Freiheit als Entscheidung, Teil 1... oder: Wie frei ist unser Wille, Marcel Brass?
Wir treffen permanent Entscheidungen – alltägliche, wie bei der Auswahl eines Gerichts im Restaurant, oder lebensbestimmende, wie Kinder zu bekommen. Obwohl wir uns im Allgemeinen darüber im Klaren sind, dass solche Entscheidungen nicht vollständig selbstbestimmt sind, haben wir doch den Eindruck, dass wir die Möglichkeit haben, uns für die eine oder die andere Alternative zu entscheiden. Aber wie realistisch ist diese Einschätzung?
Die Frage des freien Willens wurde über Jahrhunderte in der Philosophie kontrovers diskutiert und ist stark mit Fragen nach Verantwortung und Moral verknüpft. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts wurde sie auch von der Psychologie aufgegriffen. Willensfreiheit kann aus psychologischer Sicht aus mindestens zwei Perspektiven betrachtet werden, nämlich wie frei unser Wille ist und wie relevant es ist, dass wir an die Existenz des freien Willens glauben. In diesem Beitrag gehen wir der ersten Frage nach und widmen uns in Teil zwei der zweiten Frage.
Willensfreiheit ist in der Psychologie stark mit Bewusstsein verknüpft. Bereits in der Tiefenpsychologie kultivierte Sigmund Freud die Annahme, dass sich viele Entscheidungen, die wir treffen, aus unserer Vergangenheit erklären. Warum wir eine Entscheidung treffen, ist uns demnach zum Zeitpunkt der Entscheidung oft nicht bewusst.
Ein weiterer relevanter Forschungsbereich ist die Sozialpsychologie nach dem zweiten Weltkrieg. Teilweise motiviert durch die Gräueltaten des Nationalsozialismus stellten sich Sozialpsycholog:innen wie Stanley Milgram die Frage, wie unabhängig menschliche Entscheidungen von ihrem unmittelbaren sozialen Umfeld sind. In seinem klassischen Experiment konnte Milgram zeigen, dass das Verhalten des Individuums entscheidend durch den unmittelbaren sozialen Kontext geprägt ist und dass nur wenige sich in ihrem Handeln von sozialen Hierarchien freimachen können. Zu ähnlichen Schlussfolgerungen kam Solomon Asch in seinen Experimenten zu konformen Verhalten in Gruppensituationen.
In meinem Labor haben wir ähnliche Experimente in virtueller Realität wiederholt. Wir konnten zeigen, dass selbst im virtuellen Kontext die individuelle Entscheidung durch die Gruppe stark beeinflusst wird. Auch wurde dieser Einfluss größer, wenn sich die Versuchsperson stärker mit der Gruppe identifizierte.
Wie unabhängig Entscheidungen getroffen werden können, untersucht auch die Forschung zur Bahnung. In diesen Experimenten wird der Versuchsperson ein bestimmter Reiz dargeboten, den sie nicht bewusst wahrnehmen kann, und sie muss dann eine Handlungsentscheidung treffen. Dabei stellte sich heraus, dass dieser Reiz die Handlung beeinflusst, auch wenn ihn die Versuchsperson nicht bewusst wahrgenommen hat.
Alle diese Befunde deuten darauf hin, dass unsere Entscheidungen durch eine Reihe von Faktoren wie unsere Vergangenheit, unseren sozialen Kontext und auch durch Reize in unserer Umgebung stark beeinflusst werden, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Nun lässt sich einwenden, dass diese Befunde nicht wirklich den freien Willen als solches in Frage stellen, sondern vielmehr zeigen, dass unsere Entscheidungen nicht im luftleeren Raum stattfinden.
Während sich also die beschriebene Forschung mit der Frage beschäftigt hat, wo die Grenzen freier Entscheidungen liegen, glaubten kognitive Neurowissenschaftler:innen zeigen zu können, dass bewusster freier Wille, wie wir ihn alle erleben, grundsätzlich eine Illusion ist. Der Psychologe Benjamin Libet führte in diesem Zusammenhang bahnbrechende Experimente durch. Hierzu ließ er Versuchspersonen eine sehr einfache Aufgabe ausführen und den Zeitpunkt der Ausführung selbst entscheiden. Zugleich sollten die Versuchspersonen den Zeitpunkt angeben, an dem sie die Entscheidung zur Ausführung getroffen hatten. Ihre Angaben entsprachen unserer Intuition zu freien Entscheidungen: Erst treffen wir eine bewusste Entscheidung und dann setzen wir diese in die Tat um.
Genialerweise maß Libet jedoch währenddessen auch die Hirnaktivität der Versuchspersonen. Er wollte wissen, was in unserem Gehirn passiert, bevor wir bewusst eine Entscheidung treffen. Hierzu maß er das sogenannte Bereitschaftpotential, eine ansteigende Welle im Gehirn, die willentlichen Handlungen vorausgeht. Die entscheidende Frage war dabei, wie sich das Bereitschaftspotential im Verhältnis zu dem Zeitpunkt unserer bewussten Entscheidung verhält. Gemäß unserer Intuition vom freien Willen sollten wir erst die Entscheidung treffen und dann sollte das Bereitschaftspotential ansteigen. Überraschenderweise konnte Libet jedoch zeigen, dass das Bereitschaftpotential schon einige hundert Millisekunden vorher anstieg. In anderen Worten: Unser Gehirn scheint die Entscheidung schon getroffen zu haben, bevor wir uns dessen bewusst werden. Aber wie kann unsere bewusste Entscheidung der Auslöser für unsere Handlung sein, wenn diese bewusste Entscheidung schon von Hirnprozessen vorweggenommen werden, derer wir uns nicht bewusst sind?
Dieser Widerspruch hat eine ganze Generation von Philosoph:innen und Psycholog:innen beschäftigt. Auch wenn immer wieder methodische Einwände gegen das Experiment von Libet vorgebracht wurden, setzte sich trotzdem die Idee durch, dass die Ergebnisse des Experiments nicht mit unserer Intuition von freiem Willen vereinbar sind. Wir glauben zwar, dass wir bewusste Entscheidungen treffen, die dann den weiteren Gang unserer Handlungen bestimmen. Aber eigentlich werden die Entscheidungen schon getroffen, bevor wir uns ihrer bewusst werden.
Erst in den letzten Jahren wurde diese Idee nachhaltig in Frage gestellt. Auslöser dafür waren Befunde, die nahelegen, dass das Bereitschaftpotential nicht etwa das Resultat einer unbewussten Entscheidung abbildet, sondern vielmehr den gesamten Entscheidungsprozess selbst. Diesen Modellen zufolge werden fortlaufend Informationen für eine bestimmte Entscheidung gesammelt, bis sie in ausreichendem Maße vorliegen. Erst dann wird die Entscheidung getroffen (oder nicht) - vergleichbar mit dem Bild einer Welle vor der Kaimauer. Zwar schwappen kleine Wellen permanent dagegen, aber nur manchmal überwinden sie ihre Schwelle. Die eigentliche Entscheidung wird in diesem Bild aber erst dann getroffen, wenn die Welle über die Kaimauer schwappt. Übertragen auf die Aufgabe von Libet wird die Entscheidung also erst sehr spät getroffen (wenn die Schwelle überschritten wird) und nicht etwa schon hunderte Millisekunden bevor wir uns ihrer bewusst werden. Dadurch wäre diese Interpretation der Daten mit unserer Intuition vom freien Willen vereinbar.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass psychologische und neurowissenschaftliche Forschung keine überzeugende Evidenz gegen unsere Intuition vom bewussten freien Willen liefern konnten. Die Frage, ob wir einen freien Willen haben oder nicht, bleibt daher eine theoretische, philosophische, die zumindest durch empirisch-neurowissenschaftliche Forschung nicht abschließend beantwortet werden kann.
Text: Marcel Brass, Mai 2024