesundheitliche Ungleichheiten an, also wie in verschiedenen Schichten der Bevölkerung Gesundheit verteilt ist, ungleich verteilt ist. Aber wir werden uns in dem Center auch, und das ist das Interdisziplinäre, Bildungsungleichheiten und sozioökonomische Ungleichheiten anschauen.
Stanislawski: Dabei geht's aber eben vor allem immer die Familie als Dreh- und Angelpunkt ihrer Forschung.
Gellert: Ganz genau. Wir schauen uns die Bevölkerungsdiversität oder die Bevölkerungsvielfalt an, also Unterschiede in Identitäten, Migrationshintergrund, Bildung, Geschlechtsverteilung und wie die mit Formen von Gesundheit und gesundheitlicher Ungleichheit, Bildung und Bildungsungleichheit und sozioökonomischen Faktoren zusammenhängen, aber eben durch das Prisma, das nehmen wir als eine Metapher, der Familie. Das heißt, alle diese Faktoren, also Migrationshintergrund, wie leben wir zusammen, das bricht sich alles wie ein Spektrum in einem Prisma, und wir sehen möglicherweise diese Unterschiede dann besser durch dieses Prisma der Familie.
Stanislawski: Ist die Familie ja, ich hab's anfangs erwähnt, eben einen Begriff, der sich stetig wandelt. Was verstehen wir denn heute überhaupt unter Familie? Wie verstehen Sie den Begriff?
Gellert: Also wir definieren Familie als eine Institution, die über rechtliche, emotionale Austauschprozesse miteinander in Verbindung steht, in deren Care-Arbeit, also Pflegearbeit für Kinder, aber möglicherweise auch für ältere Erwachsene oder eben eine Kinderlosigkeit, existiert, gern aber auch Intergenerationalität, also mehrere Generationen leben zusammen, dass diese Bedingungen bestehen. Und wenn man genauer reinschaut, findet man natürlich, dass sich in Grenzsituationen – erweiterten Familien, Regenbogenfamilien und so weiter – diese Definition dann erschöpft. Und genau das ist auch ein Teil des Einstein Centers, dass wir eine Arbeitsdefinition verwenden, deren Grenzen wir kennen, aber deren Grenzen wir auch sukzessive in den nächsten Jahren überschreiten wollen.
Stanislawski: Wie stark ist denn dieses Ideal der der Kernfamilie, also dieses Vater-Mutter-Kind-Modell? Wie stark oder schwach ist das heute noch in unserer Gesellschaft?
Gellert: Das ist immer noch tatsächlich weit verbreitet und dennoch sehen wir, dass neue Familienformen zunehmen. Also das sind Familien mit einer erziehen Person. Es sind Familien, die zusammenkommen nach Scheidungssituationen oder nach Trennungssituationen. Es ist vor allem aber auch die räumliche Trennung, also die räumlichen Arrangements durch beispielsweise unterschiedliche Berufe an unterschiedlichen Orten, die eben diese Familiendiversität zunehmend ausmachen. Es ist auch die Scheidung im höheren Erwachsenenalter, die dazu führt, dass mehr Personen in Singlehaushalten leben. Alles Entwicklungen, die wir uns genauer anschauen werden.
Stanislawski: Wir haben schon die zunehmende Überalterung angesprochen. Da kommen ja Herausforderungen auf uns zu: Natürlich die Pflege von Angehörigen zum Beispiel, die wird länger, dadurch auch aufwendiger und teurer. Welche der verschiedenen Familienmodelle, wenn man so will, ist denn dafür am besten aufgestellt? Also wenn wir das Stichwort erfolgreich Altern aufgreifen.
Gellert: Genau, in Deutschland haben wir ja aktuell etwa fünf Millionen Menschen, die nach SGB 11 pflegebedürftig sind. Das sind ungefähr 80 Prozent, die zu Hause von ihren Angehörigen, mit ihren Angehörigen versorgt werden. Von diesen fünf Millionen sind ungefähr 2,5 Millionen, die ausschließlich durch die familiäre Pflege versorgt werden. Und wenn wir das jetzt sozusagen uns anschauen, dass einerseits der demografische Wandel dazu führt, dass immer mehr Menschen längere Zeit in Pflege verbringen könnten, das sind ja auch natürlich Mutmaßungen, dann kommt die Familiendiversität hier noch mal ganz klar ins Spiel.
Stanislawski: Was meinen Sie damit? Kommt die Familiendiversität ins Spiel?
Gellert: Ich meine damit, dass die klassische Kernfamilie zwar immer noch ein dominantes Modell ist, aber immer mehr auch durch alternative Familienformen begleitet wird. Das bedeutet, wir haben viele Personen, die kinderlos sind. Etwa 20 Prozent der Frauen in Deutschland, die gerade in den Renteneintritt gehen, sind beispielsweise kinderlos. Das hat die Forschung meiner Kollegin Michaela Kreyenfeld, die auch Direktorin am Einstein Center ist, ergeben. Diese werden natürlich nicht von ihren Kindern gepflegt, sondern von möglicherweise erweiterten Familien, von ihrem Netzwerk. Und ob diese Netzwerke tragfähig sind, so wie eine Kernfamilie tragfähig ist, das wird die Forschung zeigen und die Zukunft zeigen. Aber erste Befunde, die wir haben, zeigen zumindest, dass für schwere Pflegearbeit, dass diese schwächeren Netzwerke außerhalb der Kernfamilie eben weniger tragfähig sind. Und so werden diese Personen mutmaßlich stärker professionelle Pflege in Anspruch nehmen müssen.
Stanislawski: Das ist ja tatsächlich eine Sorge, die ich schon so auch aus meinem Umfeld gehört habe. Also es sind Menschen, die sich vielleicht dagegen entschieden haben, Kinder zu bekommen, die sich dann aber fragen, wer kümmert sich mal mich, wenn ich eben älter bin, wenn ich wenn ich Hilfe brauche? Also das ist schon auch eine reelle Sorge. Da wird eine gesellschaftliche Herausforderung quasi dann auf uns zukommen, wenn es immer mehr Menschen betrifft.
Gellert: Das wird eine der Herausforderungen sein. Was wir im Einstein Center untersuchen werden, sind natürlich auch Potenzialperspektiven. Wir werden natürlich auch schauen, wie diese neuen Familienformen, erweiterte Familien, die Blended Familys, von denen ich gesprochen habe, Freunde als Familienmitglieder, wie die in die Sorgearbeit, in die Care-Arbeit einsteigen.
Stanislawski: Es fiel jetzt auch schon das Stichwort Ungleichheit. Familien sind natürlich eine sehr gute Möglichkeit, so große Ungleichheitsfaktoren auch zu untersuchen. Gutes Beispiel, glaub ich, ist Altersarmut, von der ja immer noch vor allem Frauen überdurchschnittlich oft betroffen sind, weil sie eben immer noch mehr unbezahlte Care-Arbeit übernehmen, übernommen haben in der Vergangenheit. Gehört das auch dazu, wenn wir erfolgreich altern wollen, dass wir diese Ungleichheiten angehen gesellschaftlich?
Gellert: Ich erforsche ja im Wesentlichen auch das hohe und höchste Alter. Also wir haben viel Forschung zu Achtzig-, Neunzig- und Hundertjährigen und das sind Phänomene, die weiblich dominiert sind, also die Verwitwung im hohen Alter. Es ist ein dominant weibliches Phänomen. Also bei den Hundertjährigen waren 80 bis 90 Prozent der Hundertjährigen weiblich und insofern sollten wir auch genau da hinschauen, wenn wir über das hohe Alter sprechen.
Stanislawski: Was würden Sie denn sagen, ist das ist der zentrale Faktor, den wir angehen müssen, wenn wir zum Beispiel eben die Altersarmut bei Frauen erfolgreicher bekämpfen wollen?
Gellert: Ich denke, das ist im Wesentlichen die Gleichbehandlung im mittleren Erwachsenenalter, was die Arbeitsfähigkeit angeht. Das heißt sozusagen Care-Arbeit muss entweder bezahlt oder rentenwirksam sein und Frauen müssen stärker und schneller auch in den Beruf wieder einsteigen können. Also das ist, denk ich, eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Stanislawski: Auch Armut wird ja oft in Familien vererbt. Ich habe in der Vorbereitung eine Studie gesehen, demnach kann es Generationen dauern, bis ungleiche Startvoraussetzungen überwunden werden. Wie bestimmt denn die Familie immer noch die Zukunft eines Menschen? Wie stark ist dieser Faktor immer noch?
Gellert: Im Einstein Center werden wir uns dezidiert Lebensspannperspektiven anschauen, also ganz genau, was die Elterngeneration mitbringt und sozusagen vererbt auf die aktuelle Generation. Und das sind zum Beispiel gesundheitliche Ungleichheiten mit frühen Traumatisierungen, früheren Streitbedingung, frühen Verhaltensweisen im Leben, aber auch Bildungsungleichheiten, die sich über Generationen weiter transportieren. Also dieser Faktor ist immer noch stark. Und welche Wechselwirkung zwischen bildungs-, Gesundheits- und ökonomischen Ungleichheiten besteht und über Generationen transportiert wird und wie sich das auch verändert und wie das unterschiedlich ist in unterschiedlichen Familientypen – das werden wir uns im Einstein Center anschauen.
Stanislawski: Jetzt haben Sie ja Ihre Arbeit am Einstein Center gerade erst angefangen. Was ist denn so das erste Forschungsprojekt, was auf Ihrem Schreibtisch liegt? Womit beginnen Sie Ihre Arbeit?
Gellert: Also bei mir konkret geht es los mit der Erforschung des Eintritts in das Pflegeleisten und ob das intersektional unterschiedlich verteilt ist. Was heißt intersektional? Das heißt das Zusammentreffen mehrerer Diskriminierungsfaktoren innerhalb einer sozialen Identität einer Person. Beispielsweise Migrationshintergrund, Geschlecht, Altert oder Bildung kommen zusammen und bilden eben die soziale Intensität von Gruppen. Und ob dieser Faktor sich unterschiedlich darstellt im Erstauftreten vom Pflegeleisten innerhalb der Familie, das ist sozusagen ein Projekt, das wir uns gerade anschauen, genau in meiner Arbeitsgruppe. Aber das Einstein Center besteht aus sechs Arbeitsgruppen, die sich alle ganz unterschiedliche Fragestellungen anschauen zu dem Verhältnis von körperlichen und geistigen Erkrankungen, zu migrantischen Familien und deren mentaler Gesundheit, zu Bildungsungleichheiten, zu sozioökonomischen Ungleichheiten und anderen mehr.
Stanislawski: Erfolgreich altern, das wollen wir doch irgendwie alle. Er hat uns ein bisschen erklärt, wie das geht, Professor Paul Gellert vom Einstein Centre Bevölkerungsvielfalt. Vielen Dank, dass Sie bei uns waren.
Gellert: Besten Dank.
Stanislawski: Und damit vielen Dank fürs Zuhören bei AskDifferent. Wir hören uns Ende Mai wieder, wenn Sie mögen, dann spreche ich mit der ukrainischen Forscherin Doktor Olena Kononenko. Sie erforscht gerade als Einstein-Gastforscherin hier in Berlin Urban Gardening Projekte, aber eigentlich beschäftigt sie sich wissenschaftlich mit dem Wiederaufbau zerstörter Städte in ihrer ukrainischen Heimat. Wie das beides zusammenhängt, das wird sie uns erklären. Ich freue mich schon auf dieses Gespräch. Und wenn Sie das nicht verpassen wollen, dann lohnt es sich, dem Podcast zu folgen, wo auch immer Sie uns hören. Mein Name ist Anton Stanislawski, bis dahin.
AskDifferent. Der Podcast der Einstein Stiftung.