#35 - Stefan Willer
Wie gerecht ist erben?
Wie gerecht ist erben?
Intro: Also ist es richtig, ist es rechtens oder ist es gerecht, dass das Eigentum in dieser Weise auf potenziell Unendlichkeit gestellt werden kann, weil es immer weiter vererbt werden darf und eben in diesem Eigentum keine Lücke entsteht? Oder wäre es eigentlich wichtig, diese Lücke und diese Schwelle sehr stark zu machen und zu sagen, gut, bis hierher und dann müssen wir aber überlegen, wie geht's weiter nach dem Tod der der Eigentümer?
#AskDifferent, der Podcast der Einstein Stiftung. Warum Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler anders fragen.
Marie Röder: Heute mit Marie Röder. Willkommen zum Podcast. Beim Thema Erbschaft denke ich zunächst einmal an Immobilien, Wertpapiere, vielleicht auch an ein Familienschmuckstück. Doch Erbschaft ist längst nicht nur auf diese Vermögensebene begrenzt. Es gibt auch kulturelles Erbe, biologisches Erbe und sogar Macht ist, so kann man argumentieren, vererbbar. Und damit stellt sich natürlich auch die große Frage, wie gerecht ist Erben eigentlich? Wir wollen uns heute diesem Thema nähern und die unterschiedlichen Bedeutungen von Erben kennenlernen, und zwar mithilfe von Professor Stefan Willer. Stefan Willer ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin und er ist Teil des Einstein-Zirkels „Limality and Transfer“. Schön, dass Sie heute hier sind, Herr Willer.
Stefan Willer: Ja, danke für die Einladung.
Röder: Professor Willer, ich habe es gerade schon angedeutet, der Begriff Erben ist mehrdeutig. Wie definieren Sie das Konzept Erben und welche verschiedenen Formen des Erbens gibt es eigentlich?
Willer: Erbe ist immer irgendeine Art von Transfer, das ist eins unserer beiden Titelwörter, also Transfer das eine und Liminalität das andere. Das mit der Liminalität kriegen wir vielleicht so nach und nach miteinander raus im Gespräch. Transfer tatsächlich Übergabe von einer Entität zur anderen, von einer Person zur anderen, von einer Generation zur anderen. Es geht darum, dass etwas weitergegeben wird, und dieses Etwas kann sehr unterschiedlich sein. Also wie Sie es gesagt haben, es kann sich um Eigentum handeln, ganz konkretes, Materielles oder Monetäres oder Monetarisierbares. Es kann aber auch um Eigenschaften gehen oder um Dispositionen zu Eigenschaften, die in biologischen Erbgängen weitergegeben werden, wobei hier das Wort Erbe schon seit Langem umstritten ist, ob das überhaupt richtig ist oder nicht viel zu metaphorisch, weil man dann immer schon gleich an Eigentumsvererbungen denkt. Aber das ist der zweite Punkt, den ich starkmachen würde neben dieser, sagen wir mal, juristisch-ökonomischen Vererbung. Und das Dritte wäre tatsächlich das von Ihnen schon erwähnte kulturelle Erbe. Also ich denke an diese drei Dimensionen Eigentumsvererbung, biologischer Vererbung und kulturelles Erbe.
Röder: Wie sieht's aus mit Macht? Ich hab das ja gerade schon so angedeutet. Inwiefern ist Macht vererbbar?
Willer: Ja, man könnte vermuten, dass die Vererbung von Macht so eine Angelegenheit von feudalen und aristokratischen Regimen ist, mehr oder weniger in der Vergangenheit oder am Rande des politischen Geschehens geparkt, etwas, was das ancien regime betrifft und mit den bürgerlichen Revolutionen des 18. Jahrhunderts eigentlich erledigt ist. Und die sind ja auch angetreten, diese Vererbung von Macht in Familien und Dynastien zu beseitigen. Aber ich finde es interessant, wie das Erbe eigentlich immer wieder auch als eine Machtsukzession und -übergabe zurückkehrt. Und man kennt Politikerfamilien in vielen Demokratien. Man kennt in der amerikanischen Politik die Präsidentenfamilien, die sozusagen teilweise von Generation zu Generation durchgehen, oder auch in Partnerschaften oder Ehen. Also die Clintons, also im zweiten Falle hat's ja nicht geklappt, aber sozusagen ja und die Kennedys natürlich. Und es ist sehr spannend, dass das schon frühzeitig beobachtet worden ist.
Man findet das sehr interessant bei Max Weber, dem bedeutenden Soziologen des frühen 20. Jahrhunderts, der sich sehr interessant über das Erbe geäußert hat und den es gerade auch als ein Machtphänomen interessierte. Er hat diesen wichtigen und weitreichenden Begriff des Charismas, also das, was Herrscherfiguren in irgendeiner Weise auszeichnet, was sie wählbar macht in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen von Wahl, aber die jetzt nicht qua Geburt es schon sind. Aber dann hat er sich gefragt, wie geht denn dieses Charisma irgendwie weiter? Wie geht das von einem Herrscher zur nächsten Herrscherfigur? Und da hat er dann schon überlegt, ob es nicht auch so was wie ein Erbcharisma gibt oder zumindest die Behauptung, dass es das gibt. Und das macht er dann tatsächlich auch schon in der modernen Politik dingfest und findet's grade interessant, dass das in den USA so besonders zu funktionieren scheint.
Röder: Ich hab's ja grade schon erwähnt, Sie sind Teil dieses Einstein-Zirkels Liminality and Transfer und vielleicht können wir hier mal gleich auf diesen Begriff Liminalität zu sprechen kommen. Und dabei handelt es sich ja um den Zusammenschluss von Wissenschaftler:innen aus verschiedensten Universitäten und Disziplinen, die sich mit diesem Thema Erben beschäftigen. Sie sind Literaturwissenschaftler. Was bringt Sie denn zu diesem Thema?
Willer: Es ist ein literarisch unglaublich reichhaltiges und interessantes Thema. Es gibt so viele Geschichten von der Bibel bis in die Gegenwartsliteratur, die mit Vererbung zu tun haben, in der Regel natürlich mit Konflikten ums Erbe. Da wird's ja immer spannend für die Literatur, etwas zu fokussieren, etwas zu erzählen oder dramatisch darzustellen, was nicht reibungslos funktioniert. Und beim Erbe kann man vielleicht sagen, da ist der Streit, da sind die Konflikte immer mit eingepreist. Deswegen ist es für die Literatur im Sinne tatsächlich auch der Fiktion eine sehr spannende Angelegenheit.
Ich selbst habe mich eigentlich mehr in der Weise damit beschäftigt, dass mich die Kultur- und Wissenschaftsgeschichte von Erbe und Vererbung interessiert hat, also gar nicht im engeren Sinne der schönen Literatur, sondern tatsächlich erst mal als Aufschlüsselung eines Zusammenhangs, den ich mir vor allem fürs 19. und 20. Jahrhundert angesehen habe. Also wo sozusagen nach den Bürgerlichen Revolutionen dann das Erbrecht einigermaßen stabilisiert und kodifiziert wird und trotzdem die Konflikte nicht aufhören. Das ist sozusagen diese ja auch interdisziplinäre Geschichte des Erbes, wo diese verschiedenen Aspekte, die wir schon gesprochen haben, mit reinspielen. Und die Literatur kam da für mich in diesen Arbeiten, die schon ein bisschen zurückliegen, so ins Spiel, dass sie selbst ein, sagen wir mal, ein Erbstück wird. Also die Frage, was gibt es eigentlich innerhalb der literarischen Kultur zu vererben? Das hat mit den Nachlässen von Autorinnen und Autoren zu tun. Das hat damit zu tun, wie literarische Traditionen gestiftet oder beansprucht werden, wie man toter großer Vorgänger gedenkt und wie überhaupt ja tatsächlich Kulturpolitik und Literatur interagieren. Und das hab ich mir eben tatsächlich auch für vor allem das späte 19. und bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts angesehen.
Röder: Und was hat es jetzt mit diesem Begriff Liminality, Liminalität auf sich?
Willer: Der spielt für uns, also in dieser Gruppe, in diesem Einstein-Zirkel auf verschiedenen Ebenen eine Rolle. Das hat damit zu tun, dass man irgendwie mit Schwellen und Grenzen und Grenzüberschreitungen und Schwellenübergängen zu tun hat, wenn man über Erbe nachdenkt. Also Liminalität sozusagen als Versuch einer Begrenzung, die aber auch immer wieder zu Entgrenzungen führt. Und eine ganz wichtige Grenze oder Schwelle, wenn man über das Erbe nachdenkt, ist der Tod. Also es muss jemand sterben, damit vererbt werden kann, so jedenfalls in der Eigentumsvererbung. Das ist ja eigentlich der entscheidende Punkt. Das ist sozusagen trivial, aber in jedem Einzelfall ist es natürlich überhaupt nicht trivial. Das heißt, man hat es mit Tod, mit Trauer, vielleicht auch mit dem Triumph der Überlebenden zu tun und der Frage, inwiefern jetzt tatsächlich eine bestimmte Art von Eigentumsübertragung aktiviert werden kann und muss.
Das hat ganz viele verschiedene Facetten. Eine, die ich sehr spannend finde, die tatsächlich zum ganz modernen Erbrecht gehört, findet sich im Bürgerlichen Gesetzbuch: die Notwendigkeit, das Erbe so zu konzipieren, dass es keine Lücke im Eigentum gibt. Also das Ganze muss so konzipiert werden, dass im Moment des Todes des Erblassers der Erbfall schon eintritt. Natürlich ist es in der Realität eine ziemlich komplizierte Sache, also die mit Amtsgerichten zu tun hat, vielleicht dann auch mit Konflikten zwischen potenziellen Erbenden. Und umso wichtiger ist es dem Gesetzgeber, hier sozusagen die Fiktion, und das ist eine juristische Fiktion, von Ordnung zu schaffen oder jedenfalls Lückenlosigkeit zu garantieren. Also das heißt, das ist eine ziemlich starke Grenze und Schwelle, die aber irgendwie glatt gemacht werden soll.
Ein anderer Punkt, über den wir in der Gruppe ziemlich viel sprechen, ist die Frage, wie endlich oder unendlich das Eigentum als solches denn eigentlich sein sollte. Also ist es richtig, ist es rechtens oder ist es gerecht, dass das Eigentum in dieser Weise auf potenziell Unendlichkeit gestellt werden kann, weil es immer weiter vererbt werden darf und eben in diesem Eigentum keine Lücke entsteht? Oder wäre es eigentlich wichtig, diese Lücke und diese Schwelle sehr stark zu machen und zu sagen, gut, bis hierher. Und dann müssen wir aber überlegen, wie geht's weiter, ja, nach dem Tod der der Eigentümer.
Röder: Lassen Sie uns mal diesen Gerechtigkeitsgedanken aufgreifen. In den vergangenen Jahren ist ja diese Diskussion über eine Reform der Erbschaftssteuer immer wieder neu entfacht. Hintergrund dieser Debatte ist, dass es in Deutschland eine große Ungleichheit in der Verteilung von Erbe gibt. Es wird sehr viel vererbt, schätzungsweise etwa 400 Milliarden Euro in Vermögenswerten jedes Jahr. Aber das meiste Vermögen wird zwischen Generationen sehr reicher Familien über Jahrzehnte weitergegeben. Das heißt, während andere gar nichts erben, gibt es halt Familien, die sehr viel Vermögen immer weiter anhäufen. Also das führt natürlich dazu, dass der Unterschied zwischen Arm und Reich wächst. Wie gerecht ist also Erben, dieses Prinzip Erben?
Willer: Ich finde an der Stelle tatsächlich wichtig, die Diagnose einigermaßen differenziert anzugehen. Das heißt, natürlich hat man oft jedenfalls und auch oft nicht zu Unrecht superreiche Individuen oder superreiche Familien vor Augen, wenn man an so was denkt und gerade die Milliarden sozusagen sich als Zahl vor Augen führt. Ich find's ganz interessant, es ist ja oft etwas schwierig und oft auch etwas misslich, wie man etwas bebildert. Mir ist vor einiger Zeit ein sehr interessanter Artikel aufgefallen im Philosophiemagazin, wo es aber eben offenbar die Verlegenheit gab, was für ein Bild nehmen wir? Und das Bild zeigte eine Hand, die eine, ich glaube, Plastiktüte hält, in der ganz viele Perlen drin sind, um sozusagen Fülle von Reichtum und Übergabe ins Bild zu fassen. Das ist natürlich sehr plakativ, aber ich glaube, das ist eine Vorstellung, die man sich sehr oft macht. Sozusagen die tote, die kalte Hand gibt eine Fülle von Reichtum an eine oder weniger andere Individuen.
Ein Punkt, den man zum Beispiel relativierend möglicherweise anführen könnte, wäre die Vererbung in Familienunternehmen, wo es jetzt ja nicht nur um individuellen Reichtum geht, um den geht es auch, aber es geht auch um ökonomische Stabilität, Verlässlichkeit, um Arbeitsplätze und so weiter. Es gibt eine unglaublich rege und aktive Interessenvertretung, was Familienunternehmen angeht. Die sind natürlich bestrebt, gerade auch die Erbschaftssteuer in Grenzen und im Rahmen zu halten, damit man nicht bei jedem Transfer innerhalb der Familie dann dieses Unternehmen gefährdet. Wenn man die ja durchaus oft diskutierte und auch schon lange, auch seit 250 Jahren und länger diskutierte Radikallösung diskutiert, Vermögensvererbung überhaupt abzuschaffen, dann käme man hier jedenfalls an eine starke Grenze wiederum der Machbarkeit einer solchen Radikallösung. Aber es ist wichtig, denke ich, auch diese Positionen ins Kalkül zu ziehen oder in die Diskussion zu integrieren, was wir in unserer Gruppe auf jeden Fall auch tun.
Also es gibt da durchaus starke Positionen. Wir arbeiten sehr unterschiedlich in verschiedenen Disziplinen zwischen Philosophie und Geschichte, zwischen Literaturwissenschaft und Rechtswissenschaft. Und da sind jetzt, sagen wir mal, normative Argumentationen längst nicht bei uns allen überhaupt das, womit wir arbeiten. Aber wenn man normativ argumentiert, dann kann man natürlich wirklich versuchen, das Argument stark zu machen und zu vertreten, dass es Vermögensvererbung eigentlich gar nicht geben sollte aus Gleichheits- und Gerechtigkeitsgründen. Und dann muss man überlegen, wie sollte das denn aber gehen? Also erstens, was kann man für Gegenargumente vorbringen? Zweitens, wie sollte es konkret gehen? Und bei der Machbarkeit muss man sich eben wirklich fragen, innerhalb von Familien wird vererbt, so sagt es unser Erbrecht. Wenn man außerhalb der Familie vererbt, ist es schon immer schwieriger. Wenn es keine Familienangehörigen gibt, ist es leichter. Aber wenn man irgendwie versucht, durch einzelne Vermächtnisse und so weiter über den Regelerbfall sozusagen hinauszugehen oder davon abzuweichen, ist es schon sehr schwierig.
Aber wenn wir jetzt mal bei dem Familienerbe bleiben. Familien sind natürlich Orte von Traditionsstiftung auf ganz unterschiedlichen Ebenen. Das hat sehr viel mit Bildungschancen zu tun und das hat eben nicht nur mit Geld und mit Erberwartung, was am Ende steht, zu tun. Und dann könnte man eben weiter überlegen, wenn wir jetzt hier wirklich Gleichheit und Gerechtigkeit schaffen wollen, dann müsste man eigentlich sozusagen an die Familie als solche ran. Und dann könnte man sagen, gut, wirkliche Gerechtigkeit und Gleichheit entsteht nur, wenn man alle Kinder aus ihren Familien rausnimmt und sie alle in der gleichen Weise erzieht. Ich sage das jetzt nur, das ist vielleicht am Horizont sozusagen als totalitäre Fantasie.
Und deswegen scheint es mir wichtig, vielleicht eine andere Stellschraube umso mehr in den Blick oder in die Hand oder was man auch immer mit Schrauben genau macht zu nehmen, und das ist die Erbschaftssteuer. Das heißt, das wäre nicht die Radikallösung, Erbe ja oder nein, sondern tatsächlich zu sehen, was ist das, der Anspruch, der Rechtsanspruch der Allgemeinheit auf dem Wege natürlich über den Staat, den Fiskus als Vermögensobjekt, an diese Vermögen ranzugehen und das wirklich immer auch neu nachjustieren zu können. Und das ist in vielen Systemen natürlich eine heilige Kuh. Da sollte man nicht ran und ich finde, man muss da unbedingt ran an die Erbschaftssteuer.
Röder: Ich würde noch mal gern ein Argument aufgreifen, was in dieser Debatte halt auch immer wieder genannt wird. Und zwar, dass Erben an sich dem Leistungsprinzip unserer Gesellschaft widerspricht, nämlich dass Wohlstand an eine Leistung gebunden ist. Wenn man erbt, hat man erst mal selbst für dieses Erbe nicht gearbeitet, sondern jemand hat davor dafür gearbeitet. Was sagen Sie zu diesem Argument?
Willer: Dazu sage ich als Literaturwissenschaftler, dass jetzt ein Zitat kommt, das immer kommt, wenn jemand über das Erbe nachdenkt, aber nicht zu Unrecht, denn es ist ein sehr bedenkenswertes und reichhaltig resonierendes. Aus dem Faust von Goethe, wo der Titelheld irgendwann das geflügelte Wort ausspricht: Was Du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen. Dazu müsste man ganz viel sagen, in welcher Situation Faust das sagt. Er sagt es zu sich selbst in einer absoluten Krisensituation, aber der Grundgedanke, um den es da jedenfalls geht, ist, dass Erbe und Erwerb zusammenhängen. Also was Du ererbt von deinen Vätern hast, was schon irgendwie dein zu sein scheint, erwirb es, um es zu besitzen. Also das heißt, es muss irgendwie, damit das legitim wird oder eine bestimmte Art von Rechtsförmigkeit gewinnt, muss das Erbe erworben werden. Und darüber gibt es eine Fülle von reichhaltigen und in verschiedene Richtungen gehenden und wie ich finde hochinteressanten Überlegungen.
Also das jedenfalls das Verdienstvolle, das Meritokratische, was man eigentlich irgendwie so gerne hätte, was natürlich auch ideologisch sein kann und auch seine eigenen Voraussetzungen irgendwie bedacht werden müsste, dass das aber nicht das ganz andere ist als das Erben. Es geht auch jetzt mal so ein bisschen in Richtung biologische Vererbung und die Geschichte der Überlegungen zum biologischen Erbe, in so was wie Vererbung erworbener Eigenschaften. Also auch da ist ja Erbe und Erwerb aufeinander bezogen. Eine sehr, ja, verdächtig gewordene, kann man vielleicht nicht mal sagen, sondern irgendwie über weite Strecken der Biologiegeschichte auch lächerlich gemachte Einschätzung, dass das so möglich sein soll. Also berühmtes Beispiel, die Giraffe reckt ihren Hals, um an die schönen Blätter hoch oben im Baum zu kommen, vererbt diesen etwas länger gereckten Hals direkt an ihre Nachkommen, die dann noch den Hals etwas länger recken können und irgendwann hat man die fertige Giraffe mit dem schönen langen Hals.
Das ist mit Blick auf Mutation und Zufälligkeit und so sehr anders eingeschätzt worden, aber ich denke, auf vielen verschiedenen Ebenen ist es eine auch in der biologischen Forschung relativ viel diskutierte Problematik, die damit zu tun hat, dass es überhaupt so etwas wie Fortschritt geben kann und darf. Also dass man das einst die eigentlich progressive Vererbung sehen kann, die nicht immer nur das Gleiche, immer nur das Gleiche und das Gleiche wiederholt. Wie gesagt, dann kommt natürlich irgendwann diese Idee der Mutation dazu in der Biologiegeschichte um 1900, dann sieht das alles ganz anders aus. Aber das ist tatsächlich so ein Punkt, wo auch Biologie und Kultur ziemlich eng aneinanderrücken können. Und deswegen ist auch diese Überlegung immer wieder neu aufgegriffen worden. Und dass tatsächlich also dieser Erwerb irgendwie in die Erbgänge intervenieren kann auf ganz verschiedenen Ebenen, ist ein wichtiges, ja, eine wichtige Anreicherung sozusagen wie deterministischer Vorstellungen vom Erbe.
Röder: Was denken Sie denn, wie wird sich das Konzept des Erbens in den kommenden Jahren, Jahrzehnten verändern, insbesondere wenn wir uns anschauen, welche gesellschaftlichen und technologischen Entwicklungen wir gerade durchmachen?
Willer: Ja, da könnte man jetzt natürlich an sehr verschiedene Arten dieser Entwicklungen denken. Vielleicht sprechen wir ja auch noch über das im möglicherweise etwas engeren Sinne kulturelle Erbe, das mir hier jedenfalls mit einfiele. Also wenn ich da jetzt prognostizieren soll überhaupt, wie's mit dem Erbe so insgesamt weitergeht, würde ich sagen, es hat sich als ein so beharrliches Faktum erwiesen, ein soziales Faktum mit unglaublich weitreichenden Effekten, dass ich nicht sehe, dass sich daran etwas Wesentliches ändern wird unter unterschiedlichen technologischen oder kulturellen Rahmenbedingungen.
Also darüber kann man sich eigentlich nicht genug wundern und das ist auch ein Ansatz unserer Gruppe, sich darüber zu wundern und damit aber irgendwie weiterzukommen mit dieser Verwunderung oder diesem Staunen, warum überhaupt das Erbe eine so stabile Institution ist. Auch in Gesellschaften, die angetreten sind, irgendwie Ökonomie komplett anders zu denken und Eigentum, Eigentumsrecht neu zu denken, Privateigentum womöglich abzuschaffen. Und trotzdem kommt das Erbe irgendwie immer wieder.
Röder: Bei meiner Frage nach den möglichen Veränderungen von Erbe in den kommenden Jahren hab ich auch so ein bisschen an digitales Erbe gedacht. Also erst mal vielleicht so was wie Kryptowährungen, aber auch so was wie unsere Social Media-Profile. Was passiert damit? Ist das auch Teil eines Erbes?
Willer: Ja, ein also viel diskutiertes Problem, wo man ja immer wieder merkt, also ich habe es nie genauer bislang versucht zu verstehen oder aufzuschlüsseln, nehme es tatsächlich nur als mediale Debatte bislang war, dass es da eine ziemliche Rechtsunsicherheit gibt und tatsächlich auch die Frage stellt, wie weit man den Begriff des Erbes da materiell oder immateriell ziehen kann, weil gerade so als Literaturwissenschaftler denkt man dann bei Hinterlassenschaften ja doch oft an einen Haufen Papiere, die dann in ein Literaturarchiv überführt werden. Aber natürlich ist seit geraumer Zeit das nicht mehr, bei Weitem nicht mehr die einzige Erscheinungsform, in der eben auch Dokumente vorliegen. Also das Weltdokumentenerbe, das gibt's ja auch, das sind dann eben so emphatisch materielle Dinge. Das Autograf der 9. Symphonie von Beethoven. Aber was ist eben mit zunehmend digital vorliegenden und dann aber auch in sich selbst ja schon bearbeiteten, überschriebenen und so weiter Dokumenten. Und man merkt es ja immer dann oder auch das sind so Fälle, die immer wieder diskutiert werden, wenn eben Hinterlassenschaften aus einer Fülle digitaler, sagen wir mal, Einträge oder Erscheinungsformen eines selbst bestehen, die hochgradig dezentral sind und wo man eigentlich gar nicht sagen kann, was ist denn jetzt hier die Hinterlassenschaft, wenn jemand gestorben ist. Und dann müsste man versuchen, das irgendwie überhaupt erst mal zu sammeln. Oder auch zu sagen, hier haben tatsächlich jetzt die Erben das Recht, nicht nur zu sichten und zu bekommen, sondern auch abzuschalten und so weiter. Also Accounts zu löschen. Und das ist wirklich extrem schwierig und aufwendig und wird noch eine Fülle von Regelungsbedarf produzieren. Und ja, wie immer, wenn man über diesen Aspekt nachdenken, sozusagen, also da ist die technische Entwicklung im Zweifelsfalle immer wesentlich schneller als die Kodifikation. Also man wird da wahrscheinlich auch bis auf Weiteres versuchen, dem irgendwie hinterherzuhecheln und irgendwie gerecht zu werden.
Röder: Mit Blick auf die Uhr müssen wir schon langsam zum Ende unseres Gespräches kommen. Erbe ist, und das hab ich jetzt aus diesem Gespräch mitgenommen, unglaublich vielseitig. Es gibt so viele Aspekte, die man bei diesem Thema betrachten kann und vor allem bei dieser Frage nach Gerechtigkeit gibt's einfach total viel Diskussionsbedarf. Umso besser, dass Sie in diesem Zirkel sich damit auseinandersetzen. Meine letzte Frage an Sie ist, Herr Willer, wollen Sie eigentlich mal erben?
Willer: Ja, es gibt eine familiäre Erberwartung, diesen etwas technischen Ausdruck zu verwenden und deswegen, weil es auch den familienrechtlichen Automatismus gibt, ist Natürlich ist die Frage, ob man erben will oder nicht. Jedes Erbe kann ausgeschlagen werden. Aber es ist sicherlich die Frage, was mit Erbe gemacht wird, was die Verantwortung derjenigen ist, die etwas erben und also so gesehen ist auch hier die Frage, was gilt es zu erwerben, um es zu besitzen, und was kann man teilen und was muss und will man sich aneignen, über den Begriff hätten wir auch noch sprechen können, weil der irgendwie dazugehört und sehr weitreichend ist ja der Aneignung. Also zwischen sozusagen Empfangen und Nehmen und sich überlegen, was man mit einem Erbe anstellt, gibt es da auf jeden Fall individuell eine Menge Entscheidungsfreiheit, aber auch Notwendigkeit, sich zu entscheiden.
Röder: Vielen Dank für dieses Gespräch. Wenn Ihnen dieser Podcast gefällt, bewerten und teilen Sie ihn gerne. Mein Name ist Marie Röder, bis zum nächsten Mal.
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