An der Graduiertenschule DYNAMICS der Humboldt-Universität zu Berlin und der Hertie School forscht die nächste Generation von Demograf:innen. In ihren Doktorarbeiten untersuchen sie wirtschaftliche Gründe für Unfruchtbarkeit, bürokratische Hürden für Migrant:innen, Voraussetzungen für einen späteren Renteneintritt oder gesundheitliche Folgen von Trennungen. Vier Fellows geben Einblicke
Text: Daniel Kastner

Arbeitslos kinderlos
Vincent Ramos, Sie haben Beschäftigungsunsicherheit in Deutschland und auf den Philippinen erforscht. Sie sprechen dabei von informeller und atypischer Beschäftigung. Was sind die Unterschiede?
Auf den Philippinen bedeutet informelle Arbeit das Fehlen einer formellen Vereinbarung – etwa eines Arbeitsvertrags – zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Viele Menschen arbeiten dort selbstständig, etwa als Straßenverkäufer. Sie haben kein festes Einkommen, sind nicht durch gesetzliche Sozialversicherungen geschützt, und die Polizei kann sie nach Belieben festnehmen. In Deutschland und vielen anderen Hochlohnländern ist eher die „atypische Beschäftigung“ von Bedeutung. Diese kann auch befristete Verträge umfassen.
Was sind die demografischen Folgen von atypischer Beschäftigung und Beschäftigungsunsicherheit?
In Deutschland ist zum Beispiel die Wahrscheinlichkeit, dass jemand innerhalb der ersten zehn Jahre nach Eintritt in den Arbeitsmarkt das erste Kind bekommt, geringer, wenn die erste richtige Arbeitsstelle nach dem Studium auf einem befristeten Vertrag basiert – im Vergleich zu jemandem, der mit einem unbefristeten Vertrag in den Arbeitsmarkt eintritt. Ein weiteres Ergebnis meiner Forschung ist, dass diese Wahrscheinlichkeit bei Männern noch geringer ist, wenn sie während einer Rezession in den Arbeitsmarkt eintreten. Man muss allerdings dazu sagen, dass es in Deutschland relativ gut etablierte Schutzmechanismen gibt, die den Einzelnen vor makroökonomischen Schocks schützen, beispielsweise die Kurzarbeit.
Haben Sie Ähnlichkeiten mit den Philippinen gefunden – trotz der unterschiedlichen Arbeitsmärkte?
Arbeitslosigkeit steht überall in einem negativen Zusammenhang mit Fruchtbarkeit, das gilt für Länder mit hohem Einkommen ebenso wie für Länder mit niedrigem Einkommen. Aber während und nach Krisen wie zum Beispiel Rezessionen, Erdbeben oder Taifunen werden Frauen auf den Philippinen und in vielen Ländern des Globalen Südens oft in die informelle Beschäftigung gedrängt. Das führt zu wirtschaftlicher Unsicherheit und einem drastischen Rückgang der Geburtenrate. Das letzte Mal geschah dies während der COVID-19-Pandemie.
Welche Daten verwenden Sie für Ihre Analysen?
Für Deutschland habe ich das Sozio-oekonomische Panel verwendet und für die Philippinen die Arbeitskräfteerhebung, die mit dem deutschen Mikrozensus
vergleichbar ist. Ich habe verschiedene Modellierungstechniken eingesetzt, um Beziehungen zwischen Beschäftigungsunsicherheit und anderen demografischen Verhaltensweisen wie der Fruchtbarkeit zu erfassen. Die Modellierung ist dabei die Hauptaufgabe, nicht nur, um Antworten zu finden, sondern – fast noch wichtiger – um die richtigen Fragen zu stellen.
Welche demografischen Schlussfolgerungen lassen sich aus Ihrer Forschung ziehen?
Arbeitsmarktbedingungen und Entscheidungen für oder gegen Nachwuchs sind von Natur aus miteinander verwoben. In einem meiner Dissertationskapitel zeige ich: Wenn Menschen ihre künftige wirtschaftliche Situation subjektiv als unsicher wahrnehmen, hält sie das von einer Elternschaft ab. Politische Maßnahmen müssen deshalb die Beschäftigungsunsicherheit in den Blick nehmen und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie weiter stärken – etwa durch Elternurlaub und eine umfassende und verfügbare Kinderbetreuung.

Vincent Jerald Ramos erwarb 2021 seinen Master in Public Policy und 2024 seinen Doktortitel an der Hertie School. Derzeit ist er Postdoctoral Research Fellow am Centre for Population Change an der Universität Southampton.
Titel der Dissertation: Essays on the Causes and Demographic Consequences of Employment Unvertainty
Kohorte: 2021 - 2024
Rentenfaktor Wohlstand
Jan Einhoff, wie hat sich die Lebensarbeitszeit in den letzten Jahrzehnten verändert?
Seit den 1990er-Jahren versuchen nahezu alle OECD-Länder, die Erwerbslebenszeit auszuweiten – mehr ältere Personen sollen im Arbeitsmarkt verbleiben und später in Rente gehen. Das ist ein Langzeittrend und keine kurzfristige Entwicklung etwa aufgrund der Finanzkrise.
Was erforschen Sie in diesem Zusammenhang?
Ich schaue mir langfristige Entwicklungen über Kohorten hinweg und im europäischen Vergleich an – politische Entwicklungen sowie Veränderungen in der Sozial- und Arbeitsmarktstruktur. Mich interessieren die Ungleichheiten dabei: Ist es überhaupt für alle Leute möglich, später in Rente zu gehen und im späten Lebensverlauf mehr zu arbeiten?
Haben Sie ein Beispiel für die Ungleichheiten, die Sie entdeckt haben?
Menschen mit Wohneigentum gehen zum Beispiel deutlich früher in Rente. Mieter dagegen können es sich oft nicht leisten, früher auszusteigen. Ich konnte zeigen, dass es sich dabei wirklich um einen „kausalen Effekt“ handelt und nicht etwa um andere Faktoren wie Einkommen oder Haushaltszusammensetzung.
Welche Daten haben Sie verwendet, um zu solchen Schlüssen zu kommen?
Für diese Studie habe ich Umfragedaten für Deutschland und das Vereinigte Königreich verwendet. Neben dem Sozio-oekonomischen Panel verwende ich für Deutschland Forschungsdaten der Deutschen Rentenversicherung, zum Beispiel über das Einkommen und den Erwerbsstatus in jedem Monat des Erwerbslebens der Beitragszahlenden. Auch in großen europäischen Umfrage-Datensätzen wie dem SHARE (Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe) werden Leute nach ihren Biografien gefragt. Daraus lassen sich Zusammenhänge und Muster in Hinblick auf späte Erwerbsverläufe und Länderunterschiede gut ablesen.
Wie haben Sie diese Daten verarbeitet?
Als Soziologe steht mir eine ganze Reihe von Analyseverfahren zur Verfügung, etwa die Sequenzmusteranalyse, die ursprünglich aus der Bioinformatik kommt. Ich schaue mir damit zum Beispiel die Erwerbsstadien von Personen in den Jahren vor ihrem Renteneintritt an: Sind sie in Vollzeit oder Teilzeit beschäftigt, arbeitslos oder anders inaktiv? Daraus kann ich Cluster bilden und identifizieren, wie sich Renteneintrittsverläufe je nach Alter, Geburtskohorte und Kalenderjahr unterscheiden. Hier haben die statistischen Analysemethoden in letzter Zeit große Fortschritte gemacht, vor allem dank maschinellem Lernen.
Welche Ratschläge für die Sozialpolitik lassen sich aus Ihren Erkenntnissen ableiten?
Für Schlussfolgerungen für die Politik reicht eine einzelne Studie nicht aus. Aber vielleicht trägt sie zum größeren wissenschaftlichen Diskurs bei, aus dem sich dann konkretere politische Empfehlungen ergeben. Gute Forschung braucht aber eine gute Datengrundlage – dafür muss die Politik die Voraussetzungen und Mittel schaffen.

Jan Einhoff studierte Soziologie und Public Policy an der Universität Mannheim, der Hertie School und der Bocconi-Universität in Mailand. 2024 absolvierte er einen Forschungsaufenthalt am Nuffield College der Universität Oxford.
Titel der Dissertation: Social Stratification of Work-to-retirement Transitions in Times of Extending Working Lives
Kohorte: 2022 - 2025
Diagnose Trennung
Stefania Molina, mit welcher Art von Familiendynamiken beschäftigen Sie sich in Ihrer Doktorarbeit?
Ich untersuche Familienstrukturen, Partnerschaftsqualität und Trennungsprozesse und erforsche zum Beispiel Unterschiede in der psychischen Gesundheit von Männern und Frauen nach einer Trennung.
Warum haben Sie sich für einen Ländervergleich zwischen Kolumbien und Deutschland entschieden?
Mich interessiert, wie sich Familiendynamiken im Globalen Norden und Süden unterscheiden und welche Faktoren bei der Analyse der einzelnen Länder berücksichtigt werden müssen. Bei der Auswahl der Länder habe ich mich in erster Linie davon leiten lassen, ob ausreichend Daten zu meinem Thema zur Verfügung stehen – und außerdem habe ich persönliche Verbindungen zu Deutschland und Lateinamerika.
Haben Sie Beispiele dafür, wie sich Familiendynamiken auf das Wohlbefinden eines Menschen auswirken?
Es ist allgemein bekannt, dass eine Trennung das Wohlbefinden beider Partner beeinträchtigt. Depressionen sind bei Menschen, die sich getrennt haben, weit verbreitet. Meine vorläufigen Ergebnisse zeigen aber, dass es Ausnahmen und Besonderheiten gibt. In Deutschland haben wir festgestellt, dass es bei Frauen am stärksten darauf ankommt, in welchem Alter sie sich trennen, während bei Männern das Einkommen am wichtigsten zu sein scheint. Eine psychische Erkrankung wie Depression wird eher bei älteren Frauen, die sich getrennt haben, diagnostiziert – und bei Männern mit eher niedrigem Einkommen.
Haben Sie etwas gefunden, das für Kolumbien spezifisch ist?
Ein Beispiel: In Kolumbien leben viele Mütter in informellen Partnerschaften. Im Vergleich zu verheirateten Frauen zeigt sich, dass sie einem höheren Risiko von innerpartnerschaftlicher Gewalt ausgesetzt sind. Ein Grund dafür könnte sein, dass es Männer gibt, die sich informellen Partnerschaften gegenüber weniger verpflichtet fühlen oder sie weniger ernst nehmen. Die gute Nachricht: Die Kluft bei den Gewalterfahrungen zwischen verheirateten Frauen und solchen in informeller Partnerschaft wird allmählich kleiner.
Welche Quellen nutzen Sie?
Die meisten meiner Daten stammen aus Umfragen, die speziell zur Untersuchung von Familiendynamiken durchgeführt wurden. Darüber hinaus verwende ich Registerdaten aus Deutschland. In diesem Fall verknüpfe ich Daten über den Familienstand und den sozioökonomischen Hintergrund von Personen mit Datensätzen des öffentlichen Gesundheitswesens, die Diagnosen zu psychischen Erkrankungen enthalten.
Welche Schlussfolgerungen ziehen Sie aus Ihren Erkenntnissen?
Wenn Familienpolitik es versäumt, Frauen in den Arbeitsmarkt zu integrieren, erhöht das deren Risiko, während einer Trennung körperliche Gewalt durch den Partner zu erfahren. Das gilt insbesondere für Frauen mit geringerem Bildungsniveau. Aus Sicht des öffentlichen Gesundheitswesens ist es wichtig, Analysen nach soziodemografischen Merkmalen wie Bildungsniveau, Geschlecht oder Familienstand zu differenzieren – zum Beispiel nach Eltern, die Kinder betreuen, und alleinerziehenden Müttern. Das würde helfen, besser zu verstehen, welche Gruppen zu welchem Zeitpunkt spezifische psychosoziale Unterstützung benötigen.

Stefania Molina erwarb 2021 einen Master-Abschluss in Public Policy an der Hertie School. Zuvor studierte sie Public Administration an der Fundação Getulio Vargas in Rio de Janeiro.
Titel der Dissertation: The Influence of Family Dynamics on Individuals’ Well-being
Kohorte: 2022 - 2025
Bürokratische Lasten
Emily Frank, was hat Sie zu Ihrem Dissertationsthema inspiriert?
Die Idee entstand, als ich in New York arbeitete. Mein Job bestand im Wesentlichen darin, Menschen rechtlich zu unterstützen, die Probleme beim Zugang zu Sozialleistungen hatten. Das waren zum Beispiel spanischsprachige Menschen, die Behördenbriefe auf Englisch erhielten, die sie nicht verstanden, und so Leistungsansprüche verloren. Diese immer wiederkehrenden Hindernisse, mit denen Menschen auf Ämtern konfrontiert sind, haben mich auf mein Promotionsthema gebracht.
Warum haben Sie als US-Amerikanerin Deutschland für Ihre Forschung gewählt?
Der persönliche Grund ist, dass ich während meines Bachelor-Studiums ein Semester in Berlin verbracht habe und es mir dort sehr gefallen hat. Der berufliche Grund ist, dass Deutschland ein sehr interessanter Ort ist, um Migration zu studieren, weil es zu den Ländern gehört, die die meisten Geflüchteten aufnehmen.
In Ihrer Doktorarbeit sprechen Sie von administrative burden experience. Was genau beschreibt das?
Damit meine ich die bürokratischen Herausforderungen, die Menschen bewältigen müssen – zum Beispiel herauszufinden, welche Dokumente sie benötigen, oder lange auf einem Amt warten zu müssen, um eine Leistung zu erhalten. Dabei spielt unter anderem der rechtliche Status einer Person eine Rolle. Ich habe 30 Personen aus vier verschiedenen Gruppen befragt: Asylbewerber, Geduldete, anerkannte Flüchtlinge und ukrainische Flüchtlinge. Die Geflüchteten aus der Ukraine durften in der Regel ohne Asylverfahren sofort arbeiten und erhielten höhere Leistungen als die Angehörigen der anderen untersuchten Gruppen. Sie berichteten seltener über schwerwiegende administrative Belastungen als diese und befanden sich in einer weniger prekären Rechtslage. Ein weiterer Faktor ist der „Bürokrat vor Ort“, also die Verwaltungsangestellten, mit denen die Menschen direkt zu tun haben. Diese Angestellten haben manchmal einen großen Ermessensspielraum, den sie nicht immer nutzen, um den Menschen zu helfen, sondern manchmal auch, um sie zu behindern.
Können Sie ein paar Beispiele für bürokratische Belastungen nennen?
Eines der größten Hindernisse ist die Sprachbarriere, insbesondere für Menschen, die eine weniger verbreitete Sprache sprechen. Außerdem habe ich in den Interviews den Eindruck gewonnen, dass die Jobcenter nicht immer auf den demografischen Wandel bei ihrer Klientel vorbereitet sind. Sie bestehen weiterhin auf der „Amtssprache Deutsch“: Ihre Aufgabe ist es, sich an das Gesetz zu halten – und der Gesetzestext ist nun einmal deutsch. Ein weiteres Beispiel: Asylbewerber müssen Sozialleistungen jeden Monat persönlich vor Ort abholen. Das ist eine Politik, die für ein Klima des Misstrauens gegenüber Asylbewerbern steht.
Wie lässt sich die Belastung angesichts des demografischen Wandels mildern?
Zum Beispiel brauchen Behörden wie die Jobcenter mehr Mitarbeitende, um eine zunehmend anderssprachige Bevölkerung zu betreuen. Auch die Asylbehörden sind stark unterbesetzt. Dann muss man es Asylbewerbern und Geduldeten ermöglichen zu arbeiten, damit sie einen Beitrag zur Wirtschaft leisten und sich der Gesellschaft zugehörig fühlen können. Das wäre in Zeiten des Bevölkerungsrückgangs eine langfristige und notwendige Investition in die deutsche Bevölkerung. Optimistisch betrachtet, hat Deutschland in den letzten zehn Jahren einige positive Maßnahmen ergriffen. Das neue Staatsbürgerschaftsgesetz etwa ist im Vergleich zu früheren Anforderungen ein bemerkenswerter Fortschritt.

Emily Frank studierte öffentliche Politik und Verwaltung an der University of Wisconsin-Madison. Derzeit forscht sie am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) in einem Projekt des Einstein Center Population Diversity.
Titel der Dissertation: Bureaucracy as Borders: Refugees’ Experiences of Citizenship at Government Offices
Kohorte: 2021 - 2024