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#AskDifferent - der Podcast der Einstein Stiftung

#AskDifferent – der Podcast der Einstein Stiftung
In der Podcast-Reihe #AskDifferent erzählen geförderte und mit der Stiftung verbundene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von den kleinen Schritten und großen Zufällen, die zu einer außergewöhnlichen Laufbahn geführt haben. Wir wollen wissen: Was treibt sie an, anders zu fragen, immer weiter zu fragen und unsere Welt bis ins kleinste Detail zu ergründen?

#7: Christoph Markschies

Der Zeitreisende

Foto von Christoph Markschies in seinem Büro

Beschleunigung, Migration, Inflation: dass dies keine der Moderne eigenen Phänomene sind, wird im Gespräch mit Christoph Markschies, dem neuen BBAW-Präsidenten, schnell deutlich. Als Professor für Christliche Antike und Ko-Leiter des Einstein-Zentrums Chronoi bewegt Markschies sich unablässig zwischen den Zeiten. Sein Auftrag als Wissenschaftler ist für ihn klar: einen Beitrag zu einer friedlichen und gerechten Gesellschaft leisten.

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Intro: Ich versuche die klassischen Schwarz-Weiß-Bilder, die man hat, in Farbbilder zu überführen, indem ich versuche, möglichst viele Überlieferungen ernst zu nehmen. Also nicht nur die in klassischen Lederbänden gedruckten Texte, sondern auch Papyri, Alltagstexte, Einladungen zum Abendessen beispielsweise. Also ich versuche, möglichst viele Einzeldaten zu sammeln und diese zu verarbeiten und mein Bild möglichst bunt zu kriegen. AskDifferent, der Podcast der Einstein Stiftung mit Nancy Fischer.

Nancy Fischer: So begeistert klingt Christoph Markschies, wenn er über sein Fachgebiet spricht. Aber ehrlicherweise haut das jetzt nicht jeden direkt vom Hocker. Er ist nämlich Professor für antikes Christentum an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er erforscht also, wie sich das Christentum im Römischen Reich überhaupt entwickelt hat. Und er sagt darüber, das ist total spannend. In diese Zeit, ins erste, zweite, dritte Jahrhundert nach Christi wollen wir in dieser Folge heute zurückreisen, zusammen mit Christoph Markschies, der sich auch sonst viel mit dem Thema Zeit beschäftigt und der viel Zeit braucht. Denn er leitet das Einstein Center Chronoi, das sich mit der Zeit im Altertum beschäftigt und Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften ist er auch noch. Wir haben also viel zu besprechen in dieser knappen halben Stunde von AskDifferent. Hallo erst mal, Herr Markschies. 

Christoph Markschies: Hallo. 

Fischer: Als ich überflogen hab, woran Sie forschen, da las ich so von spätantiker biblischer Exegese, vom Transfer apokalyptischen Wissens im antiken Christentum, von Bewegungen wie Gnostizismus, Montanismus und ich hab ehrlicherweise nichts verstanden. Also wie erklären Sie ahnungslosen Menschen wie mir, was sie so den lieben langen Tag machen? 

Markschies: Ich beschreibe, wie sich das Christentum auf dem Marktplatz von Religionen durchgesetzt hat. Sie müssen sich vorstellen, so wie heute vielleicht in den USA, wenn man in Chicago vom Flughafen in die Stadt Chicago fährt, dann sehen Sie zahllose große Werbeschilder für eine baptistische Kirche, für eine Synagoge, für eine Moschee. Das ist so ein Markt der Möglichkeiten von religiösen Angeboten, nicht-religiösen Angeboten, religionskritischen, religionsaffinen Angeboten und so war das in der Antike auch. Und mich interessiert die Frage, warum hat sich damals das Christentum durchgesetzt und nicht irgendein anderer Kult? Also warum sind die Leute nicht gegangen und haben dem Zeus einen Stier geopfert oder haben im Rahmen des Mithras-Kultes sich in einem Keller getroffen und Einweihungsfeiern veranstaltet? Was war am Christentum interessant? Und ich denke, das ist auch für heutige Situationen spannend, denn wir leben ja auch in einer multireligiösen Gesellschaft, in der sehr unterschiedliche Ansprüche ausgehandelt werden müssen, damit es eine friedliche Gesellschaft bleibt und nicht eine, die kracht, in der es clash of religions and civilizations gibt, wie es das in der Antike gab. 

Fischer: Ihr Lehrstuhl für antikes Christentum, der erforscht das, haben Sie jetzt ja grade auch gesagt, ne? Kurz gesagt, wie sich das vom ersten bis siebten Jahrhundert entwickelt hat, das Christentum. Eine Gesellschaft, die für mich sehr weit weg ist und auch schwer vorstellbar. Wenn Sie mal die Augen schließen und uns mitnehmen dorthin, welche Bilder haben Sie im Kopf? 

Markschies: Eine Gesellschaft habe ich im Kopf, wenn ich an Römisches Reich, Römisches Kaiserreich denke, die unserer in manchem ziemlich ähnlich ist. Es fragen sich viele Leute, lohnt es sich überhaupt, sich für die Gesellschaft zu engagieren? Soll ich Staatsbeamter werden? Eine globalisierte Gesellschaft, wenn Sie ein römischer Beamter oder Militär waren, mussten Sie damit rechnen, dass Ihr erster Dienstort Spanien war, Ihr zweiter Dienstort Nordafrika, dann wurden Sie an die persische Grenze versetzt und ganz am Schluss haben sie noch eine nette Stellung in Syrien gekriegt. Es wurde von Ihnen erwartet, dass Sie außerordentlich mobil waren. Es war eine stark uniforme Kultur. Also sagen wir mal sehr pointiert, so eine Coca-Cola-Kultur. Also ganz egal, ob Sie jetzt in Nordafrika standen oder ob Sie in Kleinasien standen, immer sah es auf‘m Marktplatz ziemlich ähnlich aus. Es gab Versuche, eine bestimmte Auswahl von Sprachen verbindlich zu machen. Also insofern eine uns sehr, sehr ähnliche Zeit. Dann natürlich auch eine ganz andere Zeit. Eine Bundeskanzlerin hätte im Römischen Reich kein Gehalt bekommen, sondern man hätte erwartet, dass sie von ihrem eigenen Vermögen auch noch öffentlich was spendet. Also wenn Sie in Rom oder in den Provinzen eine verantwortliche Stellung hatten, wenn Sie also beispielsweise Provinzialgouverneur waren, dann war das so, dass erwartet wurde, dass Sie ein Sportstadion stiften oder eine öffentliche Brunnenanlage, wo man gutes Wasser bekommen konnte. Ganz unterschiedlich ist auch das Geschlechterverhältnis. Die Frau konnte sehr selbstständig und sehr engagiert wirken, aber nur innerhalb der Grenzen ihres Hauses. Also die Grundvorstellung war, öffentlich waren im Wesentlichen die Männer, die auftraten. Es gibt berühmte große Ausnahmen, allerdings mit fatalen Folgen. Es gab eine sehr berühmte Philosophin in Alexandria, die wurde dann von missgünstigen christlichen Mönchen mit Dachlatten und Ziegeln erschlagen, weil ein Mann fand, Frauen sollen so nicht in der Öffentlichkeit auftreten, dass sie Männer vor sich sitzen haben, die sagen, Gott, ist die aber klug und fortsetzen als Schüler, was die Lehrerin gesagt hat. 

Fischer: Jetzt sind wir schon mittendrin in der Zeit. Also obwohl das ja Jahrhunderte her ist und auch Hunderte Kilometer von da, wo wir jetzt hier gerade mitten in Berlin sitzen, entfernt ist. Wie überhaupt forschen Sie zu antikem Christentum ganz praktisch? 

Markschies: Ich versuche, so kann man das vielleicht beschreiben, die klassischen Schwarz-Weiß-Bilder, die man hat, in Farbbilder zu überführen. Also das, was ich als Kind erlebt habe, die Mondlandung Ende der 60er Jahre wurde noch in flackernden Schwarz-Weiß-Bildern gezeigt und inzwischen haben Sie wunderbare Farbaufnahmen. Wie kriege ich Schwarz-Weiß-Bilder farbig? Indem ich versuche, möglichst viele Überlieferungen ernst zu nehmen. Also nicht nur die in klassischen Lederbänden gedruckten Texte, sondern auch Papyri, Alltagstexte, Einladungen zum Abendessen beispielsweise sind sehr interessant. Wer lädt wen wann ein? Es sind materielle Überlieferungen sehr interessant. Warum, um Gottes Willen, wird auf einer Hauptverkehrskreuzung eine Kapelle gebaut? Da muss ja irgendjemand damit umgehen, dass jetzt die Hauptkreuzung kaputt ist und die Karren da nicht mehr fahren können. Also ich versuche, möglichst viele Einzeldaten zu sammeln und diese zu verarbeiten und mein Bild möglichst bunt zu kriegen. 

Fischer: Ich find's, wenn Sie's so erzählen, wenn Sie von der globalisierten Zeit damals und so Coca-Cola ähnlich sprechen, total spannend und frage mich trotzdem, was von alledem, was da vor 1500, 2000 Jahren war, ist denn für uns heute noch interessant und vor allem relevant? 

Markschies: Also interessant ist natürlich ganz viel. Interessant ist auch das, was scheinbar nicht relevant ist, denn es könnte ja noch relevant werden. Sagen wir mal, als ich zu studieren begann, war das eine wohlgeordnete Welt. Da gab's evangelisch und katholisch und in einigen Vorstädten vielleicht in so einem kleinen Büdchen gab's noch eine Moschee. Inzwischen haben wir ja Auseinandersetzungen zwischen Religionen. Da verteilen bestimmte islamische Gruppen Korane auf dem Potsdamer Platz und man fragt sich, dürfen die das? Was ist das überhaupt für ein Islam? Und plötzlich ist die Frage, wie gehen Religionen miteinander in einer multireligiösen Gesellschaft um, ganz, ganz interessant geworden. Also was interessant ist, verändert sich. Ich finde, römische Gesellschaft zu studieren, ist deswegen ganz interessant, weil wir eine Gesellschaft in einer Krise beobachten. Es gibt gewaltige Migrationsbewegungen, mit denen das Römische Reich nicht fertig wird. Diese Migrationsbewegungen hängen an Hunger und sozialen Problemen, sie hängen aber offenkundig auch an großen Seuchen. Also wir sprechen gerade in Zeiten von Coronapandemie und man sieht, wie hilflos der römische Staat ist im Umgang mit der Migration, der versucht, Verträge mit den großen Gruppen zu schließen. Eine Gesellschaft, deren Zusammenhalt nicht mehr richtig funktioniert. Es gibt im Römischen Reich eine wahnsinnige Inflation, mit der die nicht richtig zurechtkommen, und es gibt im Römischen Reich einen nachlassenden gesellschaftlichen Konsens. Also das Römische Reich funktioniert anders, als man über lange Zeit geglaubt hat, nicht durch massive Truppenpräsenz, bei denen andere Völkerschaften unterdrückt werden, sondern funktioniert aufgrund eines Konsenses. Die Leute finden, hier ist gut leben. Und dieser Konsens, hier ist gut leben, und für diese Gemeinschaft, in der gut leben ist, kann ich mich engagieren und zum Beispiel ein Sportstadion stiften, wenn ich das Geld habe. Die bricht zusammen und damit, finde ich, haben wir viele Parallelerscheinungen zu heute. Ich will das nicht überzeichnen. Natürlich ist es eine ganz und gar auch fremde Gesellschaft, dass man im republikanischen Rom die erstgeborenen Töchter aussetzte und die einfach da lagen, weil man nur Männer als Nachwuchs haben wollte. Daran merkt man, das ist eine völlig fremde Gesellschaft. Und dann wird einem plötzlich doch deutlich so Strukturen von Blutfehde und Ähnlichem, die auf den ersten Blick sehr fremd wirken, die hat's ja in auch unseren Gesellschaften noch ziemlich lange gegeben. Also das Fremde will ich nicht untern Teppich kehren, aber es ist manches sehr, sehr ähnlich. Spätantike erinnert wirklich frappant manchmal an Gegenwart.

Fischer: Sie forschen selbst also zu Religion im weitesten Sinne, sind aber als einer der bekanntesten deutschen Theologen auch aktiv in der evangelischen Kirche, hier in Berlin-Brandenburg gerade. Würde denn Forschung ohne Glaube für Sie funktionieren?

Markschies: Na sicher. Also Forschung, das kann man sich ungefähr so vorstellen wie in der Musikwissenschaft. Da gibt es einen großen Streit darüber, muss ich Cembalo spielen können, um ein Cembalo-Konzert analysieren zu können? Die Antwort ist natürlich, nein, das muss ich nicht. Wenn ich Cembalo spielen kann, um ein Cembalo-Konzert zu analysieren, wird meine Analyse natürlich anders. Und ich finde, der Wettbewerb ist spannend. Also ich unterhalte mich sehr, sehr gern mit Kollegen, die sagen, was ist denn das für eine absurde Religion, Christentum? Wie konnte sich das überhaupt durchsetzen? Dann wird's ja erst spannend. Nein, Wissenschaft hat ja immer was mit Perspektivität zu tun. Sie sehen von dem großen Kuchen, um mal diese Metapher zu verwenden, nur einen kleinen Ausschnitt. Den betreiben sie nach bestimmten Regeln, und unsere theologischen Fakultäten sind so konstruiert wie die medizinischen und die juristischen auch. Sie führen auf bestimmte Berufe und sind an diese Professionen gebunden. Also Medizin hat zu tun mit Krankenhaus und so ein Theologiestudium mit Kirche zu tun. Natürlich können Sie Medizin auch ohne Krankenhaus machen und natürlich könnten Sie Jura und unser Rechtssystem auch als Anarchist studieren, der nicht an die Sinnhaftigkeit von Gesetzen glaubt. Das ist ein interessantes Gespräch, was dann entsteht. Für mich ist wichtig, Religion auch praktisch zu erleben, um das mal so ganz schlicht zu sagen, weil damit Sie davor bewahrt bleiben, so einen Professorenblick auf die Dinge zu haben, also beispielsweise nur Intellektuelle anzugucken in der Antike. Sie merken dann, es gibt immer Menschen, die über Religion nachdenken, es gibt aber auch solche, die das praktizieren und nicht so furchtbar viel drüber nachdenken. 

Fischer: Aber gibt's dann in diesen Situationen für Sie, also wo die sehr faktenbasierte Forschung quasi auch mal im Widerspruch stand zum eher, ich sag mal, unlogischen Glauben? 

Markschies: Ich hab das unglaublich große Glück, dass ein solcher Widerspruch nie aufgetreten ist, weil ich sehr liberal in Berlin aufgewachsen bin. Also, ich gehöre nicht zu den Leuten, die, das gibt es natürlich immer, aus sehr, sehr engen religiösen Verhältnissen stammen und plötzlich feststellen, ach Gott, die Welt wurde ja überraschenderweise doch nicht in sieben Tagen geschaffen. Ich habe von vornherein immer wahrgenommen, wenn in der Bibel gezählt wird, ist das nicht eine mathematische Zählung durch, weiß ich nicht, die Anstalt, die physikalisch die Zeit mit einer Atomuhr bestimmt. Und insofern ist eigentlich an der Stelle jetzt nie ein Widerspruch aufgetreten, dass ich dachte, Glaube oder Wissenschaft stehen jetzt direkt gegeneinander und ich muss mich für eines von beiden entscheiden, sondern das ist ein interessantes Wechselverhältnis, das mir viel Vergnügen und Spaß macht.

Fischer: Es ist eine Ihrer Aufgaben, über die wir jetzt gesprochen haben. Eine andere ist, Sie leiten ja auch gemeinsam mit zwei anderen Kollegen das Einstein Center Chronoi. Da untersuchen Sie mit verschiedenen Unis, Stiftungen, Instituten zusammen das Thema Zeit. Bevor wir da detaillierter drüber sprechen, welche Rolle spielt denn Zeit überhaupt in Ihrem Alltag? 

Markschies: Meistens eine etwas unglückliche. Ich habe zu wenig und es gab früher mal bei der Wochenzeitung DIE ZEIT, ein Preisausschreiben, da konnten Sie, ich glaube, 1000 Mark im Abreißblock gewinnen. Ich würde gern 365 Tage im Abreißblock gewinnen und würde die mal gern irgendwo dazuschieben und habe immer noch mal die Hoffnung, dass irgendwann ein solcher Moment kommt. Nein, ich denke deswegen so viel und so gern über Zeit nach, nicht wegen eigener Zeitprobleme. Das ist eine Frage des Zeitmanagements, die Sie mal besser und mal schlechter hinbekommen und wo man ja hoffentlich auch ein bisschen lernt. Sondern weil mich als Historiker interessieren die basalen Kategorien, nach denen ich Geschichte rekonstruiere. Also, wer handelt? Wie funktioniert Handeln, ist so eine der zentralen Fragen. Und eine weitere Frage ist, wie gehen Menschen mit Zeit? Ich habe früher immer gedacht, in antiken Gesellschaften hatten die Leute noch keine Armbanduhr und die exakte Zeit spielte keine Rolle. Und ich habe mir was aus meinen eigenen Studienerfahrung im Nahen Osten vorgestellt, dass einem Zeit relativ gleichgültig wird. Ich entsinne mich, dass ich mal an der israelisch-ägyptischen Grenze vier Stunden gewartet habe und das nicht schlimm fand und eher störend fand, als es dann weiterging. Während ich jetzt natürlich ganz ärgerlich bin, wenn der Bus nicht zur rechten Zeit kommt oder irgendeine Terminverabredung nicht passt. Und ich habe festgestellt, das ist leider ein ganz bitteres Vorurteil, denn die Menschen hatten zwar keine Taschenuhren, das ist ja eine Erfindung des 16. Jahrhunderts, und öffentliche Uhren gab es auch nur in sehr großen Städten, aber sie haben sich auf Dörfern präzise zu Uhrzeiten verabredet, zum Beispiel zum Abendessen.

Fischer: Wie denn? 

Markschies: Weil man und dazu brauchen wir bei Chronoi die Neurologen und die Neurologinnen, die Chronobiologie, weil Sie auch ohne exakte Zeitmessinstrumente, zum Beispiel mithilfe der Sonne, sehr gut ein internes Zeitgefühl haben. Also denken Sie an die vielen Leute, die zwei Minuten vor dem Wecker aufwachen. Sie könnten den Wecker wegstellen, wissen Sie intuitiv, wann sieben Uhr ist. Wenn Sie das trainiert haben, wenn Sie keinen Wecker haben und so weiter und so fort. Und das zu bemerken und festzustellen, ja, das erleben wir ja auch in den antiken Quellen. Und die Vorstellung, dass die Leute damals doof waren und irgendwie, wenn sie sich um acht verabredeten, das Abendessen erst um zehn begann? Nein, natürlich nicht, denn auch in der Antike war verkochtes Essen schon wenig schmackhaft. Und die, die es kochten, wollten nicht, dass das Essen verkochte, weil die ganze eingeladene Belegschaft zwei Stunden später kam.

Fischer: Das ist ja spannend. Das heißt also, dieses ganze Thema, was wir hier so bei uns immer thematisieren, Zeitmanagement, Zeitrechnung, Zeitbewusstsein, was das Chronoi Center ja auch erforscht, das gab's damals auch alles, obwohl niemand eine Uhr hatte. 

Markschies: Ja, da gab es, Zeitmanagement, und es gab es sogar in einem sehr besonderen Maße. Wenn Sie sich vorstellen, wir klagen ja alle ein bisschen über das berühmte Jetlag. Sie kommen aus Amerika zurück und denken, oh Gott, bin ich jetzt eigentlich am Tag oder ist es Nacht? Und das gab es in der Antike auch, weil es verschiedene Zeitrechnungen gab. Sie konnten nach Olympiaden datieren, befanden sich also im zweiten Jahr der 27. Olympiade. Sie konnten nach Kaisern datieren, sie konnten nach Gründungsjahren der Stadt datieren und wie Leute mit unterschiedlichen Datierungen umgehen. Man kann an Japan denken, wo es ja auch die europäische Datierung gibt und gleichzeitig die Kaiserjahre oder an China denken. Also Synchronisationsprobleme unterschiedlicher Zeitrechnungen treten nicht erst auf, seitdem Sie übern Atlantik fliegen können.

Fischer: Ich kann mir vorstellen, für Sie spielen die Grenzen zwischen Natur- und Geisteswissenschaften zum Beispiel gar nicht mehr so eine große Rolle. Sie waren ja auch Präsident der Humboldt-Universität, sind jetzt seit Juli 2020 Präsident der Akademie der Wissenschaften, also der größten außeruniversitären geisteswissenschaftlichen Forschungseinrichtungen hier in Berlin und Brandenburg. Können Sie sich überhaupt vorstellen, wie ein Leben ohne Wissenschaft aussieht? 

Markschies: Schon, Urlaub. Also im Urlaub forsche ich ja nicht, sondern ich kann mir gut vorstellen, dass es ein Leben ohne Wissenschaft gibt und grade deswegen ist mir Kommunikation sehr wichtig. Also versuche ich, Ergebnisse meiner Wissenschaft so zu erzählen, dass Menschen, die nicht aus wissenschaftlichen Zusammenhängen kommen, damit was anfangen können. Ja, ich hoffe, ich kann mir ein Leben ohne Wissenschaft vorstellen. Ich kann mir nicht ein Leben als Geisteswissenschaftler ohne Naturwissenschaften vorstellen. Ich würde, glaube ich, wenn ich noch mal mein Leben anfangen könnte, Medizin studieren oder ich würde Physik studieren. Theologie habe ich ja schon studiert und alte Geschichte und klassische Philologie, weil ich immer deutlicher merke, dass für die allermeisten interessanten Fragen der Gegenwart: Nehmen wir mal so eine Frage, für wie viele Teile meines Handelns bin ich verantwortlich? Das ist eine Frage, die können Sie nicht mehr philosophisch und juristisch behandeln, sondern das ist eine Frage, die müssen Sie auch mit Medizinern und mit Psychologen behandeln. Und insofern, das ist ja eine Berliner Wissenschaftstradition, die man vielleicht holistisch-ganzheitlich nennen könnte. Leibniz ist so ein schönes Beispiel dafür. Sie können heute nicht mehr wie Leibniz alles machen: eine Rechenmaschine erfinden, Chinesisch können, Philosophie, noch eine Darstellung zur hannoverschen Geschichte schreiben. Ein Einzelner oder eine Einzelne kann das nicht mehr, aber Sie können Forschung so organisieren, dass Sie die Leistung von Leibniz, das ist jetzt vielleicht ein bisschen pointiert gesagt, durch viele Menschen substituieren können, Crowdfunding im Bereich der Wissenschaft.

Fischer: Vielleicht gehen wir auch noch mal zurück in Ihre Kindheit und Jugend. Erinnern Sie sich an dem Moment, wo Sie entschieden haben, ich will in die Wissenschaft gehen? 

Markschies: Ich habe ganz lange Zeit sehr dezidiert nicht in die Wissenschaft gehen wollen. Das liegt daran, dass mein Vater Universitätsprofessor an der Freien Universität in Berlin war und Literaturwissenschaft machte und das ganz großartig machte, ein faszinierender akademischer Lehrer und Forscher, aber der hat immer nachts gearbeitet. Wenn ich als Kind ins Bett ging, sagte mein Vater, ich muss jetzt arbeiten und arbeitete, solang ich mir vorstellen kann und er arbeitete immer zu. Und ich dachte, meine Güte, ist das aber eine anstrengende Tätigkeit. Und ich sitze immer am Schreibtisch und ich hab eigentlich ganz, ganz lange Zeit gedacht, nein, Du wirst evangelischer Pfarrer, dann hast Du viel mit Leuten zu tun, deine Arbeiten wechseln ständig ab, mal alte Menschen, mal junge Menschen, mal Trauerbesuche, mal Hochzeitsbesuche. Und ich weiß noch ganz genau, als ich meine Promotion hinter mich gebracht hatte, blickte mich der Dekan meiner Fakultät in Tübingen ernst an und sagte, wir erwarten, dass Sie sich habilitieren. Und da habe ich gedacht, na gut, dann habilitieren wir uns halt mal. Nein, mein Leben hat viel mit Zufällen zu tun und ich bin ungeheuer glücklich, wo ich dort jetzt bin. Aber ich muss gestehen, als ich jetzt die Präsidentschaft der Berlin-Brandenburgischen Akademie angetragen habe, das ist ja sicher noch mal ein anderes Arbeitsprofil als auf einer Professur sitzen und forschen und lehren, hab ich gedacht, auch eine wunderschöne Aufgabe, das machen wir ja jetzt mal mit aller Kraft. Also mein Leben hat aus sehr verschiedenen Dingen bestanden. Es ist nicht so, dass ich irgendwie von dem Moment an, wo ich denken kann, deutscher Universitätsprofessor werden wollte. 

Fischer: Mal angenommen, Sie hätten jetzt noch einen Wunsch frei, was Sie durch Ihre Forschung entwickeln, entdecken, erreichen könnten, hätten Sie einen? 

Markschies: Na ja, klar. Also ich würde mir wünschen, streiche, ich würde, hat mein Lateinlehrer immer gesagt. Fangen Sie den Satz noch mal ohne „ich würde“ an. Ich wünsche mir, und zwar ziemlich fest, dass unsere Forschung dazu beiträgt, in einer Gesellschaft, in der viele Krisenmomente sichtbar sind, allzumal jetzt nach einer Pandemie man befürchten muss, dass die öffentlichen Finanzen in große Unordnung kommen, dass die gesellschaftlichen Konflikte sich verschärfen. Ich wünsche mir und möchte dazu beitragen, dass wir in einer friedlichen und gerechten Gesellschaft leben. Und alles das, was ich dazu tun kann, und letztlich dient dem eigentlich alles, was ich auch wissenschaftlich und in Wissenschaftsadministration und Kommunikation mache. Wenn ich mir was wünschen darf, wünsche ich mir, dass ich damit Erfolg habe, dass ich einen ganz klitzekleinen Beitrag dazu leisten kann und mit den vielen Kolleginnen und Kollegen und Mitarbeitenden der Berliner Akademie einen vielleicht etwas größeren, als ich das als Individuum könnte. 

Fischer: Unsere Zeit ist jetzt schon so langsam am Ende und Sie haben auch nicht mehr viel. Ich weiß, ich will Sie auch nicht zu lange strapazieren, aber als letzte Frage: Wenn ich mir jetzt vorstellen müsste, ich hätte hier diesen Kalender mit 365 freien Tagen und ich gebe Ihnen den 10. Juni als Geschenk. Was würden Sie machen, wenn Sie heute keine Termine hätten? 

Markschies: Ich würde versuchen zu reisen, weil ich den festen Eindruck habe, und der hat sich im Laufe meines Lebens immer mehr verstärkt, dass Sie durch Reisen am besten Geschichtswissenschaft machen können, indem sie sich mit anderen Leuten unterhalten, indem sie Ortslagen sehen. Also wenn sie zum ersten Mal, weiß ich nicht, in Ephesus stehen und sehen, wie der Hafen da aussieht und sich klarmachen, in Ephesus gab's eine Straßenbeleuchtung und es war absolut klar, dass im Hafen Tag und Nacht gearbeitet wurde und dann wird Ihnen plötzlich klar, dass bestimmte Thesen über Beschleunigung als das Theorem der Neuzeit irgendwie nicht stimmen können, weil schon in der Antike es ziemlich beschleunigt und wahnsinnig schnell zuging. Also Reisen können, ich würde mir was aussuchen, wo ich gern mal hinreisen würde. Ich war leider noch nie aus bekannten Gründen im Libanon. Ich war leider noch nie in Libyen. Das sind Orte und Landschaften, die man als Mensch, der sich mit Antike beschäftigt, unbedingt mal gesehen haben sollte. Da gibt es spannende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, mit denen ich mich mal gern unterhalten würde. Also den von Ihnen mir frei zur Verfügung gestellten Tag nutze ich, sagen wir mal, für eine Reise in den Libanon. 

Fischer: Einen Tag, dann mit Jetlag kommen Sie wahrscheinlich zurück, Herr Markschies. Christoph Markschies forscht zur Zeit und zum antiken Christentum und hat uns mitgenommen, zumindest auf eine kleine Zeitreise in die Antike. Ganz herzlichen Dank dafür. 

Markschies: Gerne. 

Fischer: Das war AskDifferent, der Podcast der Einstein Stiftung. Ich bin Nancy Fischer. Ich freu mich, dass Sie sich Zeit zum Zuhören genommen haben. Bis zum nächsten Mal.