Lässt sich Wahlverhalten demografisch erklären?
Antwort von Tarik Abou-Chadi
Als das Wahlverhalten vor 80 Jahren in den USA erstmals wissenschaftlich untersucht wurde, spielten besonders sozio-strukturelle Vorstellungen eine Rolle – dass beispielsweise Menschen aus der Arbeiterschicht anders wählen als die Mittelschicht. Später hat man sich mehr auf das Individuum fokussiert und Variablen wie die Bedeutung bestimmter Themen für die Wähler:innen oder die Popularität von Kandidat:innen integriert.
Wahlverhalten wird aber natürlich noch von anderen Faktoren beeinflusst. Im US-Kontext kommt ganz stark Parteiidentifikation ins Spiel, quasi die eigene Identität, die mit dem Lager der Demokraten oder der Republikaner verknüpft ist. Generell spielen auch andere Identitäten eine Rolle: Weil ich so und so als Person bin, zum Beispiel Mitglied der LGBTQ-Community, wähle ich die Partei XY. Damit drückt Wählen vor allem eine Gruppenzugehörigkeit aus.
Zudem gibt es den sogenannten Accountability Mechanismus: Wie geht es der Wirtschaft, wie laufen die Dinge für mich und wie sehe ich die bisherige Regierung dafür in der Verantwortung?
Generell sind Menschen heute eher bereit, die Partei zu wechseln. Das führt zu Fragmentierung im Wahlverhalten und im Parteiensystem. Früher waren Parteien eher wie klassische Kaufhäuser: Da geht man hin und findet von allem etwas, nur vielleicht nicht das eine Fashion-Produkt. Heute gibt es zunehmend kleinere Parteien, die gezielt einzelne Nischen besetzen und Identitäten bedienen.
Generell erklären demografische Faktoren wie Klassenzugehörigkeit heute einen kleineren Teil des Wahlverhaltens als früher. Andererseits gibt es demografische Kategorien, die heute eine größere Rolle für das Wahlverhalten spielen. Dazu gehören Alter, Geschlecht und Bildung. Vor allem aber sind individuelle Eigenschaften wichtiger geworden.
Experte
Tarik Abou-Chadi ist Associate Professor am Nuffield College der Universität Oxford und Einstein BUA/Oxford Visiting Fellow an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er ist ein international anerkannter Experte für politische Parteien und Fragen des Wahlverhaltens.
März 2025