ALBERT fragt ...

Ist Gerechtigkeit in der Gesellschaft messbar?

Antwort von Stefan Liebig

 

Bei Gerechtigkeit geht es immer auch darum, wie Dinge verteilt werden. Dabei spielt nicht nur eine Rolle, was jemand erhält, sondern auch, wie die Verteilung verläuft – ob das Verfahren transparent und fair ist. Dabei kommen drei Prinzipien ins Spiel: Die Gleichbehandlung besagt, dass Personen unter gleichen Umständen auf die gleiche Weise behandelt werden. Die Unparteilichkeit, dass bei Interessenskonflikten nach Regeln entschieden wird, die für alle akzeptabel sind. Und das Prinzip der legitimen Ansprüche, dass jede Person erhält, was ihr nach geltenden Gesetzen oder sozialen Normen zusteht.

Gerechtigkeit ist wichtig für Menschen, weil sie mit dem Wunsch nach Wertschätzung verbunden ist. Wir streben nicht nur nach physischem Wohlbefinden – einer warmen Wohnung im Winter –, sondern auch nach sozialer Anerkennung. Wenn Menschen sich beständig von der Gesellschaft ungerecht behandelt fühlen, so nehmen sie dies als soziale Missachtung wahr und halten sich nicht mehr an ihre Regeln, werden nicht wählen, sich nicht engagieren. Erlebte Ungerechtigkeit ist deshalb ein Problem für die Demokratie und die Familie, aber auch für Betriebe.

Messbar ist (Un-) Gerechtigkeit, indem man auf der Grundlage von Daten erfasst, wie Güter und Chancen in der Gesellschaft tatsächlich verteilt sind – etwa Bildungschancen in unterschiedlichen sozialen Schichten. Oder man befragt die Menschen, inwieweit sich ihre eigene Vorstellung von Gerechtigkeit mit der Realität deckt. Häufig ist diese subjektive Wahrnehmung – etwa in Bezug auf Einkommensgerechtigkeit – viel entscheidender als das objektiv Messbare. Sie bestimmt, wie Menschen sich verhalten. Klar ist, es wird nie eine von allen in gleicher Weise als gerecht eingeschätzte Welt geben. Aber es ist immer der Auftrag, Ungerechtigkeiten zu reduzieren.

Experte

Stefan Liebig ist Professor für Empirische Sozialstrukturanalyse an der Freien Universität Berlin und ein international anerkannter Experte für die Evaluation sozialer Ungleichheit. Bis 2022 war er Direktor des Soziooekonomischen Panels (SOEP).

März 2025