Überschäumende Gesellschaft

Spaltungsdiagnosen haben Hochkonjunktur, weil öffentliche Debatten zunehmend eskalieren. Doch eine scharfe Trennlinie in der Gesellschaft erkennt die Forschung nicht. Wie polarisiert sind die Deutschen also tatsächlich? Und wie lassen sich die politischen Lager im soziodemografischen Gefüge verorten? Eine Analyse

Text: Christoph David Piorkowski

Wer sich dieser Tage auf X umschaut, könnte womöglich den Eindruck gewinnen, ein Bürgerkrieg stehe unmittelbar bevor. Die Debatten ums Klima, um die sogenannte Wokeness, um Zuwanderung oder um den Krieg im Nahen Osten strotzen nur so vor verbaler Gewalt und emotionaler Eskalation. Es wirkt, als stünden sich in vielen Diskursfeldern unversöhnliche Camps gegenüber. Die Abwertung andersmeinender Personen zu anonymisierten Funktionären der jeweils als feindlich gelabelten Lager scheint eher die Regel als die Ausnahme zu sein. Durch die Brille der sozialen Medien betrachtet, gibt es wenig Eintracht in der Öffentlichkeit. Da kann es kaum verwundern, dass die Spaltungsdiagnose längst den Standard gesellschaftlicher Selbstbeschreibung darstellt und Polarisierung“ im politischen Betrieb und in den Feuilletons zur Modevokabel avanciert ist.

Doch auch die seriöse Soziologie hat die Idee eines gespaltenen Volkes in den letzten Jahren des Öfteren betont. Durch die breite Rezeption der theoretischen Werke von Andreas Reckwitz und anderen Autoren ist der Befund der frakturierten Gesellschaft, die sich in urbane Kosmopoliten und provinzielle Kommunitaristen zergliedert, zum soziopolitischen Gemeinplatz geworden. Den häufig in geistigen Berufen beschäftigten, hochgebildeten Anywheres hier werden die eher mit den Händen tätigen, traditionsbewussten und weniger gebildeten Somewheres dort gegenübergestellt. Jene seien als Globalisierungsgewinnler meist aufgeschlossen gegenüber Migration, Diversität und ökologischem Umbau; diese seien eher auf Abschottung aus, propagierten hergebrachte Lebensmodelle und seien radikal veränderungsmüde, weshalb sie sich auf Kohle und Nackensteaks versteiften. So lautet die vulgarisierte Version prominenter soziologischer Großtheorien. 

Doch wie gespalten ist die deutsche Gesellschaft tatsächlich? Lässt sich wirklich empirisch belegen, dass es erstens eine wachsende Kluft zwischen politischen Ansichten gibt, die sich zu Einstellungsbündeln verdichten, und die verschiedenen Lager sich zweitens auch noch soziodemografisch voneinander trennen lassen? Sind die Positionen im sozialen Gefüge und die Weltsichten messbar ineinander verschränkt? Und wie verbreitet ist „affektive Polarisierung“, eine mit starken Emotionen beladene Freund-Feind-Logik, die das Potenzial hat, jeden Kompromiss unmöglich zu machen?

Eine Spaltung der Gesellschaft in zwei große Lager, die auch noch demografisch zuordenbar sind, wäre eine starke Überzeichnung.

Linus Westheuser

Blickt man auf die viel diskutierte Studie „Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft“ der Berliner Soziologen Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser, scheint die deutsche Gesellschaft weit weniger gespalten, als es diverse Befunde unterstellen. Im Gegensatz zum Negativbeispiel USA, wo sich tatsächlich etwa gleich große Blöcke in ritualisierter Feindschaft begegnen, sei Deutschland mit Blick auf die Einstellungsebene (noch) deutlich weniger polarisiert. Vor allem in der breiten Mitte der Bevölkerung sei das Meinungsfeld ziemlich beweglich, außerdem herrsche, was die Großfragen angehe, gar eine relative Einmütigkeit. So findet eine deutliche Mehrheit der Menschen, die soziale Schere klaffe zu weit auseinander, regulierte Migration sei wichtig für das Land, Gleichstellung sei ein erstrebenswertes Gut und der Klimawandel eine drängende Frage. „Eine Spaltung der Gesellschaft in zwei große Lager, bei denen die Sicht auf verschiedene Themen zu umfänglichen Meinungsclustern gerinnt, die auch noch demografisch zuordenbar sind, wäre eine starke Überzeichnung“, sagt Westheuser.

Zwar ist es zumindest der Tendenz nach so, dass kosmopolitische Einstellungsmuster unter den Vermögenden und Hochgebildeten verbreiteter sind als in den unteren Klassen, die eher zu einem auf Heimat fixierten kommunitaristischen Weltbild neigen. Auch gibt es – geringer als bei Bildung und Einkommen – Unterschiede zwischen Stadt und Land sowie zwischen alten und neuen Bundesländern. Die Merkmale „alt und jung“, „autochthon und migrantisch“ sowie „männlich und weiblich“ fallen hingegen bei Fragen zum Klima, zur Einwanderung und zu Diversität eher wenig ins Gewicht – der berühmt-berüchtigte „alte weiße Mann“ ist kaum reaktionärer als der Rest der Gesellschaft.

Dass es Tendenzen je nach Klassenstatus gibt, heißt aber nicht, dass sich die Einstellungslandschaft in zwei sauber voneinander zu trennende soziodemografische Großgruppen spaltet. So zeigt sich auch, dass die oberen Klassen häufiger zu einheitlichen Weltsichten neigen, in denen sich migrationsliberale Positionen mit Awareness für die Ansprüche von Marginalisierten und ökologischem Bewusstsein verzahnen. Die weniger begüterten sozialen Milieus betreiben indes häufiger ein Weltanschauungs-Patchwork, Meinungen sind weniger auskonturiert und können je nach Diskurslage schwanken. Dies deckt sich mit den Ergebnissen von Studien, die die Berliner Soziologin Céline Teney zusammen mit Kolleg:innen durchgeführt hat. „Zwar gibt es messbare Klassenunterschiede“, erklärt die FU-Professorin im Gespräch. „Befragte in typischen Arbeiterberufen äußern sich bei sehr vielen Indikatoren negativer zum Thema Migration oder zur EU, als es die Oberklasse tut.“ Doch auch die Arbeiten von Teney bestätigen, dass es insbesondere in den unteren Klassen eine große Spannbreite an Meinungen gibt, also häufig keine ideologische Verklumpung. Außerdem zeigt sich, so die Soziologin, in den letzten Jahrzehnten kein ausgeprägter Anstieg sozial gegliederter Meinungsdivergenzen; die Unterschiede in den jeweiligen Klassen haben sich also nicht sonderlich verändert.

Sind die gefühlten Frakturen der Gesellschaft also bloß ein mediales Gespinst? Das nun auch wieder nicht, meinen Mau und Kollegen. Die Deutschen sind kein Friede-Freude-Eierkuchen-Volk. Multiple Spannungen gebe es durchaus, auch in der breiten Mitte der Gesellschaft, nur eben die eine große Trennlinie nicht. Die Soziologen haben vier Arenen definiert, in denen die Konflikte auch bei Einigkeit im Grundsatz häufig an vermeintlichen Details eskalieren. In der hergebrachten Oben-Unten-Arena geht es um die Frage ökonomischer Verteilung. Trotz klassenübergreifender Ungleichheitskritik haben sich in weiten Teilen der Gesellschaft leistungsethische Maximen verbreitet. Der Konfliktkessel sei so nur mäßig erhitzt, nicht zuletzt, weil auch viele arme Menschen strukturelle Armut oft als selbst verschuldet wahrnähmen. Zwar ist der Klassenkampf „runtergedimmt“, dafür aber schäumen die anderen Konfliktkessel derzeit umso heftiger über. In der sogenannten Innen-Außen-Arena, in der um die genauen Modalitäten der (post-)migrantischen Gesellschaft gestritten wird, zeigt sich die Debatte dabei ähnlich entzündlich wie in den Diskursfeldern Diversität und menschengemachte Veränderung des Klimas.

„In allen Arenen gibt es triggernde Momente, die Menschen leicht in die Luft gehen lassen“, sagt Westheuser. Demzufolge neigen Menschen zur Wut, wenn sie eine ungleiche Behandlung zu erkennen meinen – mithin auch bei positiver Diskriminierung, der mutmaßlichen Besserstellung Schlechtergestellter. Zweitens triggert es sehr viele Menschen, wenn ihre Erwartung an Normalität durch abweichendes Verhalten herausgefordert wird. Zwar lässt sich über die Zeit insgesamt eine allgemeine Liberalisierungstendenz ausmachen. Kaum jemand stört sich heute noch wirklich an gleichgeschlechtlichen Eheschließungen. Und doch tauchen immer neue Subgruppen auf, wie zum Beispiel genderfluide Personen, die dann doch wieder Gemüter erhitzen. Verbreitet sei eine „Erlaubnistoleranz“. Wenn sich das Abweichende aber selbst thematisiert, und das dann auch noch mit herausforderndem Gestus, geht das vielen Menschen gegen den Strich. Denn eine Erweiterung dessen, was als normal gilt, kommt selten als bloß zusätzliche Möglichkeit daher. Stehen erst einmal andere Modelle im Raum, andere Weisen, zu lieben und zu sprechen, stellt dies auch einen gefühlten Angriff auf die bislang gängige Lebensweise dar.

Ein weiterer Triggerpunkt, erklärt Linus Westheuser, ist eine empfundene Verhaltenszumutung, etwa die, kein Billigfleisch mehr grillen zu sollen, das unbegrenzte Tempo auf der Autobahn drosseln oder eine neue Heizung einbauen zu müssen. Hier, so zeigt die Triggerpunkte-Studie, sind es oft die in der beruflichen Sphäre vielfach eingezwängten unteren Klassen, die nicht auch noch in ihrem als privat gedachten Raum eine Einschränkung von Autonomie erleben wollen. Der letzte Trigger, den die Soziologen beschreiben, ist das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren – etwa bei vermeintlich ungebremster Migration oder einer wahrgenommenen „Anspruchsinflation“ in Diversitäts- und Anerkennungsfragen. „Triggerpunkte“ richtet sich gegen den Befund einer radikal gespaltenen Gesellschaft und gibt dennoch keinen Anlass zur Entwarnung. So ist fraglich, was denn das Ergebnis der Studie, nämlich dass die Mitte in Grundsatzfragen weitgehend konsensuell eingestellt sei (Gleichstellung gut, Klimawandel schlecht), eigentlich wert ist, wenn der Teufel im Detail steckt. Was zählt Einmütigkeit in Sachen Gleichberechtigung, wenn der Genderstern als Triggerpunkt par excellence der Funke ist, an dem die Diskussion dann doch noch Feuer fängt?

Die affektive Polarisierung unterliegt wahrscheinlich einer größeren Schwankung als die thematische Polarisierung.

Christian von Scheve

„Auch wenn es stimmt, dass die Gesellschaft nicht in zwei Blöcke gespalten ist, brauchen wir dringend eine bessere Datenlage zum Ausmaß affektiver Polarisierung“, erklärt die Psychologin Jule Specht im Gespräch. Die HU-Professorin ist Sprecherin der neuen Einstein Research Unit „Coping with Affective Polarization“ in Berlin, die das Phänomen in den kommenden Jahren empirisch und fächerübergreifend erforschen wird. Specht und ihre Kolleg:innen wollen das Ausmaß affektiver Verhärtung, die hassgetränkte In-Group-Out-Group-Dynamik, also die Selbstvergewisserung des „eigenen“ über die Abgrenzung zum „fremden“ Kollektiv, mit Blick auf diverse Themen langfristig beobachten.

„Die affektive Polarisierung unterliegt wahrscheinlich einer größeren Schwankung als die thematische Polarisierung“, sagt Spechts Kollege Christian von Scheve, ebenfalls Sprecher des Forschungsverbundes. Damit der Zusammenhalt in der Gesellschaft nicht irgendwann von bipolarer Feindschaft verdrängt werde, müsse man diese im Auge behalten. Und außerdem ergründen, wie das wütende Geschrei in produktiven Streit überführt werden könne – wozu bislang noch wenig Forschung existiert.

Dabei könne es allerdings nicht darum gehen, affektive Polarisierung zu beenden, meinen Jule Specht und Christian von Scheve. Diese gehört wohl zumindest in Maßen zu modernen, komplexen Gesellschaften dazu, die den Menschen eben oft mit Differenz konfrontieren. Und wenn uns gar Positionen begegnen, die uns als Menschen herabwürdigen, zum Beispiel rassistisch oder antisemitisch, sind extreme moralische Gefühle nicht bloß nachvollziehbar, sondern oft auch empowernd. „Wir wollen ja nicht die Emotionen aus dem politischen Diskurs tilgen“, sagt Specht. Der „zwanglose Zwang des besseren Argumentes“, das lediglich rationale Abwägen von Gründen, vermittelt ein falsches Bild des Sozialen, auch demokratische Debatten dürfen aufgeheizt sein. Dabei gilt es allerdings genau zu eruieren, was die entscheidenden Kippmomente sind, die das Gesprächsklima vollends vergiften. Die Schlammschlacht auf X ist die Negativfolie.

Die aktuell wahrgenommene Spaltung obliegt dabei wohl häufig einem Social-Media-Bias. Die ständige Sichtbarkeit emotionalisiert aufbereiteter Inhalte und die algorithmische Prämierung des Extremen erwecken den Anschein einer zerrissenen Gesellschaft. Weniger sichtbar sind die Gemäßigten, die sich aus den Meinungsgefechten oft zurückziehen. Die Ränder sind tatsächlich polarisiert, aber eben nicht die komplette Gesellschaft. Dies aber muss freilich nicht immer so bleiben, geben auch Mau, Lux und Westheuser zu. Zumal auch die großen demokratischen Parteien auf die Loslösung ehedem angestammter Wähler:innen im Zuge gesellschaftlicher Singularisierung nicht selten mit dem plumpen Versuch reagieren, das weitgehend volatil gewordene Wahlvolk durch affektive Botschaften an sich zu binden –weniger thematisch und kaum permanent, vielmehr unmittelbar und auf Triggerpunkte setzend.

Dass auch die CDU und sogar die SPD etwa in den Fragen rund ums Thema Migration zuweilen in den Sound des Populismus verfallen, hilft langfristig allerdings mehr diesem als jenen. Keime gesellschaftlicher Spaltung sind da. Werden diese durch Polarisierungsakteure erfolgreich beackert, vertieft sich der Riss. So muss die AfD nicht am Rande verbleiben. Zahlreiche Erhebungen, etwa der Soziologen Wilhelm Heitmeyer oder Oliver Decker, belegen, dass rechtsautoritäre Positionen bis weit in die Mitte hinein anschlussfähig sind – auch wenn die Leipziger und Bielefelder Mitte-Studien stets nur einem kleinen Bevölkerungsteil ein geschlossen rechtsextremes Weltbild attestieren. Gerade die Unbeständigkeit der Mitte – sowohl thematisch als auch affektiv –, und besonders jene der Einkommensschwachen, gibt Populist:innen Raum für Politisierung. Dass es heute vermehrt Menschen aus den unteren Schichten sind, die einem nationalen Pathos verfallen und von Rechtspopulist:innen als Gruppe adressiert werden – ohne dass die Arbeiterklasse im Ganzen oder auch nur mehrheitlich rechts wählen würde –, ist indessen ein tragischer Befund.

Dies hat letztlich auch damit zu tun, dass die besagte Oben-Unten-Arena politisch weitgehend stillgestellt ist. So konstatieren Mau und Kollegen „eine Demobilisierung des Klassenkonflikts“. Die sozioökonomischen Probleme jedoch und die psychischen Spannungen, die sie erzeugen, sind immer noch da, während deren Energien oft in die anderen Arenen entweichen.

Schon die Vertreter der Frankfurter Schule haben seinerzeit eindrücklich gezeigt, dass die Themen der Rechten oft entstellte Versionen sozioökonomischer Missstände sind und der Agitator stets darum bemüht ist, den Verteilungskonflikt zum Kulturkampf umzulügen. Statt „unten gegen oben“ heißt es „wir gegen sie“. Ökonomische oder symbolische Verluste werden mit der Teilhabe am „Volk“ kompensiert als vermeintlich zeitloser Identität, die Geborgenheit und Größe wiederherstellen soll. 

Die AfD ist mit ihrer politischen Alchemie einer Umschmelzung von Klassen- in Kulturkampf bis jetzt relativ erfolgreich gewesen, wobei die Stärke der Rechten in Geschichte und Gegenwart häufig aus der Schwäche der Linken resultiert. Wo diese nicht glaubwürdig für Umverteilung kämpft, hat jene in der Regel leichtes Spiel. Die rechtsautoritäre Bewegung kann schrumpfen, hat aber sicher auch noch Wachstumspotenzial.


Autor

Christoph David Piorkowski ist Journalist und Autor. Sein Buch „Demokratie im Kreuzfeuer. Die Krise der liberalen Ordnung und die Internationale des Autoritarismus“ ist 2024 im Metropol Verlag erschienen.

März 2025