Diversität in der Wissenschaft: Bremse oder Beschleunigung?

Ein Essay von Prof. Dr. Ulrich Dirnagl, Wissenschaftlicher Sekretär des Einstein Foundation Award, für die Sonderbeilage des Tagesspiegel zur Berlin Science Week 2023, erschienen am 11.10.2023
 

Die rasante Entwicklung von Vakzinen gegen das Corona-Virus oder die kürzlichen Durchbrüche in der KI-Forschung sind nur zwei Beispiele für aktuelle spektakuläre Erfolge der Wissenschaft. Konzentriert man sich aber nicht nur auf solche Leuchttürme, sondern betrachtet das Wissenschaftssystem als Ganzes, sieht die Sache weniger rosig aus. Zwar forschen weltweit so viele wie nie zuvor: 90 Prozent aller Wissenschaftler:innen, die je existiert haben, sind noch am Leben – und veröffentlichen jährlich Millionen von Artikeln.


Trotzdem nimmt das produzierte, wirklich neuartige Wissen ab. „Papers und Patente werden immer weniger disruptiv“ titelte eine viel beachtete, erst vor Kurzem in Nature veröffentlichte Studie. Wie kann es sein, dass trotz gigantischem Input immer weniger Weltbewegendes herauskommt? Wissen wir schon (fast) alles? Waren frühere Generationen von Wissenschaftler:innen einfach genialer? Ist das, was die Welt im Innersten zusammenhält, mittlerweile einfach zu komplex für uns? Gibt es schon zu viel Wissen und wir kommen nicht mehr hinterher? Oder nehmen gar die Qualität und Originalität der Forschung kontinuierlich ab? Oder haben wir vielleicht ein ganz grundlegendes Problem bei der Auswahl von Personal und Projekten in der Wissenschaft?

Gutachter bevorzugen "ähnliche Forschung"

Wie effektiv die Wissensgenerierung ist, hängt nicht nur von der Qualität der Ausbildung, sondern auch von den Forschungsbedingungen und den Kriterien ab, nach denen Forschungsgelder verteilt werden. Hierfür hat sich weltweit der ‚Peer review‘ etabliert. Gelder werden nicht mit der Gießkanne verteilt, sondern nach gegenseitiger Begutachtung durch Fachexperten. Das klingt sehr vernünftig, nur bringt dies auch Probleme mit sich die sich auch aufgrund des enormen Anstiegs von Forschung und Resultaten massiv verschärft haben. Denn bewertet wird mittlerweile im Wesentlichen nach den Kriterien ‚Exzellenz‘ und ‚Originalität‘. Diese Begriffe sind soziale Konstrukte, die uns wenig darüber sagen, wie gut die zu beurteilende Wissenschaft tatsächlich ist, aber alles darüber, wer die Auswahl trifft. Gutachter neigen dazu, Forschung zu bevorzugen, die ihrer eigenen „ähnelt“. Da zukünftige Generationen von Forscher:innen von den aktuellen ausgewählt und gefördert werden und Individuen dazu tendieren, aufgrund bewusster und unbewusster Vorurteile Personen auszuwählen, die ihnen und ihren Überzeugungen ähneln, werden Forscherteams immer homogener.


Das System ist homophil: Bei Auswahlprozessen kommen homogen zusammengesetzte Kommissionen zu ähnlichen Entscheidungen, da man die gleiche Wertematrix teilt. Vom Bekannten abweichende und deshalb risikoreichere Projekte und Kandidat:innen werden mit höherer Wahrscheinlichkeit aussortiert. Auch kommt es zur Konzentration von Ressourcen, frei nach Matthäus (Mt 25,29): „Wer hat, dem wird gegeben“.


Führende Wissenschaftsorganisationen und Forschungsförderer weltweit beklagen daher seit einiger Zeit, dass es der Wissenschaft an Diversität fehle. Die sprichwörtlichen "weißen alten Männer", also die arrivierten, immer noch überwiegend männlichen Professoren entscheiden darüber, wer an was forschen darf. Man muss nur auf die Zusammensetzung der Kommissionen und Kollegien der Deutschen Forschungsgemeinschaft oder die Liste der Nobelpreisträger:innen schauen. Diese Homogenität der Entscheidungsträger führt zu wenig Vielfalt in der Forschung und unter den Forschenden selbst.

Es geht nicht nur ums Geschlecht

Bei Diversität geht es keineswegs nur um das Geschlecht. Ethnizität, Alter, Fähigkeiten, kultureller oder sozioökonomischer Hintergrund, ‚atypische‘ Karrierewege usw. spielen für Vielfalt eine mindestens ebenso große Rolle. Im deutschen Wissenschaftssystem arbeitet man sich noch vorrangig an der Erhöhung des Frauenanteils ab, ein erweiterter Diversitätsbegriff hat sich noch nicht recht durchgesetzt.  Obwohl in frühen Karrierephasen z. B. das Geschlechterverhältnis in vielen Bereichen noch recht ausgeglichen ist, ändert sich dies mit Fortschreiten der Karriere. Auf dem Level der Professor:innen und Institutsdirektor:innen – also bei denen, die im System das Sagen haben – dominieren die deutschen Männer, mit typischer, sehr homogener Sozialisation. Der Kreislauf schließt sich, es ist dafür gesorgt, dass sich nichts ändert. Nicht überraschend ist daher, dass oft gerade die etablierten Wissenschaftler ein Problem mit dem Kriterium „Diversität“ in der Forschungsbewertung haben.


Es ist sehr plausibel, dass Diversität Forschung innovativer und kreativer, robuster, origineller und globaler machen kann; dass sie Problemlösung, Qualität, Zusammenarbeit und Zugang zu unterrepräsentierten Gemeinschaften erhöht und dass Forschungsfragen breiter werden und die Forschungsergebnisse damit insgesamt relevanter. Es gibt hierzu eine Reihe von Studien, die dies auch belegen. Diese sind jedoch korrelativ und basieren zumeist nicht auf gezielten und kontrollierten Interventionen. Man muss deshalb festhalten, dass empirische Belege für einen positiven Einfluss vielfältiger Denkansätze und Teams auf die Qualität der Forschung noch weitgehend fehlen. Vermutlich ist dies auch einer der Gründe, warum die Bemühungen der Universitäten und Forschungsförderer um mehr Diversität, Inter- und Transdisziplinarität sowie „Team-Science“ bisher von wenig Erfolg gekrönt waren. Die Zweifler verweisen auf die dünne Datenlage und warnen vor unintendierten negativen Wirkungen einer Veränderung des Status quo. Gegen einen Kandidaten mit Nature Paper wird sich eine Kandidatin mit atypischem Lebenslauf oder diverser Ethnizität deshalb weiterhin kaum durchsetzen können.


Besonders kommende Generationen von Forscherinnen und Forschern, die Antworten auf globale Fragen finden müssen, benötigen dringend Daten und Erkenntnisse zu diesem Thema. Deshalb lädt der Einstein Foundation Award for Promoting Quality in Research in Kooperation mit dem QUEST Center for Responsible Research am Berlin Institute of Health gemeinsam mit der Berlin University Alliance und der Alexander von Humboldt Stiftung Nachwuchsforschende aus der ganzen Welt ein, sich zu diesem Thema auszutauschen und gemeinsam Lösungen zu entwickeln. Ein Expert:innenpanel wird diese kollektive Expertise aufgreifen und gemeinsam mit dem internationalen Publikum der Berlin Science Week am 03.11.2023 im Naturkundemuseum diskutieren (zur Veranstaltung).