Freiheit als Entscheidung, Teil 2... oder: Warum ist der Glaube an Willensfreiheit relevant, Marcel Brass?
Während sich die psychologische Forschung mit der grundsätzlichen Frage ob freier Wille existiert übernommen hat (siehe Teil 1 meines Beitrags), kann sie dennoch einen wichtigen Beitrag zu einer anderen Frage liefern, die in diesem Zusammenhang sehr relevant ist: Macht es einen Unterschied, ob wir glauben, dass freier Wille existiert oder nicht? Diese Frage ist weitgehend unabhängig von der nach der Existenz des freien Willens. Ich möchte dies am Beispiel einer anderen Glaubensfrage, nämlich des Glaubens an Gott, verdeutlichen. In den letzten 100 Jahren haben sich religiöse Überzeugungen in Mitteleuropa stark verändert. Der Glaube an Gott spielt heute in vielen Ländern eine wesentlich geringere Rolle und dies hat unsere Gesellschaft maßgeblich verändert. Niemand wird allerdings behaupten, dass wir bezüglich der Existenz Gottes wesentlich neue Erkenntnisse gewonnen hätten. Zwar hat sich unser Weltbild nachhaltig verändert und ist stärker durch wissenschaftliche Erklärungsmodelle geprägt, aber die Existenz Gottes bleibt eine Glaubensfrage.
Ähnlich könnte es sich mit Überzeugungen zum freien Willen verhalten. Auch wenn wir keine wesentlichen neuen Erkenntnisse bezüglich der Frage gewonnen haben, ob der freie Wille existiert oder nicht, findet möglicherweise doch eine Veränderung in den Überzeugungen zu freiem Willen statt. Da jedoch moralische Überzeugungen stark an die Vorstellung des freien Willens gekoppelt sind, könnte dies einen wesentlichen Einfluss auf unser gesellschaftliches Leben haben.
Interessanterweise hat sich die Philosophie schon seit längerem damit beschäftigt, ob Überzeugungen zum freien Willen relevante Implikationen haben. Hierbei haben sich im Wesentlichen drei Positionen herausgebildet. Die erste postuliert, dass es keinen Unterschied macht, ob wir an freien Willen glauben oder nicht. Diese Position wurde schon von David Hume prägnant formuliert. Er argumentiert, dass – selbst wenn sich herausstellen sollte, dass der freie Wille nicht existiert – wir uns dennoch nicht anders verhalten würden. Die Vorstellung des freien Willens ist so eng mit unseren moralischen Überzeugungen verknüpft und so stark in unserem Verhalten und unseren Emotionen verwurzelt, dass wir uns nicht davon lösen können.
Demgegenüber gibt es zwei philosophische Positionen, die postulieren, dass Überzeugungen zum freien Willen unser Verhalten nachhaltig beeinflussen. Die eine geht davon aus, dass es absolut katastrophal wäre, wenn wir zu der Überzeugung gelangten, dass der freie Wille nicht existiert, da ja viele unserer moralischen Intuitionen auf der Annahme eines freien Willens basieren. Demgegenüber argumentieren Vertreter:innen der entgegengesetzten Position, dass es positive Konsequenzen haben würde, wenn wir zu der Überzeugung gelangten, dass der freie Wille eine Illusion ist. So würden zweifelhafte gesellschaftliche Sanktionsmechanismen ohne die Annahme von freiem Willen ihre Berechtigung verlieren. Denn warum sollte ich beispielsweise jemanden aus Vergeltung für eine bestimmte Handlung bestrafen, obwohl er oder sie sich nicht frei für diese Handlung entscheiden konnte.
Was sagt die empirische Forschung dazu? In einer klassischen Studie führte die amerikanische Sozialpsychologin Kathleen Vohs ein interessantes Experiment durch. Sie ließ Versuchspersonen Textpassagen lesen, die entweder für oder gegen den freien Willen argumentierten. Dann gab sie den Versuchspersonen die Möglichkeit, unbemerkt in einer Aufgabe zu schummeln. Zunächst zeigten die Befunde, dass die Versuchspersonen durch die Texte tatsächlich kurzfristig ihre Überzeugungen zum freien Willen veränderten. Darüber hinaus fand man, dass Versuchspersonen, die die Textpassage gelesen hatten, die gegen einen freien Willen argumentierte, mehr schummelten als die anderen.
In meinem Labor haben wir die Methodik aufgegriffen und eine Reihe von Studien durchgeführt, um den Einfluss von freiem Willen auf grundlegende sozial-kognitive Prozesse zu untersuchen, wie beispielsweise ob Personen, die an den freien Willen glauben, das Handeln anderer als absichtsvoller erleben. So ließen wir Versuchspersonen beim Betrachten eines Fußballvideos einschätzen, ob ein Stürmer absichtlich die Hand benutzte oder nicht. Interessanterweise konnten wir zeigen, dass Versuchspersonen, die zuvor positiv über den freien Willen geurteilt hatten, eher dazu neigten, dem Fußballspieler absichtsvolles Handspiel zu unterstellen.
In einer weiteren Studie wollten wir herausfinden, ob Richter:innen, die einen Text lesen, der den freien Willen in Frage stellt, eher zu härteren Urteilen neigen. Hierzu legten wir Richter:innen aus Berlin fiktive Fälle vor. Das Ergebnis: Obwohl das Lesen des Textes einen Einfluss auf die Überzeugungen zum freien Willen hatte, veränderten die Richter:innen dennoch nicht ihre fiktiven Urteile. Auch zeigte sich grundsätzlich kein Zusammenhang zwischen Überzeugungen zum freien Willen und der Härte des Urteils.
Rückblickend stellten sich einige der experimentellen Untersuchungen als schwer replizierbar heraus. Dennoch scheint es grundsätzlich einen Zusammenhang zwischen Überzeugungen zum freien Willen und unserem Verhalten zu geben. Personen, die an freien Willen glauben, nehmen sich und andere eher in die Verantwortung. Darüber hinaus erleben sie mehr Kontrolle über die Konsequenzen ihres Handelns. Es könnte also für das Individuum durchaus positive Effekte haben, an den freien Willen zu glauben.
Wenn nun abschließend also die Frage offen ist, ob der freie Wille existiert oder nicht, dann scheint es in Anbetracht dieser Befunde sinnvoll, die Frage auf der glaubensebene mit „ja“ zu beantworten, sich also für den freien Willen zu entscheiden oder sich zumindest so zu verhalten, als gäbe es ihn. Können wir uns aber dazu entscheiden an etwas zu glauben? Dies wird zumindest von Teilen der Philosophie bezweifelt.
Text: Marcel Brass, Mai 2024