#6: Michel Chaouli
Kritik neu denken

Intro: Für mich ist die wichtigste Veränderung, die ein Buch hervorbringt, dass es in mir eine Art Kreativität freisetzt. Dass diese Axt, die in der Seele landet, nicht nur eine Wunde erzeugt oder einen Schmerz, das ist das Bild bei Kafka, sondern auch etwas freisetzt. AskDifferent, der Podcast der Einstein Stiftung mit Nancy Fischer.
Nancy Fischer: Wer in einer Ausstellung, im Museum war oder ein sehr prägendes Buch gelesen hat, der kennt diese Situation vielleicht. Man sucht dann erstmal im Internet nach Kritiken zum Erlebten. Wie sehen es denn die Kulturkenner? Zerreißen sie die Bildersammlung des Künstlers in der Luft oder feiern sie das kompromisslose Experimentieren? Fanden Sie das Buch mit der komplexen Handlung so richtig mutig oder so richtig langweilig? In jedem Fall wird folgendes passieren: Sie werden die Meinung einer Person lesen oder hören, gut durchargumentiert im besten Fall und sehr eindeutig, mehr aber auch nicht. Kulturkritik, nicht nur im Journalismus, sondern generell, ist das Thema von Professor Michel Chaouli. Er will sie hinterfragen und er will wissen, gibt's denn Alternativen dazu, durch die man Kunst vielleicht ganz neu erfahren kann? Michel Chaouli erforscht das hier in Berlin an der Friedrich Schlegel Graduiertenschule der Freien Universität, wo er Projektleiter des philologischen Laboratoriums ist. Und Einstein Visiting Fellow. Und wir sind bei Ihnen zu Gast. Hallo, Herr Chaouli.
Michel Chaouli: Hallo.
Fischer: Gab es denn zuletzt eine Kritik, die Sie irgendwo gelesen haben und wo Sie dachten, genau deshalb will ich es anders machen?
Chaouli: Ja, das passiert mir ständig. Weniger in Zeitungen und Zeitschriften, denn da ist ja die Arbeit des Kritikers sehr oft die des Urteilens und deswegen geht man dahin. Man will wissen, war der Film, war die Ausstellung letztendlich gut oder schlecht, sehenswert oder nicht, sondern eher bei sogenannten wissenschaftlichen Arbeiten. Sie werden sehen, im Laufe des Gesprächs wird vielleicht klar, dass ich wissenschaftlich in Anführungszeichen oder jedenfalls mit einer gewissen Distanz benutze. Nicht, weil ich die Wissenschaft für übel halte, ganz im Gegenteil, sondern weil ich meine, dass das, was ich und viele meiner Kollegen machen, eigentlich im Grunde nicht wissenschaftlich ist, sondern eine andere Dimension hat, die sehr, sehr stark ist und wichtig, aber die mit Wissenschaft nicht genau zu verwechseln ist. Aber gut, jedenfalls es passiert mir ständig. Gerade heute Vormittag habe ich einen Artikel eines Kollegen gelesen, der vehement kritisch geschrieben hat und wo ich dachte, genauso will ich es nicht machen. Nicht, weil er unrecht hatte, sondern weil ich den Eindruck hatte, dass er immer recht hat und dass er eigentlich nie aus einer Position heraus schreiben kann, in der er möglicherweise unsicher ist oder wo die Frage des Rechthabens oder Nicht-Rechthabens vielleicht sogar suspendiert ist.
Fischer: Wenn Sie sagen, es geht bei Ihnen gar nicht so vorrangig um die Kritik des Journalistischen, vielleicht können wir für den einen oder für die andere noch mal so ein bisschen diesen schwammigen Begriff der Kritik konkreter fassen. Also was verstehen Sie darunter?
Chaouli: Also es gibt eine sehr große Bandbreite, Sie haben vollkommen recht, von dem, was Kritik genannt wird. Wir haben in meinem Projekt deswegen erstmal, ob Sie's glauben oder nicht, zwei Jahre lang eine Art Grundlagenforschung betrieben, auch das in Anführungszeichen, über die Art und Weisen, wie diese Kritik in die Tradition eingeführt wurde. Ich kann jetzt nicht alle Stadien mit Ihnen durchsprechen, aber nur sei gesagt, dass es ein sehr, sehr vielfältiger Begriff ist mit sehr vielfältigen Strategien. Der Kritikbegriff, der mich bewegt und der mich am meisten interessiert, ist derjenige, der am meisten unter meinen Kollegen, also an den Universitäten, aktiv ist und das ist eine Variante des Ideologiebegriffs. Und Ideologiebegriff kann man ganz einfach darstellen, das ist nichts Kompliziertes. Es ist im Grunde der Gedanke, dass wir – und meistens meine ich damit Sie und nicht mich, aber Sie werden sehen, warum –, von Beweggründen geleitet werden, die Sie nicht kennen und die größer und tiefer sind als all Ihr Willen, all Ihre Intentionen, all Ihre Affekte, Ihre Vorlieben und so weiter. Und dass Ihr Handeln letztendlich dirigiert wird durch diese Kräfte, die ich als Kritiker aufzeigen kann. Und meine Geste besteht darin, Ihr Verhalten dadurch aufzudecken und möglicherweise zu einer Therapie zu führen, obwohl der letzte Schritt ist sehr, sehr unklar. Das mache ich natürlich nicht im persönlichen Umgang, und mit Sie meinte ich nicht Sie persönlich, sondern das kann ein Kunstwerk sein, das kann ein Parteiprogramm sein, über das wir sprechen. Das kann eine soziologische Formation sein und so weiter. Aber letztendlich ist die grundlegende Geste die des Aufdeckens, dass etwas im Verborgenen liegt, eine Art Machtstruktur, die vorher nicht erkannt wurde. Und der Kritiker nimmt das jetzt auf sich, dies aufzudecken und hat dann die triumphale Geste zum Schluss und zu sagen, bitte Leute, hier liegt der Hund begraben. Also Ideologiebegriff ist die am weitesten verbreitete Variante der Kritik, mit der wir uns jetzt beschäftigen und die ich versuche zu suspendieren in meiner eigenen Arbeit.
Fischer: So wie Sie's mir erklärt haben, find ich's eigentlich ganz logisch. Es gibt ein Stück, sagen wir mal, ein Buch, ein Kulturgut in der weitesten Form und jemand anderes sagt, das ist aber aus den und den Gründen schlecht. Was spricht denn dagegen?
Chaouli: Es ist nicht so sehr, dass es schlecht ist. Es geht ja nicht um eine ästhetische Bewertung, sondern ich kann einen Roman nehmen, sagen wir mal, einen Ramschroman sogar. Und ich würde sofort zugeben, dass der nicht von sehr hoher ästhetischer Qualität ist. Ich meine jetzt als Kritiker, aber ich kann immer noch bestimmte Strukturen, sagen wir von sexistischer Gewalt oder von bestimmten Marktmechanismen oder von der Art und Weise, wie Minderheiten in einer Gesellschaft dargestellt werden, dort aufdecken. Also es geht nicht um eine ästhetische Bewertung, sondern es geht darum, die Tiefenstruktur in einer Sache aufzudecken. Und bei dieser Tiefenstruktur können Sie verschiedene Kriterien haben. Sie können ein Marxist sein und sagen, die echte Tiefenstruktur liegt in den ökonomischen Verhältnissen. Sie können Psychoanalytiker sein und sagen, ja, mein Lieber, Du glaubst, das ist ein Witz einfach, aber eigentlich sind die und die psychischen Tiefenstrukturen am Werk. Sie können feministisch arbeiten in verschiedenen Versionen und sagen, es sieht so aus, als sei das und das am Werk, aber eigentlich, das ist immer der springende Punkt, ist etwas Tieferes am Werk. Bei all diesen Arten Kritik zu betreiben, geht es letztendlich darum, dass ich etwas weiß, was Ihnen verborgen geblieben ist. Mein Bedenken gegenüber dieser Sache ist das, was ich vorhin sagte, nämlich, dass der Kritiker etwas weiß, das dem anderen verborgen bleibt, und dass der Kritiker selbst immer recht hat bei dieser Sache, nie überrascht werden kann letztendlich, nie bewegt werden kann, sich nicht verändern muss durch irgendeine Art von Begegnung und letztendlich derjenige ist, der von der Kraft zum Beispiel eines Kunstwerkes immer unberührt bleibt.
Fischer: Wenn Sie jetzt sagen, es interessiert Sie da, neue Herangehensweisen zu finden, also neue Möglichkeiten, Kritik in der Form auszuüben, welche Ideen haben Sie da?
Chaouli: Es gibt da sehr verschiedene Möglichkeiten. Meine eigene Möglichkeit oder meine eigene Idee besteht darin, eine neue Art von Beschreibung von Kunstwerken und der Beschreibung der Begegnung mit Kunstwerken zu betreiben. Und da sind drei Begriffe für mich sehr wichtig. Der eine Begriff ist Intimität. Mit Intimität meine ich, dass wenn ich mit einem Kunstwerk in eine Begegnung komme, dass ich nicht ein fremdes Objekt, ein Objekt, als sei es von einem anderen Stern gefallen, zu tun habe, dass ich erst einmal mühsam unter die Lupe nehmen muss, sondern dass wir schon einmal von Anfang an eine Art von Gemeinsamkeit haben. Denn sonst gibt es nur ein taubes Unverständnis, ein Unberührtsein. Ich war voriges Jahr in Mexiko, in Yucatan, wo es sehr viele Maya-Bauwerke gibt mit sehr elaborierten Inschriften. Ich war interessiert, aber völlig unberührt von diesen Objekten, weil die mir überhaupt nichts sagten. Das heißt, es gab keine Art nach meiner Begrifflichkeit Intimität zwischen uns. Es gab einfach nur ein Fremdsein. Das war ein Beispiel eines Fremdseins, was ein völlig anderes Fremdsein ist als zum Beispiel mit einer Kurzgeschichte von Kafka. Wo ein Fremdsein entsteht, das aber nur als Basis die hat, dass wir uns eigentlich schon irgendwie kennen. Das ist ja auch eine Erfahrung, die man eigentlich nur mit Freunden hat. Wenn Sie ein Missverständnis mit einem Freund oder einer Freundin haben, ist das ja sehr viel tiefergehender als mit einer Person zum Beispiel, wo sie auch keine gemeinsame Sprache haben. Wo ein Missverständnis ja überhaupt nicht aufdeckbar ist auch vielleicht. Also für mich ist Intimität extrem wichtig als eine Grundvoraussetzung.
Fischer: Intimität ist sozusagen einer Ihrer Aspekte. Es gibt ja noch zwei andere. Welche sind das denn?
Chaouli: Die hängen alle eng miteinander zusammen. Der zweite Begriff ist Intensität. Für mich bedeutet Intimität eine Art Grundtenor einer Begegnung, aber eine Begegnung gewinnt erst Bedeutsamkeit, wenn dann Momente von Intensität entstehen. Und diese Intensität kann zum Beispiel eine Erfahrung des Unverständnisses sein, um auf das Beispiel zurückzukommen. Sie lesen Kafka und Sie wissen irgendwann nicht, wie Sie weitermachen sollen. Das ist ein Moment von Intensität. Und der dritte Begriff, der für mich wichtig ist, der funktioniert besser auf Englisch. Ich habe keine gute Entsprechung dafür im Deutschen gefunden, ist opacity, das bedeutet opaque sein, das Undurchsichtige, Nichttransparent sein. Und damit meine ich nicht, dass Objekte für mich nicht transparent sind, das ist sowieso klar. Ich kann nie eine Sache ganz durchschauen, sondern ich meine, dass meine eigene Erfahrung mir letztendlich immer opaque bleibt. Also, dass selbst die Frage, warum werde ich von einer Sache angezogen? Warum rede ich zum Beispiel im Laufe dieses Gespräches so oft von Kafka? Mir selbst gegenüber unklar bleibt.
Fischer: Wobei ich jetzt denken könnte, Sie sind ja studierter Literaturwissenschaftler, also Kafka ist vielleicht einfach irgendwas, was Sie persönlich sowieso interessiert. Reicht das nicht als Begründung?
Chaouli: Sicher, es gibt allerdings sehr viel anderes, was ich kenne, aber es gibt dann immer bestimmte Dinge, auf die man zurückgreift und auf die man immer wieder zurückkommt. Und für jeden ist das etwas anderes. Selbstverständlich, Sie haben recht, es gibt Texte, die gehören einer Tradition an und man muss sich irgendwie nicht dafür rechtfertigen, warum man als Literaturwissenschaftler über Kafka spricht oder über Goethe oder über Fontane. Das ist richtig. Aber dennoch, die Art und Weise, wie ich über etwas spreche, warum wähle ich diesen Text, diesen Abschnitt, dieses Wort aus und nicht etwas anderes, das ist eine Sache, die kann ich in gewisser Weise begründen, aber den echten Knotenpunkt, warum das wirklich so ist, der bleibt mir selber unklar. Und der Punkt ist, dieser echte Knotenpunkt ist eigentlich das Wichtigste an der ganzen Sache. Was treibt mich an? Was macht mir Angst? Ist schwieriger als was macht mir Freude? Das sind Fragen, die man sich in der Wissenschaft nicht stellt und in gewisser Weise nicht stellen darf. Ich kann nach einem Vortrag, den jemand gehalten hat, fragen, was sind Ihre Belege? Was ist Ihre Methode? Aber es wäre ein Affront zu fragen, was macht Ihnen Angst? Und ich will versuchen, auf eine Art und Weise zu schreiben, aber auch zu unterrichten, dass solche Fragen nicht unmöglich sind.
Fischer: Bleiben wir mal bei Kafka. Also wenn wir das Beispiel nehmen, können Sie uns über Kafka eine mögliche neue Form von Kritik mal erläutern? Also wie würden Sie's machen?
Chaouli: Kafka sagt in einem Brief, dass wir ein Buch nicht lesen, weil wir uns vergnügen wollen, sondern ein Buch soll uns beißen und stechen und es soll die Axt sein für das Eis in unserer Seele. Das ist eine starke, aber auch eine melodramatische Formulierung. Aber ich versteh das so, dass ein Buch, um erstmal bei der Literatur zu bleiben, eine Veränderung in uns hervorbringen soll. Das ist die zahmere Version von Kafkas Wunsch. Und diese Veränderung, die das Buch in uns hervorbringt, das kann ja alles Mögliche sein. Für mich ist die wichtigste Veränderung, die ein Buch hervorbringt, dass es in mir eine Art Kreativität freisetzt. Dass diese Axt, die in der Seele landet, nicht nur eine Wunde erzeugt oder einen Schmerz, das ist das Bild bei Kafka, sondern auch etwas freisetzt. Und wenn Kafka das schafft, das heißt, wenn ich Kafka lese und als, wenn Sie so wollen, Antwort darauf oder Reaktion, es fertigbringe, etwas zu schreiben oder etwas zu schaffen, das muss ja nicht schreiben sein, das in einer gewissen Beziehung steht zu Kafka, aber meine eigene Kreativität freisetzt, dann ist das eine erfolgreiche Art für mich, poetische Kritik zu betreiben.
Fischer: Damit sind wir beim Stichwort poetische Kritik. Also Sie arbeiten ja an der Friedrich Schlegel Graduiertenschule und dieser Schlegel hat Sie auch inspiriert. Also er hat diesen Begriff geprägt der poetischen Kritik und dazu schreiben Sie auch gerade ein Buch, was in diesem Jahr veröffentlicht wird. Wie würden Sie einem Kind erklären, was das ist?
Chaouli: Ich weiß nicht, ob man das einem Kind erklären kann. Ich will nicht sagen, dass ein Kind zu dumm ist dafür, sondern man braucht einfach eine Art Tiefe der Erfahrung, auf diese Frage überhaupt zu stoßen. Und es ist nicht unbedingt klar für mich, dass es eine Frage ist, für die ein Kind sensibel sein kann oder sein soll. Ich würde das so sagen, wie wir das gerade besprochen haben. Poetische Kritik ist die Fähigkeit, sagen wir mal, eine Erfahrung auf eine kreative Weise weiterzuführen. Das kann in unendlich vielen Formen passieren. Es gibt keine Regeln dafür. Das macht meine Studenten sehr nervös, denn sie wollen natürlich eine Anleitung haben, verständlicherweise, wie man etwas macht. Es soll ja eine Methode geben in dem, was wir machen. Das ist ein weiterer Grund, warum ich sage, dass das, was wir machen, nicht strictly speaking eine Wissenschaft ist, denn ich kann Ihnen kein Rezept geben dafür, wie das passieren soll. Ich kann nur sagen, es gibt bestimmte Arten, auf etwas zu reagieren. Roland Barthes schreibt über Balzac auf eine völlig neue, komplett verrückte Weise, wo man zuerst sagt, das ist unmöglich, das kann man nicht machen. Und er eröffnet nicht nur die Geschichte von Balzac auf eine völlig interessante, noch nie vorher gesehene Weise, sondern er erweitert die Möglichkeiten, was es bedeutet, Kritik zu machen. Ich will mich nicht mit Roland Barthes vergleichen, überhaupt nicht. Ich wünschte, ich könnte das. Aber ich will nur sagen, ich möchte mich inspirieren lassen von dieser Art, von dieser Vorgehensweise. Also Kritik für mich ist nicht poetisch, wenn ich ein Instrumentarium, so komplex es ist, auf etwas anwende und sage, so, das und das will dieser Text sagen. Nein. Sondern es ist umgekehrt. Das und das erlaubt dieser Text, dass ich spreche.
Fischer: Bei Ihren Fächern, also Sie haben ja Vergleichende Literaturwissenschaft, Germanistik, Philosophie studiert. Ich denke mir da, ich finde es super, dass sich Menschen damit intensiv beschäftigen, aber für die allermeisten anderen hat das ja gar keinen praktischen Nutzen. Oder was haben beispielsweise unsere Zuhörerinnen und Zuhörer ganz konkret von Ihrer Forschung?
Chaouli: Das ist schwer zu sagen. Ich denke, die meisten Menschen würden auf Anhieb von sich selber sagen, dass sie mit diesen Fächern vielleicht nichts Direktes zu tun haben, was auch stimmt. Aber sehr wenige Menschen würden von sich selber sagen, dass sie keinen Spaß am Lesen oder am Fernsehen oder am Film haben. Es gibt sehr wenige Menschen, die überhaupt kein Ohr für irgendeine Art von ästhetischer Erfahrung haben. Es wird bestimmt Menschen geben, ich gebe es zu. Aber es ist keine gewöhnliche Erfahrung. Es ist für jeden Menschen diese Dimension des Lebens eine außerordentlich wichtige. Ebenso ist es mit philosophischen Fragen. Ich habe es mit meinen eigenen Söhnen erlebt. Es ist sehr, sehr einfach, Kinder für philosophische Fragen zu interessieren. Denn bestimmte philosophische Probleme lassen sich sehr leicht in Kindersprache übersetzen. Also zum Beispiel die Frage nach Gott, die für sehr junge Kinder schon relevant wird, oder warum es einen Teufel gibt zum Beispiel. Das sind ganz einfache Geschichten, die man erzählen kann, die aber sofort eine philosophische Dimension haben. Also wir sind in unserem Leben, selbst in unserem Alltag, nie weit von diesen Fragen. Es gibt dann Leute wie mich zum Beispiel, die sich dann weiter oder länger, die die Geduld haben, sich mehr mit diesen Fragen auseinanderzusetzen. Das wird vielleicht merkwürdig erscheinen, aber es gibt Leute, die sich enger und intensiver mit Bienen befassen oder mit Perserteppichen oder was auch immer. Und das ist einfach so unter Menschen. Wir haben unterschiedliche Interessen, aber jedes dieser Interessen kann, glaub ich, bei anderen Menschen aktiviert werden.
Fischer: Ich kann mir trotzdem vorstellen, dass Sie vielleicht als Kind jetzt selbst nicht unbedingt gesagt haben, ich will mal Literaturwissenschaftler werden oder will mal Philosophie und Ästhetik studieren. Wie kamen Sie denn eigentlich zur Wissenschaft?
Chaouli: Ich komm aus einer Familie, wo niemand studiert hatte. Meine beiden Eltern haben nicht einmal Abitur. Mein Vater war bis zur neunten Klasse in der Schule im Iran. Meine Mutter hatte die mittlere Reife. Niemand hatte eine Universität von innen gesehen. Es war mir überhaupt nicht in die Wiege gelegt, ganz und gar nicht. Und ich hatte auch nicht diese Vorstellung. Ich bin da eigentlich mit der Zeit hineingerutscht. Es gibt ja Leute, die wissen, seitdem sie zwölf sind, dass sie irgendwann mal, was weiß ich, Hirnchirurg werden. Das war bei mir überhaupt nicht der Fall. Ich hatte keine Ahnung. Ich wusste nur, dass ich nicht das machen will, was die Leute in meinem Umfeld machten. Die meisten waren Kaufleute, die Männer, und die Frauen waren Hausfrauen. Und das wusste ich relativ früh. Ich hatte das große Glück, dass meine Eltern meine Ausbildung unterstützt haben. Und ich hatte das große Glück, dass sie mich ermuntert haben, an die Uni zu gehen, obwohl sie nicht richtig verstanden haben, was ich da mache und dass sie nie eigentlich interveniert haben. Ich versuche das jetzt mit meinen eigenen Söhnen auch so zu machen. Die haben mich wirklich machen lassen und ich bin in diese Fragen hineingerutscht, mehr oder weniger. Irgendwann mal habe ich gesehen, ah, wenn ich Geschirr spüle oder Gemüse schneide, dann driften meine Gedanken in eine bestimmte Richtung. Und das sind die Gedanken, die mich eigentlich interessieren. Und man muss dann irgendwann mal darauf hören. Wenn man Glück hat, kann man sich dann länger damit beschäftigen. Und dieses Glück habe ich bisher gehabt.
Fischer: Ja, und dann hatten Sie das Glück und haben studiert in den USA und zwar wirklich an den besten der besten Universitäten. Sie waren in Harvard, in Yale, in Berkeley, Kalifornien. Wie wichtig ist denn so ein Umfeld, also unter den besten der besten für Geisteswissenschaftler wie Sie?
Chaouli: Es ist in gewisser Weise sehr wichtig. Diese Art von Stimulation und Inspiration, die man bekommt, wenn man mit sehr, sehr guten Leuten zusammen ist, lässt sich überhaupt nicht fassen, denn es lässt sich durch nichts anderes ersetzen. Das geht einfach nicht. Entweder hat man das oder man hat es nicht. Andererseits ist es auch so, dass diese Eliteuniversitäten, jedenfalls die, die Sie genannt haben und die ich ein bisschen von innen kenne, eine Art Druck ausüben können, der für Leute, die nicht stark genug sind, einschränkend wirken kann. Ich gehörte vielleicht zu den Leuten, ich weiß es nicht, ich kann das nicht beurteilen. Aber für mich war jedenfalls dann der Umzug irgendwann mal an die Indiana University, auch eine sehr gute Universität, aber keine dieser, sagen wir mal, zehn oder 15 Eliteuniversitäten in den USA, auch eine Art von Befreiung. Ein gewisser Druck lässt nach und man kann dann etwas unorthodoxer denken. Es gibt viele Leute in Harvard, die das selbst da schaffen. Das sind wirklich Ausnahmeerscheinungen. Die sind großartig. Ich will das nicht verallgemeinern. Ich will nur sagen, dass es für mich so war. Also einerseits ist die Simulation, auch der Druck, dieser pressure cooker. Der Dampfkessel, der da entsteht, ist großartig. Andererseits kann er auch einschränkend wirken. Also man darf das auch nicht, glaube ich, idealisieren.
Fischer: Jetzt haben Sie Indiana angesprochen, da haben Sie immer noch eine Professur und sind ja auch hier die ganze Zeit im Prinzip in der Lehre, in der Forschung. Nervt Sie dieses immer Theoretische, dieses immer Geistige eigentlich auch mal? Also denken Sie nicht auch manchmal, ich will mal nur was Praktisches machen?
Chaouli: Ich wüsste nicht genau, was nur was Praktisches bedeutet.
Fischer: Holzhacken im Wald eine Woche lang.
Chaouli: Das würde mich, glaub ich, langweilen oder ermüden lassen, möglicherweise langweilen. Ich merke an mir selber, ich arbeite sehr gerne mit meinen Händen. Ich koche sehr gern zum Beispiel, aber selbst wenn ich koche, denke ich nach. Das heißt, ich denke nicht so nach, wie ich beim Schreiben nachdenke oder in dem Gespräch jetzt mit Ihnen nachdenke, aber es ist keine leere Aktion. Ich bewundere in gewisser Weise Leute, die das schaffen. Das ist ja eine ganz besondere spirituelle Fähigkeit. Ich selbst verspüre allerdings nicht das Verlangen danach. Ich empfinde das nicht als eine Belastung, sondern eher als eine Bereicherung und mir fehlt das sehr stark, wenn ich eine Zeit lang nicht gelesen habe oder geschrieben habe oder ein Gespräch geführt habe. Ich fühle, dass dann mein Leben an Inhalt verliert.
Fischer: Was gibt Ihnen das? Also dieses Arbeiten innerhalb des Ortes Universität?
Chaouli: Die Universität ist für mich eine der wenigen Institutionen, die ich nicht nur liebe, sondern die ich verteidige, denn sie ist ein Ort für mich und jetzt idealisiere ich, wo das Denken und Forschen und Wissen für sich selbst und nicht für einen bestimmten Zweck immer noch praktiziert wird. Ich weiß, ich würde sofort von meinen Kollegen angegriffen werden, denn die würden sofort sagen, nein, die Universität hat sich verändert. Wir arbeiten auf bestimmte Ziele hin, wir sollen Rechenschaft abgeben und so weiter. Das stimmt. Sie hat sich verändert. Aber nach meiner Erfahrung und in dem Umfeld, in dem ich arbeite, ist das immer noch der Fall. Und diese Möglichkeit, dass es eine Institution gibt, die sagt, wir schaffen einen Rahmen, wo Leute forschen und denken, weil sie etwas wissen wollen, nicht weil es einen bestimmten Zweck hat, ist eine Institution, die ich schätze über alles und die ich deswegen sehr stark verteidigen möchte. Denn das ist eine Möglichkeit für eine menschliche Gesellschaft, die man nicht verlieren darf. Und die auch jedem offenstehen sollte.
Fischer: Sie haben uns ja eben schon verraten, dass Sie sehr gerne kochen in Ihrer Freizeit. Können Sie da gut Kritik vertragen?
Chaouli: Das kommt drauf an, wie das vorgetragen wird und von wem vor allen Dingen. Denn da sind wir wieder bei unserem Thema, denn Kritik ist ja nicht etwas Neutrales. Wenn Sie mir sagen, dass Ihnen etwas nicht gefällt, was ich gemacht hab, es ist ja was etwas vollkommen anderes, als wenn mein Sohn mir das sagt oder meine Partnerin oder meine Schwester, und es kommt auf den Tonfall an. Also das Poetische in der Kritik ist, dass Kritik nicht reduzierbar ist auf einen Satz oder selbst auf ein Urteil, sondern dass diese gesamte Art und Weise, von wo kommt sie und in welcher Weise kommt sie, ist das Entscheidende daran. Ich kann manchmal sehr dünnhäutig sein, wenn Kritik aus einer bestimmten Position kommt. Andererseits kann ich auch Kritik auf Weisen vertragen, wenn sie von Kollegen kommen, die mich eigentlich nicht besonders viel angehen. Und dann geht es eben nicht unter meine Haut.
Fischer: Gibt es einen Punkt, letzte Frage jetzt, in Ihrer Forschung, wo Sie sagen, da würde ich gerne hinkommen? Das ist ein Ziel, das ist eine Vision, die ich noch habe?
Chaouli: Ich würde sehr, sehr gerne Dinge schreiben, wo Leute, die sie lesen, sagen, das inspiriert mich, ich will mich auch hinsetzen und schreiben. Wenn ich das schaffe, dann wäre ich sehr glücklich. Das heißt, ich will nicht, dass sie überzeugt sind von dem, was ich sage. Ich will nicht, dass sie sagen, Chaouli hat recht, sondern ich will, dass sie sagen, so was würde ich auch gerne machen.
Fischer: Michel Chaouli ist Literaturwissenschaftler, Philosoph und Germanist und seit zwei Jahren als Einstein Visiting Fellow an der Friedrich Schlegel Graduiertenschule der FU Berlin und er leitet hier das philologische Laboratorium. Ich danke Ihnen sehr für Ihre Zeit, Herr Chaouli. Wir haben viel gelernt, zum Beispiel, wie wir Kunst mal anders hinterfragen können. Und apropos fragen, Sie haben gehört, dem Podcast der Einstein Stiftung. Mein Name ist Nancy Fischer und ich freu mich, dass Sie dabei waren.