Roger Traub

Mit Mathematik will Roger Traub das menschliche Gehirn verstehen. Von 2010 bis 2014 arbeitete der Experte für die Computersimulation von neuronalen Netzen als Einstein Visiting Fellow mit dem Charité-Exzellenzcluster Neurocure zusammen. Schwerpunkt des Mathematikers und Mediziners vom IBM Watson Research Center ist das Schwingungsverhalten von Neuronen. Die von ihm entwickelten Modelle des Gehirns geben unter anderem wichtige Hinweise auf die Ursachen von Epilepsie.

 


»Ohne Modelle wären wir verloren«

Das Gehirn ist ein Denkorgan – und es besteht aus vielen einzelnen Zellen. Wie das Gehirn als Ganzes funktioniert, können wir im Moment noch nicht erfassen. Aber wir beginnen zu verstehen, wie die einzelnen Zellen miteinander interagieren, und irgendwann wird uns das auch helfen zu verstehen, wie Bewusstsein zustande kommt.

Ich entwickle Computermodelle von einzelnen Gehirnzellen und von neuronalen Netzen, um zu untersuchen, wie die Zellen über die Synapsen oder auch auf anderen Wegen Botschaften untereinander austauschen. Diese Modelle bringe ich dann in Verbindung mit Experimenten an In-vitro-Gehirnschnitten und mit Messungen bei Menschen.

Für so ein Modell einer Gehirnzelle lege ich die Eigenschaften der Zellmembran experimentell fest, die in gewisser Weise Tiefsee-Datenkommunikationskabeln gleicht und mit derselben partiellen Differentialgleichung beschrieben werden kann. Ich definiere die Eigenschaften der Proteine in dieser Membran, deren Verhalten sich nach der Stärke des lokalen elektrischen Felds richtet, betrachte die Wechselwirkung zwischen elektrischen und chemischen Signalen – und führe all diese Informationen schließlich zusammen. Dafür sind riesige Datenspeicher und viele Jahre Arbeit erforderlich. Für das Modell, mit dem ich am meisten arbeite, habe ich fünf Jahre Entwicklungszeit gebraucht, es besteht aus mehr als 35.000 Codezeilen mit einigen Tausend Zellen.

Im Moment liefern meine Modelle vor allem wichtige Ergebnisse für die Erforschung der Epilepsie. Unsere Forschung hier an der Charité in Berlin hat gezeigt, dass sich die elektrischen Aktivitätsmuster im Gehirn während eines epileptischen Anfalls experimentell nachbilden und detailliert verstehen lassen. Dabei legen wir ein mit Kollegen entwickeltes Modell zugrunde, das die „spitze Wellen“ genannten elektrischen Entladungen während eines Anfalls auf die „gap junctions“ zwischen den wichtigsten Zellen zurückführt. Sollte sich dieses Modell als richtig erweisen, wäre der Nachweis gelungen, dass Gehirnaktivitäten auch auf anderen Wegen als nur über Synapsen zustande kommen. Möglicherweise lassen sich epileptische Anfälle sogar über die Regulation der Gap-Junction-Kommunikation unterbinden.
Aufgrund der ungeheuren Komplexität des Gehirns sind wir in der Forschung auf mathematische Modelle mit vielen verschiedenen Gleichungen und Simulationen angewiesen. Ohne solche Modelle würden wir im Dunkeln tappen. Das ist wie bei der Wettervorhersage – allein der Versuch wäre ohne mathematische Modelle aussichtslos.

Interview: Mirco Lomoth
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