Während die Bevölkerung in Europa schrumpft und älter wird, wachsen in Afrika und anderen Ländern des Globalen Südens große Generationen junger Erwerbstätiger heran. Zuwanderung könnte einen Ausgleich schaffen – doch die Rahmenbedingungen dafür sind schwierig
Ein Text von Susanne Götze

Es ist eine stille Katastrophe, die durch die Alterung der Gesellschaft auf Deutschland zurollt – mit enormen Folgen: Unternehmen könnten abwandern, Preise steigen, Busse und Bahnen nur noch unregelmäßig fahren. „Wenn die Babyboomer in ein paar Jahren in Rente gehen, dann fehlen massiv Arbeits- und Fachkräfte, und derzeit bereiten wir uns darauf nicht ausreichend vor“, sagt Anselm Hager, Juniorprofessor für Internationale Politik an der Humboldt-Universität zu Berlin. „Alle sprechen über unerwünschte Migranten, fast niemand über die dringend benötigte Zuwanderung.“
Denn die deutsche Bevölkerung altert rapide: Bis 2070 wird der Anteil der über 67-Jährigen von heute rund 20 auf 25 Prozent ansteigen. Ein Viertel der Gesamtbevölkerung wird in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts also pensioniert, teils arbeitsunfähig oder krank sein. Der Anteil der Menschen im arbeitsfähigen Alter zwischen 20 und 67 Jahre wird um rund sechs Prozent sinken. Besonders stark ist der Rückgang bis 2040. Das gilt auch für die Europäische Union. Während Europäer:innen heute rund 5,7 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen, könnten es aufgrund niedriger Geburtenraten 2070 nur noch 3,7 Prozent sein. Knapp ein Drittel alle EU-Bürger:innen wird dann über 65 Jahre oder älter sein – mit weitreichenden Folgen für die Volkswirtschaften.
In vielen Ländern außerhalb Europas entwickeln sich die Bevölkerungszahlen genau umgekehrt. Dort wachsen Gesellschaften – und sie verjüngen sich. Am stärksten nimmt die Bevölkerung weltweit auf dem afrikanischen Kontinent zu, dort könnte sie von heute 1,5 Milliarden auf 2,5 steigen – und das schon bis 2050. Allein für Nigeria prognostizieren Demograf:innen für 2060 eine Bevölkerung von einer halben Milliarde Menschen, sodass Nigeria den dritten Platz unter den bevölkerungsreichsten Ländern der Welt einnehmen würde. In Asien hingegen hat sich das Bevölkerungswachstum in den letzten Jahrzehnten deutlich verlangsamt, etwa in China. Japan schrumpft seit gut einem Jahrzehnt sogar und hat eine ältere Bevölkerung als Deutschland. Doch in manchen asiatischen Ländern wie Indien wächst die Bevölkerung immer noch. Das südasiatische Land hat China bereits vor einem Jahr überholt – mit nunmehr 1,4 Milliarden Menschen.
Die Erwerbsbevölkerung wird sich in Afrika in den nächsten 50 Jahren voraussichtlich verdreifachen.
Catherina Hinz
Während in Europa die Erwerbstätigen rarer werden, stehen viele afrikanische und andere wachsende Länder vor großen Chancen. Die größte Generation junger Menschen lebt heute auf dem afrikanischen Kontinent: Drei von fünf Menschen in Afrika sind jünger als 25 Jahre. „Die Erwerbsbevölkerung wird sich in Afrika in den nächsten 50 Jahren voraussichtlich verdreifachen“, so Catherina Hinz, Direktorin des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung, eines unabhängigen Demografie-Thinktanks in Berlin. Wenn besonders viele Arbeitskräfte dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, sprechen Demograf:innen von einem Erwerbstätigenbauch. Schaffen es solche Länder, eine positive sozioökonomische Entwicklung anzustoßen, kann es zum Effekt einer demografischen Dividende kommen. Gibt es etwa mehr Hygiene und ein besseres Gesundheitssystem, werden Menschen älter. Erhöht man die Bildung von Frauen und gibt es mehr Gleichberechtigung, fallen allmählich die Geburtenraten. Der Wirtschaft stehen dann viele Erwerbstätige zur Verfügung, während verhältnismäßig wenige Kinder und Alte zu versorgen sind. Laut dem Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung ist dies in Lateinamerika bereits in Schwellenländern wie Brasilien oder Mexiko der Fall.

Für Afrika hat das Berlin-Institut große Unterschiede zwischen den 54 Staaten herausgearbeitet: Nordafrikanische Länder wie Tunesien und Marokko oder auch das industrialisierte Südafrika haben bereits niedrige Geburtenraten von um die zwei Kinder pro Frau. Hier gibt es bereits den Erwerbstätigenbauch. In West- und Zentralafrika hingegen liegt die Rate bei durchschnittlich vier bis fünf Kindern, dort ist die Gesellschaft vor allem jung. Das stellt Wirtschaft und Staat vor Probleme: Allein im stark wachsenden Subsahara-Afrika würden laut Berlin-Institut pro Jahr rund 18 Millionen neue Jobs gebraucht, um mit der BevölkerungsentwicklungSchritt zu halten.
Für Deutschland zeigen die Daten, dass die Bevölkerung nur noch durch Zuwanderung leicht ansteigt – ansonsten wäre der Trend wie in Japan bereits rückläufig. Das ist seit den 1970er-Jahren so. Damit die Bevölkerungsstruktur einigermaßen stabil bleibt, müssten bis 2040 jährlich durchschnittlich um die 500.000 Menschen zwischen 20 und 66 Jahren nach Deutschland kommen.
„Weniger Fachkräfte und eine alternde Bevölkerung können dazu führen, dass Firmen abwandern“, so Anselm Hager. „Damit würden Wirtschaftsstandorte langfristig geschwächt.“ Das wiederum hätte auch Folgen für den politischen Einfluss der EU-Länder, etwa in internationalen Organisationen wie der Welthandelsorganisation oder den Vereinten Nationen. Doch es könne dauern, bis sich dieses neue Kräfteverhältnis wirklich niederschlägt. „Internationale Institutionen wie der Weltsicherheitsrat sind eher träge“, so Hager.

Konkurrenz um Fachkräfte versus Abschottung
Auf den ersten Blick könnte Afrikas junge Generation, die in ihren Heimatländern nicht genügend Jobs vorfindet, eine Lösung für Europa bieten – ein Ausgleich zur alternden und schrumpfenden Bevölkerung in europäischen Ländern. „Die beiden demografischen Pole müsste man eigentlich irgendwie zusammenbringen, aber genau darin liegt die Schwierigkeit“, sagt Hinz. Denn die meisten Afrikaner:innen migrieren derzeit in Nachbarländer, nur eine Minderheit geht nach Europa. In vielen afrikanischen Ländern sei zudem das Bildungssystem schlecht und die Menschen unzureichend für die Anforderungen des Arbeitsmarkts gerüstet, da auf europäischer Seite vor allem Fachkräfte gebraucht werden. „Für Niedriglöhner ohne Ausbildung wird es tendenziell weniger Arbeit geben, auch weil viele Berufe durch die Digitalisierung und Automatisierung wegfallen werden.“
Deutschlands Bedarf an Fachkräften durch Zuwanderung zu decken, sei keineswegs ein Selbstläufer, denn um diese konkurrieren auch andere europäische Länder wie Frankreich, Italien oder Großbritannien. Eine migrantenfeindliche Stimmung, wie derzeit in Deutschland, ist da wenig hilfreich, sind sich Forschende einig. Der Aufstieg der AfD trage dazu bei, dass die Willkommenskultur leide, sagt Hager. „Die ist aber ausschlaggebend dafür, ob sich Menschen dafür entscheiden, in Deutschland zu arbeiten und zu leben.“ Hinzu kämen strukturelle Probleme, die Deutschland bereits jetzt unattraktiv werden lassen, etwa zu viel Bürokratie oder Wohnraummangel.
Verständlicherweise wollen die Herkunftsländer ihre Fachkräfte auch gern selbst halten. Warum sollten Länder wie Nigeria Geld in Universitäten stecken, wenn deren Absolvent:innen nach dem Studium auswandern? Für eine breite Bildungsoffensive fehlt hingegen in solchen Ländern des Globalen Südens das Geld. „Sie können nicht einfach jahrzehntelange Versäumnisse in Schulen und Universitäten von heute auf morgen mit ein paar Investitionen wettmachen“, so Hager. Hochspezialisierte Fachkräfte seien aus solchen, teils kaum industrialisierten Ländern ohnehin kaum zu erwarten. Wenn, dann ginge es eher um Ausbildungsberufe im Handwerk oder Tourismus.

Für Catherina Hinz ist die sogenannte zirkuläre Migration eine vielversprechende Idee. Aufnehmende Länder wie Deutschland könnten sich an der Ausbildung von Arbeitskräften in den Sendeländern beteiligen. In einem Abkommen würde man dann regeln, so Hinz, dass die Arbeitskräfte ein paar Jahre in Deutschland arbeiten, aber auch wieder zurückgehen und später wiederkommen könnten. So hätten beide Seiten gewonnen. Auch eine schnellere Integration würde helfen: „Menschen, die zu uns kommen, müssen viel schneller in den Arbeitsmarkt integriert werden.“
Anselm Hager befürchtet, dass Europa sich in den kommenden Jahren noch mehr abschotten und dass mit zunehmender Migration aus dem Globalen Süden der Rechtspopulismus profitieren könnte. Für Fachkräfte hingegen sehe die Rechnung anders aus: Hier würden die EU-Länder künftig wohl den roten Teppich ausrollen, um international konkurrenzfähig zu bleiben. „Dabei könnten sich die Länder schon bald mit Angeboten überbieten.“ Dieses Zweiklassensystem unter Migrant:innen sei aus humanitärer Sicht verwerflich, so Hager. „Aber derzeit zeigt politisch alles in diese Richtung.“
März 2025
Zahlen: United Nations, Department of Economic and Social Affairs, Population Division (2024), Wordl Population Prospects 2024, Online Edition

