Fast jeden Tag gehe ich im Foyer des Akademiegebäudes am Gendarmenmarkt an einer Uhr mit einem Ziffernblatt aus Weißmetall vorbei, die dort in einer Vitrine ausgestellt ist. Sie gehörte zur historischen Akademieuhr, die 1787 über dem Hauptportal des einstigen Akademiegebäudes Unter den Linden angebracht wurde. Fast 100 Jahre lang war die Akademieuhr die Normaluhr der Stadt, nach der sich alle anderen Uhren zu richten hatten. Heinrich Heine beschrieb die Szenen, die sich Tag für Tag in ihrer Nähe abspielten: „Sie wundern sich, daß alle Männer hier plötzlich stehen bleiben, mit der Hand in die Hosentasche greifen und in die Höhe schauen?”
In dieser dritten Ausgabe von Albert nähern wir uns einer Wissenschaft, die in der Zeit gräbt. Die Altertumswissenschaften haben seit mehr als 200 Jahren einen hohen Stellenwert in der Stadt. Es begann mit Friedrich August Wolf, der 1807 mit seiner „Darstellung der Alterthums-Wissenschaft” ein Gründungsdokument der jungen Disziplin veröffentlichte und beim Aufbau der Berliner Universität mitwirkte. Auch er wird seine Uhr nach den Zeigern der alten Akademieuhr gestellt haben.
Seither haben Berliner Altertumswissenschaftler, an den Universitäten, der Akademie und den Museen mit wegweisender Grundlagenforschung und ehrgeizigen Grabungskampagnen die modernen Altertumswissenschaften geschaffen (siehe „Berliner Chronik”). Und sie gehen selbstbewusst in die Zukunft, mit fächer- und institutionenübergreifenden Großforschungsprojekten wie dem Exzellenzcluster Topoi und dem neu entstehenden Einstein-Zentrum Chronoi. In dem von der Einstein Stiftung Berlin geförderten Zentrum widmen sich ab 2019 Wissenschaftler ganz unterschiedlicher Disziplinen der Erforschung von Zeit und Zeitwahrnehmung (siehe „Berlin tickt anders”). Auch deshalb haben wir den Wissenschaftsjournalisten Jürgen Nakott gebeten, für dieses Heft einer Frage nachzugehen, die uns alle so oder so ähnlich bewegt: „Wer ist die Zeit?”.
Gleich zu Beginn des Heftes wollen wir irritieren, mit Körpern, die Zeit und Raum zu überschreiten scheinen. Sie treten aus dem Heft heraus zu Ihnen, liebe Leserin und lieber Leser, um Sie zu umarmen, mit Ihnen zu sprechen, sich von Ihnen verwandeln zu lassen. Im Beitrag „Neue Welt” erfahren Sie, wie Sie diese erweiterte Realität wahrnehmen können – und wie solche Techniken in Zukunft helfen können, der Vielschichtigkeit musealer Sammlungen gerecht zu werden.
Altertumswissenschaften betreiben, das bedeutet nicht nur, in der Erde zu wühlen. Es bedeutet auch, mit der Synchrotron-Strahlenquelle Bessy II zerfallene Papyri zu entziffern (siehe „Entfaltete Zeit”), babylonische Algorithmen zu dechiffrieren (siehe „Albert fragt”) oder den Wiederaufbau zerstörter syrischer Kulturschätze vorzubereiten (siehe „Stunde Null”). Dass es aber für Archäologen nach wie vor wichtig ist, Hand anzulegen, um zu neuen Erkenntnissen zu gelangen, manchmal auch gleich vor der Haustür, zeigt die Reportage „Unter uns” über die Grabungen am Seddiner Königsgrab.
Mit diesem Heft wollen wir zeigen, dass die Altertumswissenschaften in all ihrer Vielfalt zu Beginn des 21. Jahrhunderts alles andere als angestaubt sind. Berliner Altertumsforscher stellen sich den großen Fragen unserer Zeit. Auch der nach der Zeit. Nehmen Sie sich etwas davon und lassen Sie sich von Albert entführen.
Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen bei der Lektüre!
Text: Günter Stock, Vorstandsvorsitzender Einstein Stiftung Berlin