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#AskDifferent - der Podcast der Einstein Stiftung

#AskDifferent – der Podcast der Einstein Stiftung
In der Podcast-Reihe #AskDifferent erzählen geförderte und mit der Stiftung verbundene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von den kleinen Schritten und großen Zufällen, die zu einer außergewöhnlichen Laufbahn geführt haben. Wir wollen wissen: Was treibt sie an, anders zu fragen, immer weiter zu fragen und unsere Welt bis ins kleinste Detail zu ergründen?

#15: Carsten Finke

Der Gedächtnis-Forscher

Foto von Carsten Finke beim Podcast-Interview am Tisch sitzend mit Mikrofon

Ist auf das Gedächtnis Verlass? Inwieweit sind Erinnerungen konstruiert? Lässt sich nach einer hirnschädigenden Erkrankung verlorenes Wissen wiederherstellen? Die Forschung des Neurologen Carsten Finke von der Charité – Universitätsmedizin und der Berlin School of Mind and Brain berührt kognitive wie philosophische Fragen. Im Podcast berichtet er von  verblüffenden Studien und macht einmal mehr deutlich, wie anpassungsfähig das menschliche Gehirn ist.

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Intro: Die Analogien zum Gedächtnis sind immer ganz stark von dem aktuellen Stand der Technik beeinflusst. Aktuell glaubt man, dass das wie so eine Festplatte ist auf dem Computer und früher war das dann vielleicht mal eine Videokassette. Wir wissen aber, dass es nicht so ist. Es wird also da nicht abgespeichert und später drücken wir auf den Knopf und dann wird das eins zu eins wieder abgespielt, sondern die Episoden, die wir uns wieder ins Gedächtnis rufen, werden jedes Mal wieder aus Einzelteilen neu zusammengesetzt, also ein sehr dynamisches System. AskDifferent, der Podcast der Einstein Stiftung mit Nancy Fischer.

Nancy Fischer: Wir vergessen unseren Schlüssel zu Hause. Wir vergessen zu tanken, manchmal auch zur Arbeit zu gehen oder dem Mann zum Hochzeitstag zu gratulieren. Und wer ist schuld? Genau, das gute alte Gedächtnis. Dieses Ding irgendwo im Gehirn, das meistens dafür sorgt, dass wir eben nix vergessen. Aber das vergisst manchmal auch das Gedächtnis. Wenn das Gedächtnis aber krank ist, dann kommt Carsten Finke ins Spiel. Der Neurologe ist Assistenzprofessor an der Charité Berlin und an der Berlin School of Mind and Brain, die auch ein Partner der Einstein Stiftung ist. Und Sie vergessen sicher nie was, Herr Finke, oder?

Carsten Finke: Natürlich nicht. Das ist ja meine Aufgabe. 

Fischer: Ihr Gehirn ist perfekt wahrscheinlich als Forscher, der sich mit dem Gehirn auskennt. 

Finke: Die Frage, die man ja am häufigsten gestellt bekommt, oder die Bemerkung, wenn man sagt, dass man zum Gedächtnis forscht, dann beschweren sich eigentlich alle immer darüber, dass sie doch eigentlich ja viel zu viel vergessen würden und was man denn mal dagegen machen könnte. Also jeder hat, glaub ich, subjektiv das Gefühl – und das geht mir natürlich genauso –, dass ich mir noch lieber mehr Dinge gut merken möchte. Ich möchte mich natürlich auch an jede einzelne Veröffentlichung, die ich gelesen habe, erinnern und an jeden einzelnen Urlaubstag, den ich hatte, aber wir vergessen einfach viel. Das ist auch sehr wichtig für unser Gedächtnis und das gehört dazu, das muss man akzeptieren. 

Fischer: Und es gibt ja so Leute, die tatsächlich diese, ich weiß nicht, ob's eine Krankheit ist oder ein Symptom, die nichts vergessen, die sich jedes Detail merken, wie furchtbar das sein muss. 

Finke: Das stimmt, das heißt …

Fischer: Haben Sie vergessen? 

Finke: Hab ich vergessen, Superior Autobiographical Memory, und das sind einzelne Personen, die es gibt. Und tatsächlich scheinen die darunter sehr zu leiden. Die können sich an jedes einzelne Detail ihres Lebens erinnern. Man kann denen zum Beispiel sagen, 22. Februar 1981, und die Person könnte antworten, was sie an dem Tag anhatte, was sie gegessen hat. Und da zeigt sich auch die Bedeutung des Vergessens. Es erlaubt uns natürlich auch, negative Erfahrungen zu vergessen. Es ist ja auch wichtig, wieder einen positiven Blick auf die Zukunft zu haben. Wenn wir immer die ganze Zeit sehr präsent hätten, was uns alles so an negativen Sachen passiert ist, ist das sicherlich auch sehr abträglich. Es zeigt aber andererseits auch, dass unser Gehirn prinzipiell offensichtlich dazu in der Lage ist, von der reinen Speicherfähigkeit eben sehr, sehr viele Informationen zu behalten. 

Fischer: Jetzt sind wir schon mittendrin, aber ich würde gern vorher einmal klären. Wenn Sie jetzt einem Kind erklären müssten, was das Gedächtnis überhaupt ist. Also ich persönlich würde schnell scheitern, weil ich kann nicht mal sagen, ob's ein Organ ist, ein Zustand, ein Vorgang, wie würden Sie's denn erklären? 

Finke: Mir gefällt eigentlich immer ganz gut dieses Zitat von Eric Kendel, dem Nobelpreisträger, der meinte, dass es so ein bisschen die Substanz, die unser gesamtes Leben zusammenhält. Weil wenn wir die nicht haben, wissen wir weder, wo wir herkommen, noch was wir grade wollen, noch was wir in Zukunft wollen. Das ist also der Leim, der sozusagen so ein bisschen unser Leben auch zusammenhält. Und die Analogien zum Gedächtnis sind immer ganz stark von dem aktuellen Stand der Technik beeinflusst. Aktuell glaubt man, glaub ich, häufig, dass das wie so eine Festplatte ist auf dem Computer. Und früher war das dann vielleicht mal eine Videokassette, ja. Wir wissen aber, dass es nicht so ist, sondern es ist kein passives System. Es wird also da nicht abgespeichert und später drücken wir auf einen Knopf und da wird das eins zu eins wieder abgespielt, sondern das ist tatsächlich, die Episoden, die wir uns wieder ins Gedächtnis rufen, werden jedes Mal wieder aus Einzelteilen neu zusammengesetzt. Und dadurch wird es auch immer wieder verändert und überformt. Das ist also ein sehr dynamisches System. 

Fischer: Und in einfachen Worten, wie funktioniert dieses System? Also sprich auch, warum vergessen wir manche Dinge einfach? Warum können wir uns an andere unser Leben lang erinnern? 

Finke: Das ist natürlich Gegenstand intensiver Forschung und wird auch noch nicht ganz verstanden, warum das so ist. Wir wissen, wir kennen verschiedene Faktoren, die uns helfen, Dinge besser zu erinnern. Wir wissen zum Beispiel, dass wenn wir, nachdem wir was gelernt haben, wenn wir gut und ausreichend schlafen, dann erfolgt eine sogenannte Konsolidierung, die die Gedächtnisinhalte widerstandsfähiger machen, also länger anhaltend und länger abrufbar. Wir wissen auch, dass emotional bedeutsame Gedächtnisinhalte, die können wir viel besser erinnern. Das weiß jeder, wenn wir an bestimmte Musikstücke denken, an bestimmte schöne oder natürlich auch traurige Erlebnisse in unserem Leben, die berühmten Untersuchungen zu „Was haben Sie gemacht, als Sie von 9/11 gehört haben?“. Das sind alles diese Sachen, die natürlich zeigen, dass emotional bedeutsame Erinnerungen, dass wir uns die viel besser merken können. Und ganz einfach gesagt, was ist es für ein System? Es hilft uns natürlich in der Navigation in unserem Leben. Es ist einerseits wichtig, um Fakten zu erinnern, das ist das sogenannte semantische Gedächtnis. Also wir brauchen gewisses Wissen im Leben, bestimmte historische Fakten brauchen wir. Ich brauch medizinische Fakten in meiner Arbeit. Und das andere ist das episodische Gedächtnis, das heißt, die Erinnerung an unsere eigene Autobiografie, an die vergangenen Tage, Ereignisse, Urlaube und so weiter. Und das ist natürlich auch wichtig und ist im Prinzip eine zentrale Voraussetzung für ein erfolgreiches Verhalten. 

Fischer: Es war ganz interessant. Ich hatte vor ein paar Tagen so einen Fall mit einer Gruppe von Freunden im Park und ich musste der Polizei dann einen Augenzeuge beschreiben, der fünf Minuten vorher an uns vorbeigelaufen ist, mit dem wir Kontakt hatten. Und wir haben alle diesen gesuchten Mann als irgendwas anderes erinnert. Jeder hatte andere Fakten oder teilweise auch Merkmale sich unterschiedlich gemerkt. 

Finke: Das ist ein sehr bekanntes Phänomen und tatsächlich spielen da wahrscheinlich zwei Faktoren mit rein. Das eine ist eine perzeptuelle Komponente, also wie waren wir in der Lage, das überhaupt auch wahrzunehmen? Und das andere ist, wie gut können wir uns das merken? Und die Studien zeigen eigentlich, dass solche Zeugenaussagen häufig wenig belastbar sind leider. Es entsteht aber trotzdem der subjektive Eindruck, als würden wir uns daran sehr gut erinnern. Also Elizabeth Loftus ist eine sehr berühmte Neurowissenschaftlerin, die zu diesen falschen Erinnerungen, „false memories“, geforscht hat und eben zeigen konnte, dass die Aussagen von Zeugen häufig wenig belastbar sind. Und dass es tatsächlich auch eine ganze Reihe von dadurch falschen Urteilen sind, dass also Leute zu Unrecht verurteilt wurden. Es gibt dazu auch gute Studien. Auch von Elizabeth Loftus zum Beispiel wurden Probanden Fotografien vorgelegt. Ganz bekannt ist da ein Ausflug in einem Heißluftballon und in diesen Heißluftballon wurden dann Fotos der Probanden als Kind reinmontiert und es wurde denen dann vorgelegt und dann wurden die einfach nur gefragt, wie war das denn eigentlich an dem Tag? War das schön und können Sie sich daran erinnern? Und wirklich eine Mehrzahl der Probanden sagte dann so, ja, ich kann mich erinnern, das war schön, und dann wurde das teilweise auch noch ausgestaltet und wir haben danach noch ein Eis gegessen. Und eine andere Probandin, da ging es um einen Elefanten und die meinte, sich auch noch erinnern zu können, was der Elefant für eine Haut hatte und dass das so eine ganz raue Haut hatte. Und das stimmte alles gar nicht. Das waren also induzierte, falsche Erinnerungen und das zeigt noch mal, dass das Gedächtnis tatsächlich ein dynamischer und produktiver Prozess ist, der nicht einfach nur eine Information wieder abspielt, sondern offensichtlich gibt es da ja eine Vorstellung davon, wie sich so eine Elefantenhaut anfühlen muss und dass hat der- oder diejenige dann da in ihre Erinnerung, vermeintliche Erinnerung mit eingeflochten. 

Fischer: Aber die Leute sind ja keine notorischen Lügner, das machen wir wahrscheinlich alle, oder? Solche falschen Erinnerungen herzustellen? 

Finke: Das machen wir alle, genau und wir merken das natürlich nicht. Und wenn man sich zum Beispiel überlegt, wie jetzt ein Kriegsveteran sich erinnert an die Zeit und das ist schon lange her und er hat das immer wieder vorgekramt und immer wieder wurde das online geholt und dann rekonsolidiert, sagt man dazu. Also es wurde sozusagen aus dem Speicher hervorgerufen und dann wird es wieder rekonsolidiert, also wieder erneut verfestigt. Und dadurch entsteht eigentlich jedes Mal ein Transformationsprozess auch, zumindest ein Stück weit. Und man kann sich natürlich schon vorstellen, es ist jetzt natürlich auch schwer untersuchbar, aber dass natürlich über die Jahre und Jahrzehnte sich auch dann Verfälschungen da immer weiter verfestigen. Und möglicherweise ist es natürlich auch so, dass die Verfälschung vielleicht eher in eine gewünschte als in eine unerwünschte Richtung gehen.

Fischer: Jetzt haben wir schon viel über auch die Forschung von Elisabeth Loftus, heißt sie, ja, gesprochen, also über die Forschung von anderen Menschen. Wenn wir uns noch mal ganz praktisch das anschauen, was Sie machen, wie erforschen Sie das Gedächtnis? Also das ist ja nicht greifbar oder lokal auszumachen.

Finke: Es ist zum zu einem Stück tatsächlich auch greifbar. Es gibt eine Struktur im Gehirn, der Hippocampus, von dem wir wissen, dass er eine zentrale Rolle spielt für das Gedächtnis, aber wahrscheinlich ist der gesamte Kortex auch wichtig dafür. Der Kortex ist die graue Substanz, die also wie eine Hülle um das Gehirn liegt. Das sind also die Nervenzellkörper und in der Mitte ist die weiße Substanz, das sind die Faserverbindungen. Und ganz in der Tiefe der weißen Substanz gibt's noch die tiefe graue Substanz und dazu gehört dann auch der Hippocampus. Das sind auch wieder Nervenzellkörper. Und also letztendlich kann man sagen, dass wahrscheinlich das gesamte Gehirn auch am Gedächtnis beteiligt ist, aber der Hippocampus ist eine zentrale Struktur, der das auch ein bisschen orchestriert und der auch wichtig ist für viele der essentiellen Abrufprozesse. Und ein großer oder wesentlicher Bestandteil unserer Forschung liegt darin, dass wir Patienten untersuchen, die eine Schädigung des Hippocampus haben. Das heißt, einerseits untersuchen wir gesunde Probanden und schauen zum Beispiel mithilfe funktioneller Magnetresonanztomografie, welche Hirnareale sind aktiv? Ist der Hippocampus bei einer bestimmten Gedächtnisaufgabe aktiv oder nicht? Und andererseits untersuchen wir Patienten, die eine Schädigung haben, zum Beispiel durch eine Resektion oder eine Entzündung des Hippocampus. Resektion heißt also eine chirurgische Entfernung. Und dann schauen wir, welche Gedächtnisaufgaben sie nicht mehr oder vielleicht nur noch schlechter können und schließen dann wieder zurück, wofür ist denn der Hippocampus eigentlich wichtig? 

Fischer: Es gab ein Beispiel, das fand ich ganz spannend in Ihrer Forschung, bei dem Sie speziell das Musikgedächtnis untersucht haben, das offensichtlich ganz unabhängig von allen anderen im Gehirn funktioniert. Können Sie den Fall noch mal erzählen? 

Finke: Das war ein Cellist, der über Jahrzehnte, ein professioneller Cellist, über Jahrzehnte bei den renommiertesten Orchestern weltweit gespielt hat und der dann an einer Herpes-Enzephalitis erkrankt ist. Das ist also eine virale Hirnentzündung, die sehr selten ist und die aber eben gezielt beidseits den Hippocampus schädigt. Und das war bei ihm eben eine sehr ausgeprägte Schädigung, die war so stark, dass er eigentlich komplett amnestisch war, wie man sagen würde. Das heißt, er hat eigentlich überhaupt nichts mehr erinnert. Sowohl sein semantisches Gedächtnis war geschädigt. Also er konnte keinerlei zum Beispiel, das sind so Tests, die man da macht, kann man Bundesländer nennen, kann man Flüsse nennen, kann man sagen, wer gerade regiert oder wer vorher mal regiert, das konnte er alles überhaupt nicht nennen. Er konnte aber auch zum Beispiel keine Komponisten mehr nennen, bis, glaub ich, auf einen einzigen, Beethoven, glaub ich. Und alle anderen hatte er komplett vergessen. Und aber auch sein episodisches Gedächtnis war gestört. Er konnte sich also auch nicht mehr an seine berufliche Laufbahn erinnern, auch nicht mehr an sein Leben, sein zurückliegendes. Die einzigen Personen, die er überhaupt noch erinnerte, waren sein Bruder und sein Betreuer. Das heißt, er hat also eine sehr schwerwiegende Gedächtnisstörung und wir wollten ihn eigentlich für eine Studie untersuchen, bei der wir, wie ich das eben schon erwähnt hatte, Patienten mit einer hippocampalen Schädigung testen in bestimmten Aufgaben, um herauszufinden, was der Hippocampus macht. Dafür war er aber viel zu stark beeinträchtigt eigentlich. Und wir haben aber dann eben gehört, dass er Cellist ist und das hat uns interessiert und wir wollten sehen, wie gut er noch Musik spielen kann und wie gut sein Musikgedächtnis ist. Und wir haben zunächst so ganz einfache Untersuchungen gemacht, dann gibt es eine Testbatterie, die eben untersucht, wie gut kann er noch Rhythmus diskriminieren, Tonhöhen und so verschiedene musikalische Qualitäten, und das konnte er perfekt. Und am Ende war da aber auch noch eine kleine Musikgedächtnisaufgabe dabei und tatsächlich zu unserem großen Erstaunen hat er die auch perfekt gelöst. Und daraufhin haben wir dann sehr maßgeschneidert für ihn noch weitere Musikgedächtnisaufgaben entworfen, wo wir ihm immer Stücke gegeben haben, die wir wussten, dass er die kennt, aus seiner Karriere einfach. Und andere Stücke, die er eben nicht kennen konnte, und haben sozusagen Stück für Stück sein Musikgedächtnis getestet, sowohl das zurückliegende, was er früher mal erworben hat. Und wir haben aber auch untersucht, ob er sich neue musikalische Inhalte merken kann. Und wir haben ihn dann verglichen mit Cellisten der Berliner Philharmoniker, also die … Man braucht ja immer eine gute Kontrollgruppe. Die waren dann gleich alt, die hatten den gleichen musikalischen Bildungsgrad sogesehen. Es waren dann eben auch professionelle Musiker. Und es zeigte sich, dass er da genauso gut war wie diese Berliner Philharmoniker. Das heißt also, dass sein Musikgedächtnis erstaunlicherweise intakt war, obwohl er ja nicht mal einen Komponisten nennen konnte. 

Fischer: Ist das sozusagen, wenn Sie auch schon selber immer vom Musikgedächtnis sprechen, ist das ein eigenes Gedächtnis? Liegt das irgendwo anders oder wie stufen Sie das ein, diese Erkenntnis? 

Finke: Im Prinzip ist das so eine Erkenntnis, die man daraus ziehen kann, dass das Musikgedächtnis unabhängig von anderen Gedächtnisdomänen oder -inhalten, -formen organisiert sein muss, weil der Hippocampus war ja bei ihm beidseits großflächig zerstört. Und was eine interessante Beobachtung war zusätzlich, ist, dass er konnte tatsächlich auch noch gut Cello spielen. Wir hatten ja dann auch eine Musiktherapeutin gefunden, die mit ihm gearbeitet hat. Und wenn die beiden zusammen gespielt haben, dann war es teilweise so, dass bei bestimmten Stücken er sich dann aber doch wieder an einzelne Episoden aus seinem Leben erinnern konnte. Das schien jetzt also so zu triggern und das zeigt auch, dass der Hippocampus natürlich nicht der Ort ist unbedingt, wo die Gedächtnisinformationen liegen, sondern sie sind wahrscheinlich über das gesamte Gehirn, über den gesamten Kortex verteilt, aber eben eine wichtige Rolle spielt beim Abruf oder bei der Orchestrierung der Gedächtnisinhalte. Und wir wissen auch, dass eine Schädigung des Hippocampus sehr lange zurückliegende Gedächtnisinhalte, also sehr früh erworbene, in der Kindheit erworbene zum Beispiel, dass die bei einer Schädigung des Hippocampus intakt bleiben. 

Fischer: Kann man eigentlich, wenn man jetzt ein, weil das 'n Sinne gestörtes Gedächtnis hat, bestimmte Sachen davon auch wiederherstellen? Also sprich zurückholen durch bestimmte Triggerpunkte? Ich meine, Musik haben Sie grade genannt, ja. 

Finke: Das ist eine Frage, die natürlich am häufigsten bei neurodegenerativen Erkrankungen, also sprich, am häufigsten bei einer Demenz, zum Beispiel eine Alzheimer-Demenz aufkommt. Und da ist es tatsächlich so, das ist ein voranschreitender Prozess, der sich heute nicht oder nur fast nicht beeinflussen lässt. Aber auch da gelingt es gerade durch Musik hin und wieder, zumindest vereinzelt, dass man einzelne Episoden reaktivieren kann. Das ist aber nicht so zu verstehen als eine Therapie, die diesen Prozess jetzt umkehren könnte. Es ist in dem Moment, glaube ich, sehr schön, aber ist jetzt keine Therapieoption im eigentlichen Sinne für die Erkrankung. Was, glaube ich, sehr positiv ist, dass die Patienten das eben als sehr schön und als sehr angenehm natürlich erleben, weil sie natürlich in ihrem Alltag mit Verlust von Funktionen den ganzen Tag konfrontiert sind. Und das bringt eben sehr viel Lebensfreude und Lebensqualität häufig zurück bei den Patienten. 

Fischer: Bei dem Cellisten war das ja sehr offensichtlich. Da war ja wirklich oft ganz viel seines Gedächtnisses verloren durch diese Krankheit. Aber viele andere Menschen sind da auch relativ hart und sagen, wenn Sie mal was vergessen haben, Sie hätten ein schlechtes Gedächtnis. Ab wann ist für Sie ein Gedächtnis wirklich ein schlechtes, ein gestörtes? 

Finke: Das Gedächtnis ist dann schlecht, wenn wir in einer standardisierten Testbatterie eine signifikante Abweichung in den Testwerten erheben können. Das ist natürlich manchmal schwierig. Also ich meinte das ja schon eingangs, dass, wenn man Menschen fragt zu ihrem Gedächtnis, ist wahrscheinlich in 90 Prozent der Fälle die Antwort, es könnte besser sein. Ich würde mir wünschen, es wäre besser. Ich vergesse häufiger mal Sachen. Das passiert ja jedem von uns. Und insofern ist wahrscheinlich keiner so rundum und abschließend zufrieden mit seinem Gedächtnis. Und dann hängt das natürlich auch so ein bisschen von der Persönlichkeit ab, ist man jetzt eher ein ängstlicher Typ oder eher so ein bisschen indolent und denkt da nicht so viel drüber nach, ob einem das Sorgen macht. Und es gibt auch viele Patienten, die dann in eine Gedächtnissprechstunde kommen eben mit diesen Beschwerden. Und dann ist eben genau die hohe Kunst herauszufinden, wer von diesen Patienten ist denn jemand, der vielleicht eher besorgt ist oder wo es auch andere Ursachen hat, dass mal das Gedächtnis vielleicht vorübergehend ein bisschen schlechter gewesen ist, was aber jetzt keinen Krankheitswert hat? Und welches ist die andere Gruppe an Patienten, die tatsächlich jetzt eine beginnende, zum Beispiel demenzielle Erkrankung haben? Und was uns da hilft, sind diese standardisierten neuropsychologischen Tests. Wir machen natürlich auch eine Bildgebung vom Kopf im MRT. Wir machen Untersuchungen des Nervenwassers und dann gehört natürlich eine ganze Reihe klinische Erfahrungen dazu. Und dann kann man diese Gruppen weitestgehend trennen, auch wenn das nicht immer perfekt gelingt.

Fischer: Es gibt ja offensichtlich auch die andere Richtung, die gute, wo ich jetzt so sehe, zum Beispiel Weltranglisten von so Gedächtnis-Kings, die wirklich ganz viel drauf haben oder auch Gedächtnismeisterschaften. Wie leicht oder schwer ist es denn, sein Gedächtnis so wirklich zu trainieren, zu Höchstleistungen zu bringen? 

Finke: Es gibt eine ganze Reihe guter sogenannter Mnemotechniken, die einem es erlauben, tatsächlich mehr Gedächtnisinhalte zu erinnern. Die basieren dann auf Vorstellung, dass man bestimmte Inhalte an bestimmten Orten ablegt. Dadurch kann man schon, glaube ich, eine gewisse Steigerung erreichen. Das, was Sie meinen, diese Gedächtniskünstler, das sind sicherlich alles Leute, die auch eine sehr konkrete Begabung haben. Und das sind eben einzelne Ausnahmemenschen und man versteht auch nicht genau, ehrlich gesagt, warum die das können. Es ist nicht so, dass sie dann einen doppelt so großen Hippocampus hätten, sondern das Gehirn sieht eigentlich bei denen erst mal genauso aus wie bei uns allen. Die haben eben diese Begabung und nutzen die Begabung, um anderen Menschen zu zeigen, was man alles sozusagen anstellen kann damit. Für einen selber gibt es sicherlich, es gibt die Möglichkeiten des kognitiven Trainings. Es ist häufig dabei aber so, dass die Trainingseffekte beschränkt bleiben auf genau die Übung oder sehr ähnliche Übungen, die man konkret trainiert. Es ist also nicht so, dass man jetzt denkt, ich mach jetzt mal jeden Tag Sudoku und dann werde ich insgesamt intelligenter. Das funktioniert leider nicht. 

Fischer: Schade.

Finke: Das ist schade, wäre aber auch ein bisschen zu kurz gedacht, ja. Also wenn wir jetzt den ganzen Tag den Bizeps trainieren, würden wir auch nicht erwarten wollen, dass wir danach schneller laufen können. Es ist sicherlich, es gibt eine ganze Reihe Faktoren, von denen wir wissen, dass sie sich sehr positiv auswirken auf das Gedächtnis. Und das sind aber immer die Sachen, die man eigentlich sowieso auch schon empfiehlt. Das ist also regelmäßiger Sport, gesunde Ernährung. Wir wissen, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen dem sogenannten metabolischen Syndrom, also Übergewicht, wenig Bewegung, hoher Blutzucker und auch schlechter kognitiver Performance, auch auf die Dauer. Und das sind sicherlich Dinge, die jeder machen kann und die auch helfen. 

Fischer: Haben Sie eigentlich persönlich, Herr Finke, Angst, dass Ihr Gedächtnis irgendwann schlechter wird? 

Finke: Eigentlich nicht. Also man weiß natürlich nicht, was die Zukunft bringt, aber ich hätte jetzt nicht eine überhöhte Angst vor einer bestimmten neurologischen Erkrankung, jetzt auch nicht vor Gedächtnisdefiziten.

Fischer: Warum überhaupt sind Sie denn beim Gedächtnis gelandet? Sie hätten sich ja auch, keine Ahnung, den Muskelapparat oder das Herz ausschauen können als Forschungsgegenstand. 

Finke: Ich fand die kognitiven Funktionen von Anfang an immer am spannendsten in der Neurologie und ich hab mir das auch lange so ein bisschen offen gehalten, aber es blieb einfach dabei. Ich hab angefangen, Medizin zu studieren hier in Berlin, und hatte dann einen neurologischen Untersuchungskurs bei meinem zukünftigen Doktorvater, der damals mit hoher Begeisterung und Präzision Augenbewegung untersucht hat. Und ich habe dann bei ihm die Doktorarbeit gemacht. Wir haben tatsächlich Augenbewegung genutzt, um Gedächtnis zu untersuchen. Das kann man auch machen. Also aus der Präzision von erinnerten Positionen, man macht dann Augenbewegung dahinter. Aus der Präzision dieser Augenbewegungen kann man auch Rückschlüsse auf die Präzision des Gedächtnisses tatsächlich ziehen. 

Fischer: Das versteh ich nicht.

Finke: Also man muss sich das so vorstellen, man sitzt in einem dunklen Raum vor dem Monitor und dann schaut man die ganze Zeit auf ein Fadenkreuz und irgendwo taucht ein Punkt auf. Man darf aber nicht hinschauen. Man muss die Position sich erinnern, dann vergeht eine gewisse Zeit ein paar Sekunden und dann schaut man da hin. Dann der Punkt verschwindet wieder. Der ist nur ganz kurz da, eine Sekunde. Und man merkt sich die Position und dann schaut man da hin. Und aus der Präzision dieser Augenbewegung können wir rückschließen, wie gut wir uns das gemerkt haben, weil die Augenbewegung an sich machen wir sowieso sehr präzise, kann man sich jetzt mal verkürzt so vorstellen. Und je länger diese Pause ist, desto ungenauer wird auch die Antwort, und die ist natürlich auch zwischen Proband a und b und c auch unterschiedlich. Das ist jetzt ein bisschen ein abstrakteres Thema, aber man kann die Genauigkeit von Augenbewegungen auch nutzen, um Rückschlüsse auf das räumliche Gedächtnis zu ziehen. Und das war im Prinzip der Einstieg, das waren alles gesunde Probanden und im nächsten Schritt haben wir dann tatsächlich Patienten untersucht, die eine chirurgische Entfernung eines Hippocampus hatten bei einer Epilepsie. Eine Epilepsie hat manchmal die Ursache, dass es, geht sie vom Hippocampus aus, dass das Hippocampusgewebe geschädigt ist. Und durch eine chirurgische Entfernung dieses Hippocampusgewebes kann man die Epilepsie deutlich verbessern, das heißt, die Häufigkeit der epileptischen Anfälle reduzieren. Und das ist eine Operation, die eigentlich sehr regelmäßig durchgeführt wird. Und natürlich haben die Patienten dann nur noch einen Hippocampus und man würde ja davon ausgehen, dass sie natürlich dann auch ein schlechteres Gedächtnis haben sollten. Tatsächlich haben sie das auch, aber gar nicht so sehr im Alltag. Also wenn wir diese Patienten fragen, wie war's im Urlaub, dann erzählen die das alle. Die gehen alle arbeiten, die stehen voll im Leben und man würde denen das gar nicht anmerken. Und nur in ganz gezielten Laboruntersuchungen können wir dann tatsächlich rauskitzeln, dass es in sehr bestimmten Konstellationen Defizite gibt, die uns dann wiederum helfen, zu erklären, wie der Hippocampus funktioniert. 

Fischer: Und das fanden Sie so spannend, dass Sie gesagt haben, da bleibe ich dabei. Das ist das Gedächtnis, das interessiert mich.

Finke: Genau, das fand ich dann so spannend, und wir arbeiten jetzt immer noch mit diesen Patienten zusammen. Also im Prinzip seit fast 20 Jahren. Das sind immer noch teilweise die gleichen Patienten, die kommen und wir haben sie sehr lange begleitet und ausgiebig untersucht. Und der beschriebe Cellist wäre sozusagen auch einer dieser Patienten, dieser über viele Jahre hinweg gewachsenen Kohorte und wir haben das dann ergänzt auch durch funktionelle Bildgebung. Wir haben uns nämlich gefragt, wenn dem Patienten ein Hippocampus fehlt und die sind eigentlich im Alltag fast genauso gut wie wir alle, wie machen die das denn? Brauchen wir vielleicht nur einen Hippocampus? Und wir haben die Patienten dann mit einer Kontrollgruppe verglichen und tatsächlich gesehen, dass sie den gesunden Hippocampus, aber auch andere Teile des Gehirns viel stärker aktivieren, die können das also kompensieren. Und das ist ein über mehrere Jahre laufender Prozess und wir sehen eben, dass je stärker diese Aktivierung ist, desto besser schneiden die auch in ihren Gedächtnisaufgaben ab. Und das ist eben das relativ auch sehr Faszinierende am Gehirn, dass es tatsächlich sehr plastisch ist und auf solche Schädigungen reagieren kann, indem es zum Beispiel hier in dem Fall den gesunden Hippocampus einfach stärker rekrutiert offensichtlich. 

Fischer: Wenn Sie jetzt Ihr jetziges Leben auch einfach vergessen könnten, Sie können komplett neu anfangen, was würden Sie anders machen? 

Finke: Komplett neu. 

Fischer: Alles, Tabula rasa. 

Finke: Vielleicht würde ich dann in Italien aufwachsen, ich find's eigentlich ganz schön da. Aber ich muss sagen, ich bin ansonsten eigentlich mit meinem Leben sehr zufrieden und ich mag mein Büro, ich mach das sehr gerne und da würde ich eigentlich gar nichts anderes machen wollen. Und auch sonst bin ich eigentlich ganz zufrieden. Ich mag gar nicht über Alternativen nachdenken, ja. 

Fischer: Schön, wenn man das sagen kann. Professor Doktor Carsten Finke haben Sie gehört, Neurologe, Assistenzprofessor an der Charité Berlin und an der Berlin School of Mind and Brain. Und das Beruhigende ist, dass selbst Menschen wie er, die unser Gedächtnis erforschen, auch mal was vergessen, auch wenn er das nicht so richtig zugegeben hat. Herzlichen Dank für Ihre Zeit auf jeden Fall. Sie haben gehört AskDifferent, den Podcast der Einstein Stiftung. Mein Name ist Nancy Fischer und wenn Sie nicht vergessen, diesen Podcast zu abonnieren, dann hören wir uns beim nächsten Mal wieder.