Editorial

Das Paradoxon gestalten

Wir können uns der Digitalisierung nicht entziehen, selbst wenn wir wollten. Sie durchdringt unseren Alltag und beeinflusst, wie wir die Welt erleben, wie wir versuchen, sie zu verstehen, wie wir neues Wissen generieren und altes bewahren. Dabei entsteht ein produktives Paradoxon: Das Digitale macht die Welt komplexer und ermöglicht uns zugleich, diese Komplexität zu durchdringen und zu nutzen. Und es verbindet. Neue fruchtbare Schnittstellen entstehen – zwischen Menschen, Disziplinen, Kontinenten.

Berlin befindet sich mitten in diesem produktiven Paradoxon. Die Stadt ist eines der weltweit vielen Zentren der Digitalisierungsforschung. In den letzten Jahren sind hier Institutionen von internationalem Rang entstanden, die sich mit den Chancen und Herausforderungen der digitalen Transformation befassen (→ „Zuses Erben”). Die Einstein Stiftung hat mit dem Einstein Center Digital Future (ECDF) einen wichtigen Beitrag dazu geleistet. Am ECDF werden 50 neu berufene Professor*innen an den digitalen Grenzen unterschiedlichster Disziplinen forschen. Es ist ein einzigartiges, zukunftsweisendes Vorhaben, das die Berliner Wissenschaftslandschaft auf neue Weise vernetzt und bereichert. Auch deshalb haben wir beschlossen, die fünfte Ausgabe unseres jährlich erscheinenden Journals dem Thema „Digitale Zukunft” zu widmen.

Bei all der Schnelllebigkeit, Ungeduld und Komplexität, die mit der Digitalisierung einhergehen, ist es wesentlich, die Menschen nicht unterwegs zu verlieren. Albert will mitnehmen. Dieses Heft ist eine Momentaufnahme der Berliner Digitalisierungsforschung – und der sich digitalisierenden Berliner Wissenschaftslandschaft. Wir treffen Forscher*innen, die im neuen Exzellenzcluster Science of Intelligence mit Roboterfischen die Grundprinzipien von Intelligenz verstehen wollen (→ „Schwarmintelligenz”), mit digitalen Methoden die globale Literaturgeschichte neu denken (→ „Literaturwelten”) oder künstliche Intelligenz nutzen, um Krebserkrankungen effektiver zu erkennen und zu bekämpfen (→ „Blick ins Böse”). Manches klingt wie Science-Fiction: Die Hirnschnittstellen etwa, die der Einstein-Professor Surjo Soekadar entwickelt, ermöglichen es Gelähmten, ihre Hände wieder zu bewegen – und sollen in Zukunft sogar helfen, die Stimmung depressiver Patient*innen zu verbessern (→ „Hirnflüsterer”).

In einer Gegenwart fortschreitender Digitalisierung ist abgehängt, wer nicht Schritt hält mit den neuesten Entwicklungen. In dem Maße jedoch, in dem Maschinen Aufgaben für uns übernehmen, geht es längst nicht nur um Schritthalten. Wir müssen vor allem eines: fähig bleiben. Die rasanten Fortschritte auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz dürfen nicht dazu führen, dass der Mensch seine Kompetenzen und seine Verantwortung vergisst (→ „Fähig bleiben!”).

Es ist unerlässlich, bei so viel Geschwindigkeit hin und wieder innezuhalten, Abstand zu gewinnen und sich zu fragen, welche Konsequenzen der digitale Wandel mit sich bringt, wie er unser Leben verändert (→ „Verflachung der Welt”) und wie wir darauf reagieren müssen. Iyad Rahwan, der neue Leiter des Forschungsbereichs „Mensch und Maschine“ am Berliner Max-Planck- Institut für Bildungsforschung, fordert eine neue Verhaltensforschung für Maschinen, um ein gutes Zusammenleben mit diesen neuen „Kreaturen“ zu ermöglichen (→ S. „Spiegelbild unserer Werte”). Auf solche konstruktiven Einwände kommt es an. Wir müssen die Digitalisierung gestalten, damit sie uns in eine Zukunft führt, die menschlich bleibt.

Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen bei der Lektüre!

Text: Günter Stock, Vorstandsvorsitzender Einstein Stiftung Berlin