Vielfältiger, weniger, älter: Die Sozialdemografie erforscht, welche Folgen die demografische Entwicklung auf die Gesellschaft hat. ALBERT sprach mit Michaela Kreyenfeld und Paul Gellert vom Einstein Center Population Diversity (ECPD) über die Herausforderungen einer alternden und zunehmend diversen Bevölkerung – sowie über Wege zu sinnvollen sozialpolitischen Entscheidungen.
Interview: Mirco Lomoth

Wir stehen hier am Alexanderplatz. Wenn wir uns umschauen, sehen wir einen Ausschnitt der demografischen Realität in Deutschland. Woran denken Sie, wenn Sie die Menschen sehen?
Kreyenfeld Der Alexanderplatz ist sehr touristisch geprägt, aber wenn wir auf Berlin-Mitte schauen, kann man feststellen, dass es ein relativ junger Bezirk ist im Vergleich zu anderen wie etwa Steglitz. Das Alter ist eine Schlüsselkategorie in der Demografie. Aber es lassen sich hier auch andere Dimensionen von Diversität gut beobachten. Viele denken da sofort an den Migrationshintergrund, aber in der Demografie sind auch andere Dimensionen sehr zentral. Dazu gehört vor allem das Geschlecht, aber auch Unterschiede nach Familienstand und Lebensform sind relevant.
Gellert Zu den demografischen Merkmalen, die man den Personen im Vorbeigehen zuschreibt, kommen Merkmale, die man nicht unmittelbar beobachten kann, wie die sexuelle Orientierung oder Werte und Einstellungen. Ich kam gerade vom Bahnhof Alexanderplatz, wo man Wohnungslosigkeit und Armut beobachten kann. Demografische Faktoren wie Alter, Herkunft oder Geschlecht hängen eng mit sozialen Ungleichheiten zusammen.
Wenn man sich umschaut, fällt einem auch auf, dass wenige Eltern mit Kindern unterwegs sind. Die Geburtenzahlen in Deutschland sind im weltweiten Vergleich sehr niedrig, 2023 bekam eine Frau im Schnitt nur 1,35 Kinder. Muss uns das beunruhigen?
Kreyenfeld Wenn die Geburtenrate in den nächsten Jahren nicht massiv steigt oder die Migration nicht auf einem hohen Niveau gehalten wird, nämlich bei mehr als 300.000 Netto-Zuzügen pro Jahr, wird die Bevölkerung in Deutschland spätestens 2040 zurückgehen. Aber ist das jetzt schlimm oder nicht? In bestimmten Regionen kann ein Bevölkerungsrückgang problematisch sein, wenn er zu schnell vor sich geht. Da muss die Infrastruktur angepasst werden, und das kann eine Herausforderung sein. Viel relevanter ist jedoch die Alterung, die mit dem demografischen Wandel verbunden ist. Wir sind jetzt kurz davor, dass die Babyboomer ins Rentenalter eintreten und dem Arbeitsmarkt verloren gehen.
Gellert Es folgen geburtenschwächere Jahrgänge, die dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, was eine große Lücke hinterlässt, wenn nicht gegengesteuert wird. Das weiß man mindestens seit den 1980er-Jahren und jetzt stehen wir unmittelbar davor. Die Babyboomer sind nicht nur große Geburtskohorten. Sie sind zudem häufiger kinderlos oder haben weniger Kinder als die Jahrgänge zuvor.
Die Babyboomer haben zwar eine höhere Lebenserwartung als vorherige Kohorten, werden in einigen Jahren aber vermutlich zu einem hohen Prozentsatz Pflegeleistungen in Anspruch nehmen.
Paul Gellert

an der Hertie School, und Paul Gellert, Professor für soziale und verhaltenswissenschaftliche Gerontologie und Direktor des Einstein Center Population Diversity (ECPD)
Foto: Alina Simmelbauer
Das hat massive Folgen für das Pflegesystem …
Gellert Richtig. Die Babyboomer haben zwar eine höhere Lebenserwartung als vorherige Kohorten, werden in einigen Jahren aber vermutlich zu einem hohen Prozentsatz Pflegeleistungen in Anspruch nehmen. Bisher wird die Pflege zu ungefähr 80 Prozent von Familien geleistet. Kinderlosigkeit oder weniger Kinder bedeutet aber, dass Pflege im familiären Bereich nicht zur Verfügung steht. Dazu kommt eine höhere Autonomie der Kinder, die möglicherweise nicht am Ort der Eltern leben und keine intensive Pflege mehr leisten können – oder wollen. Genauso fehlt es an professionell Pflegenden auf dem Arbeitsmarkt. Beides zusammen wird zu großen Problemen in der pflegerischen Versorgung führen, die wir in Teilen jetzt schon bemerken.
Kreyenfeld Auch Ehepartner oder Ehepartnerinnen, die die Pflege übernehmen, fehlen heute mehr als früher, weil Trennungen und Scheidungen gerade im höheren Alter zugenommen haben.
2023 haben 360.000 Personen Pflege in Anspruch genommen, statt der erwarteten 50.000. Wie sind solche eklatanten Anstiege zu erklären?
Gellert Das hat für viel mediales Aufsehen gesorgt. Es wurde diskutiert, ob das Nachholeffekte aus der Pandemie sind, also spätere Beantragungen von Pflegeleistungen. Auch, ob Post-Covid-Erkrankungen für einen Anstieg gesorgt haben. Insgesamt war das zur Erklärung aber nicht ausreichend. Es folgte die Überlegung, ob die ersten Babyboomer jetzt früh und damit parallel zu ihrer Elterngeneration pflegebedürftig werden, weil sie Krankheiten wie einen Schlaganfall, der früher zum Tod geführt hätte, überleben. Aber auch das ist noch eine Vermutung.

Kreyenfeld Die Pflegeversicherung war nie so aufgestellt, dass sie die Pflege im Alter für die Gesamtbevölkerung sicherstellen kann. Das ist ein großer Unterschied zum Rentensystem. Es ist immer vorausgesetzt worden, dass die Familie einen großen Teil der Pflege trägt. Aber das war eine zu optimistische Prämisse. Digitale Pflege kann hier vielleicht in gewissem Maße unterstützen und einige Lücken schließen, doch letztlich basiert die Pflege auf menschlicher Interaktion.
Muss die Care-Arbeit gestärkt werden?
Gellert Gepflegte und deren pflegende Angehörige müssen finanziell besser unterstützt werden und mehr Wertschätzung in der Gesellschaft erfahren. Genauso die professionelle Pflege. Hier geht es zudem um Entlastung – Pflegekräfte sollten wirklich nur solche Tätigkeiten machen müssen, die in ihren Arbeitsbereich fallen. Andere Fachkräfte müssen sie ergänzen. Auch muss die Pflege als Beruf attraktiver gestaltet werden, damit genügend Leute ihn ergreifen.
Ist die Altersstruktur in Deutschland ein Problem für die Zukunftsfähigkeit des Landes?
Kreyenfeld In der demografischen Debatte wurde lange Zeit darüber diskutiert, dass die Innovationsfähigkeit leidet, weil es an jungen Leuten fehlt und unsere Volkswirtschaft nicht mehr fortschrittlich genug sein kann, um im internationalen Wettbewerb zu bestehen. Das ist aber nicht das schlagende Argument. Wir haben gesehen, dass lebenslanges Lernen die Innovationsfähigkeit erhalten kann. Der springende Punkt ist die Belastung der Volkswirtschaft durch die Kosten von Pflege und Alterung.
Positiv ist, dass die Lebenserwartung deutlich gestiegen ist und wir im Alter gesünder bleiben, wobei die Lebenserwartung weltweit schneller zu steigen scheint als die gesunden Jahre.
Michaela Kreyenfeld
Kann man in der eng verzahnten Entwicklung von Bevölkerungsrückgang und Alterung denn auch etwas Positives erkennen?
Gellert Alter per se negativ zu sehen, ist eine Form der Altersdiskriminierung. Eine positive Sichtweise fasst Altern als produktives Altern – also etwa durch die Beteiligung von älteren Menschen an der Erwerbsarbeit, aber auch durch Familienaufgaben und Ehrenamt. Dazu gehört auch, alten Menschen gleiche Chancen und gleiche Teilhabe einzuräumen wie jüngeren Menschen. Positiv kann auch die Flexibilisierung des Renteneintrittsalters für diejenigen sein, die gerne länger arbeiten wollen, auch wenn das den massiven Bedarf an gesundheitlicher und pflegerischer Versorgung nicht wettmachen wird.
Kreyenfeld Positiv ist auch, dass die Lebenserwartung deutlich gestiegen ist und wir im Alter gesünder bleiben, wobei die Lebenserwartung weltweit schneller zu steigen scheint als die gesunden Jahre. Gesund alt zu werden ist etwas, das jeder von uns anstrebt, es lassen sich zudem Unterschiede zwischen den Geschlechtern beobachten: Frauen leben länger, haben aber häufiger mit einer höheren Krankheitslast zu tun.
Gellert In einer alternden Gesellschaft steigt die Krankheitslast der Bevölkerung auch insgesamt. Die Herausforderung ist, die Krankheiten in ein möglichst hohes Alter zu verschieben, also ans Lebensende. Wir nennen das Kompression der Morbidität. Eigentlich ist man davon ausgegangen, dass mit dem Anstieg der Lebenserwartung genau das passiert. Es ist jedoch nicht bei allen Erkrankungen zu beobachten. Für Herz-Kreislauf-Erkrankungen haben wir zum Beispiel eine Zunahme im mittleren Erwachsenenalter und eine Abnahme im höheren. Wichtig ist auch die Frage, ob alle in der Bevölkerung vom Zugewinn an gesunden Jahren profitieren können: Schaffen wir es, die Vorteile für jede Person nutzbar zu machen, oder gibt es soziale Schieflagen je nach Bildung oder Einkommen?
Wie lassen sich denn Aussagen darüber treffen, ob gesundes Altern für alle Bevölkerungsgruppen möglich ist?
Kreyenfeld Das ist gar nicht so einfach, weil es nicht viele Massendaten gibt, die sowohl soziale als auch demografische Faktoren enthalten. In der Regel verwenden wir Registerdaten, etwa von der Rentenversicherung, die mit der Rehabilitationsstatistik verknüpft sind. Darin kann man sehen, welche Diagnose eine Person hat, ob sie verheiratet oder geschieden ist.
Gellert Dazu kommen Krankenkassenroutinedaten, nationale und internationale repräsentative Befragungen und sozialdemografische und gesundheitsbezogene Informationen. Wichtig ist, dass die Fallzahlen hoch genug sein müssen, um unterschiedliche Bevölkerungsgruppen separat untersuchen zu können. In einer aktuellen Analyse haben wir beispielsweise festgestellt, dass es in der Bevölkerungsgruppe mit Migrationshintergrund bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen in den letzten 15 Jahren eine Verbesserung gab. Allerdings war die Ausgangslage der Erkrankungen so hoch, dass die Bevölkerungsgruppe insgesamt noch immer benachteiligt ist. So ergibt sich ein differenziertes Bild, das man für jede Bevölkerungsgruppe separat ermitteln muss.

Sie versuchen also, zunächst mal die Datengrundlage zu schaffen, um Benachteiligungen zu erkennen und gegenzusteuern?
Gellert Es geht nicht nur darum, neue Daten zu erheben. Einige Daten sind schon vorhanden; beispielsweise gibt es wiederholte Befragungen, wie den Deutschen Alterssurvey, das Sozio-oekonomische Panel, die NAKO-Gesundheitsstudie oder den „Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe“ sowie Daten der Krankenkassen und der Rentenversicherung in Deutschland, die für demografische Betrachtungen genutzt werden können. Die Aufgabe ist, diese zum Teil komplexen Daten gewinnbringend auszuwerten.
Viele demografische Daten stehen der Forschung nur mit Verzögerung zur Verfügung – hat Deutschland hier Aufholbedarf?
Kreyenfeld Zensusdaten werden in Deutschland nur alle zehn Jahre erhoben. In der Zwischenzeit wird die Bevölkerungszahl nur fortgeschrieben. Ein zentrales Einwohnermelderegister wie in den nordischen Ländern gibt es in Deutschland nicht. Der Mikrozensus liefert jährlich Informationen über die Sozialstruktur der Bevölkerung. Aber die Forschung kann auf all diese Daten nur mit erheblicher Verzögerung von zum Teil mehr als zwei Jahren zugreifen. Das erscheint in unserer schnelllebigen Zeit nicht mehr zeitgemäß.
Braucht es also eine bessere Dateninfrastruktur, auch um auf Krisen wie die COVID-19-Pandemie gezielter reagieren zu können?
Gellert In der Coronapandemie fehlten uns zentrale Daten, um den Gesundheitsstatus der Bevölkerung zu erfassen. Deswegen hat sich das nationale Netzwerk Universitätsmedizin gegründet, das die verschiedenen Datenkörper, die vorher getrennt waren, systematisch zusammenführen will. Dieses Ziel verfolgt auch die vom Bund geförderte Medizininformatik-Initiative. Für eine gemeinsame Dateninfrastruktur wurde zudem das Forschungsdatenzentrum Gesundheit ins Leben gerufen, in das auch alle Krankenkassen ihre Daten einspeisen werden. Deutschland bekommt also in naher Zukunft mehr Potenzial auf der Dateninfrastrukturebene, etwa für die Prävention und Überwachung von Gesundheitskrisen. Natürlich hat das Robert Koch-Institut in der COVID-19-Pandemie die Surveillance-Systeme auf- und ausgebaut. Aber international sind wir noch im Hintertreffen.
Kreyenfeld Gerade im Bereich der Registerdatenanalyse reichen wir lange nicht an die niederländischen und nordischen Verhältnisse heran.

Mit dem Einstein Center Population Diversity (ECPD) wollen Sie demografische Daten mit denen anderer Disziplinen verknüpfen, um so neue Zusammenhänge aufzudecken. Wie sehr geht das über die klassischen Fragen der Demografie hinaus?
Kreyenfeld Demografie wird oft darauf reduziert, dass sie sich die Bevölkerung nur anhand der großen Schlüsselkategorien Alter, Geschlecht und Migrationshintergrund anschaut, vielleicht noch Bildung oder Familienstand. Doch all diese Faktoren stehen in enger Beziehung zu Prozessen der sozialen Ungleichheit und Gesundheit. Am ECPD fassen wir Demografie daher als Sozialdemografie weiter, um an der Schnittstelle zu anderen Wissenschaften wie der Soziologie wichtige Fragen zu beantworten, die die Gesellschaft umtreiben.
Gellert Das Einstein Center ist auch insofern einmalig, als wir die Sozialdemografie eng mit der biomedizinischen Sicht der Gesundheitswissenschaften verknüpfen. So können wir ein breites Spektrum bedienen, das man als bio-psycho-sozial bezeichnen könnte. Wenn wir demografische Daten mit anderen großen Datensätzen aus Disziplinen wie Öffentliche Gesundheit, Epidemiologie, Psychologie und Soziologie verknüpfen, entstehen neue Forschungsmöglichkeiten, um die sozialen Determinanten von Gesundheit in den Blick zu nehmen.
Kreyenfeld In den USA ist die Social Demography eine etablierte Disziplin. Hier in Deutschland hat das Max-Planck-Institut in Rostock nach 1995 erstmals sozialdemografische Ansätze verfolgt. In Berlin gibt es viele Forscher und Forscherinnen im Bereich der Sozialdemografie, die an der Schnittstelle von Demografie, Soziologie und Gesundheit arbeiten. Durch das Einstein Center sind sie jetzt alle unter einem Dach.
Eines der Ziele des ECPD ist es, zu ergründen, wie die Vielfalt der Bevölkerung sich innerhalb von Familien abbildet. Warum haben Sie den Fokus auf die soziale Grundeinheit der Gesellschaft gewählt?
Gellert Viele Ungleichheiten reproduzieren sich innerhalb von Familien und werden dort verhandelt. Diese Perspektive ist uns wichtig, weil wir denken, dass sie die Verhältnisse vielschichtiger abbildet als klassische demografische Ansätze, die sich meistens auf Individuen konzentrieren.
Kreyenfeld Wenn wir uns zum Beispiel mit dem Alter beschäftigen, bringen wir das oft nicht mit Familiendiversität in Zusammenhang. Die verbindet man eher mit dem mittleren Lebensalter – wenn man sich scheiden lässt oder neue Partnerschaften eingeht. Die Babyboomer-Jahrgänge tragen diese Familiendiversität jetzt aber ins höhere Alter und es besteht ein klarer Zusammenhang zwischen Alterung und den Herausforderungen durch eine zunehmende Familiendiversität. Wer zum Beispiel übernimmt die Pflege bei geschiedenen Alten, Kinderlosen oder für die LGBTQ+-Community?
Gellert Familiendiversität wird oft als soziale Problemlage gefasst. Aber auch da kann man Potenziale sehen, zum Beispiel wenn bei wiederverpartnerten Patchworkfamilien oder in queeren families of choice neue Möglichkeiten für Pflegearrangements entstehen. Deren Möglichkeiten und Grenzen wollen wir uns auch anschauen.
Es besteht ein klarer Zusammenhang zwischen Alterung und den Herausforderungen durch eine zunehmende Familiendiversität. Wer zum Beispiel übernimmt die Pflege bei geschiedenen Alten, Kinderlosen oder für die LGBTQ+-Community?
Michaela Kreyenfeld
Welchen Einfluss hat die Diversität von Familien denn auf die Gesundheit?
Kreyenfeld Wir wissen zum Beispiel, dass Scheidung einen Einfluss auf Wohlbefinden und Gesundheit hat. Bei Männern erhöht sie das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen deutlich, bei Frauen ist die mentale Gesundheit stärker betroffen. Wenn wir jetzt in den demografischen Daten sehen, dass sich Scheidung und Trennung im Lebenslauf nach hinten verschieben, ist das sehr relevant. Denn im Alter steigt ohnehin das Risiko für Krankheiten massiv an und Belastungen durch familiale Übergänge können noch mal einen verstärkenden Effekt haben.
Gellert Wir schauen auch auf die Rolle der Familie und familialer Übergänge für die mentale Gesundheit, etwa für Stressbelastung und Wohlbefinden, Depressionen und Angst – und wie dies mit körperlichen Erkrankungen zusammenhängt, zum Beispiel mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes oder Übergewicht.
Sie wollen auch die ökonomischen Vor- und Nachteile untersuchen, die aus Diversität entstehen können …
Kreyenfeld Genau. Zum Beispiel sehen wir, dass geschiedene Frauen, aber auch Männer im späteren Alter deutlich niedrigere Rentenanwartschaften haben oder nach der Scheidung oder Trennung keinen Fuß mehr in den Arbeitsmarkt bekommen. Liegt das möglicherweise mit an den gesundheitlichen Belastungen, die sie erfahren? Wenn wir auf solche Fragen Antworten finden, können wir sozialpolitische Handlungsempfehlungen geben. Die Familiendiversität spielt eine enorme Rolle, weil bestimmte Bevölkerungsgruppen hohen Risiken ausgesetzt sein werden.
Das ECPD wird also auch sozialpolitische Handlungsempfehlungen erarbeiten?
Kreyenfeld Es geht uns darum, wie man präventiv tätig werden und eine gute Familienpolitik gestalten kann. Wie kriegt man es hin, dass bestimmte Personengruppen nicht in die Altersarmut abrutschen? Wenn man sich die Situation alleinerziehender Frauen im höheren Alter anschaut, kann man danach fragen, wie die Familienpolitik hätte gestaltet werden müssen, um deren Armut abzumildern, oder wie sie im Nachhinein korrigiert werden kann. Momentan gibt es die Anrechnung von Kindererziehungszeiten für die Rente. Aber vielleicht brauchen wir noch andere Maßnahmen, um Benachteiligungen auszugleichen. Ich hoffe, dass wir der Politik belastbare Daten für Bereiche und Personengruppen liefern können, die sie bisher noch nicht ausreichend im Blick hatte.

Gellert Wir wollen mit unserer Forschung vulnerable Familienkonstellationen in den Blick nehmen und Hebel ausmachen, die zu deren Stärkung beitragen. So können wir der Politik Empfehlungen an die Hand geben, wie sie Bildungsungleichheiten, sozioökonomischen und gesundheitlichen Ungleichheiten, die oft ineinander verschränkt sind, entgegenwirken kann.
Demografische Prozesse kommen oft mit einem pessimistischen Beiklang daher, weil sie große Herausforderungen mit sich bringen. Braucht es eine optimistischere Einstellung?
Kreyenfeld Demografie an sich ist keinesfalls pessimistisch. Es geht ihr darum, Daten zu liefern, um Aussagen über die Zukunft zu ermöglichen – auch über die Alterung und Zusammensetzung der Gesellschaft. Die Demografie hat den Fachkräftemangel zum Beispiel sehr gut vorhergesagt. Die Frage ist dann natürlich, ob die Politik das positiv oder negativ darstellt und wie konstruktiv sie damit umgeht. Im öffentlichen Diskurs überwiegt häufig der negative Blick …
Gellert Das stimmt, die Alterung der Bevölkerung wird schnell als Überalterung bewertet. Dabei steckt das in den Daten gar nicht drin. Da leiten negative Alters stereotype das Denken. Das wiederum führt dazu, dass Ängste entstehen. Dem kann man Potenzialperspektiven gegenüberstellen, denn im Alter kann noch viel erreicht und ein gutes Leben gelebt werden. Das soll aber nicht verschleiern, dass große Herausforderung mit der Alterung einhergehen.
Kreyenfeld Ein Teil der Skepsis gegenüber demografischen Prozessen hat damit zu tun, dass sozialpolitische Reformen wie die Heraufsetzung des Renteneintrittsalters demografisch begründet und kontrovers diskutiert worden sind. Das Problem in solchen Diskussionen ist oft, dass es zu wenig Verständnis dafür gibt, wie demografische Zahlen zustande kommen. Es ist sehr wichtig, sich die Annahmen genau anzuschauen, auf denen sie beruhen. Da gibt es eben nicht nur das eine Szenario, sondern viele. Das ist in der Vergangenheit oft nicht gemacht worden. Daraus entsteht ein Verständnis von Demografie als Schicksal – demography as destiny –, das nur eine einzige Lösung zulässt. Es ist sehr wichtig, sich alle möglichen Stellschrauben anzuschauen, bevor man politische Veränderungen auf den Weg bringt.
Gellert Es ist eine wichtige Aufgabe der Forschung, Wege aufzuzeigen und Wirkmechanismen zu verstehen, um Entwicklungen positiv zu verändern. Das wollen wir mit dem ECPD leisten.
Wir wollen mit unserer Forschung vulnerable Familienkonstellationen in den Blick nehmen und Hebel ausmachen, die zu deren Stärkung beitragen. So können wir
der Politik Empfehlungen an die Hand geben.
Paul Gellert
Würden Sie sagen, dass die Demografie eine politische Disziplin ist, weil sie politisches Handeln beeinflusst und sich an ihr oft politische Diskussionen entzünden?
Kreyenfeld Demografie ist eine staatsnahe Wissenschaft. Schon bei der frühen demografischen Forschung ging es um Datensammlung – wie viele Leute leben in einem Staat, die Steuern zahlen oder zum Militär gehen können? Staatsinteressen, teilweise verbunden mit kirchlichen Interessen, sind der Ursprung der demografischen Datenerfassung. Damit ist die Demografie eine politische Disziplin in dem Sinne, dass sie immer schon politische Antworten liefern wollte. Das lässt sich auch im Bereich der Gesundheitsprävention beobachten. Ursprünglich ging es darum, Pest- oder Choleratote im London des 16. Jahrhunderts zu dokumentieren, um zu wissen, in welchen Stadtteilen es wichtig ist, präventiv tätig zu werden.
Gellert Man sieht die Staatsnähe auch daran, dass viele demografische Daten für politische Entscheidungen im Gesundheitssektor aus staatlichen Behörden wie vor allem dem Statistischen Bundesamt kommen. Die demografische Forschung, die an Universitäten und Forschungsinstituten wie dem Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung und dem Robert Koch-Institut durchgeführt wird, geht jedoch mit eigenen wissenschaftlichen Fragestellungen darüber hinaus. Dennoch will sie Antworten auf politikrelevante Fragen liefern.
Mit etwas Abstand kann man auch Parallelen zur Klimaforschung beobachten: Prognosen liegen auf dem Tisch, aber viele Probleme bleiben ungelöst …
Gellert Es stimmt, dass es auf einem hohen Abstraktionsniveau Parallelen gibt: Die demografische Forschung hat viele Daten zu Makrokrisen vorgelegt und seit Langem darauf hingewiesen, welche Entwicklungen eintreten werden. Die Politik hat zwar darauf reagiert, aber es wären noch stärkere Reaktionen nötig. Wir Forschende haben daher die Aufgabe, unsere Daten noch besser zu erklären, damit sie Gehör finden.
Kreyenfeld Es hängt aber stark vom Bereich ab. Bei der Alterung und Rente sind gerade in Deutschland viele Reformen auf den Weg gebracht worden. Demografische Daten haben zum Beispiel in der Rürup-Kommission, die die sozialen Sicherungssysteme reformieren sollte, eine wichtige Rolle gespielt. Beim Fachkräftemangel hingegen wundert man sich schon. Hier muss allen klar gewesen sein, dass wir in eine schwierige Situation kommen. Das hätte mit einer guten Migrationspolitik rechtzeitig gelöst werden können. Es gab ja Anwerbe-Programme wie Make it in Germany, die aber im Zuge der Flüchtlingskrise eingestellt wurden, weil das Thema die Öffentlichkeit so stark polarisiert hat. Die aktuellen Initiativen sind alle nicht weitreichend genug. Eine kurzfristige Lösung wäre eine Fachkräfte-Migrationsoffensive. Die wurde bisher verschlafen, weil es sehr schwierig zu kommunizieren ist, dass wir mehr Zuwanderung brauchen, um zukunftsfähig zu bleiben.

Rechte Politiker:innen nutzen demografische Aussagen häufig, um zu polarisieren, gerade im Bereich Migration. Diese Vereinnahmung hat in Deutschland eine lange Tradition. Wie groß ist die Verantwortung der Forschung, das zu verhindern?
Gellert In der Coronakrise haben wir gesehen, wie schnell wissenschaftliche Fakten umgedeutet und missverstanden werden können und wie schnell Fehlinformationen die Runde machen. Davor ist man leider nie gefeit, aber man sollte versuchen, der Fehlinformation entgegenzuwirken, indem man so einfach wie möglich kommuniziert, ohne jedoch zu vereinfachen – den Kontext also immer mitzuliefern.
Kreyenfeld Das Statistische Bundesamt nutzt einen sehr breiten Migrationsbegriff, mit dem auch Personen der zweiten Generation noch als Migranten gefasst werden. Dadurch entstehen Zahlen, die schnell missbraucht werden können, vor allem, wenn sie ohne Kontext präsentiert werden.
Zuletzt würden wir gerne wissen, was Sie an der Demografie begeistert …
Gellert Aus der Gerontologie und Gesundheitspsychologie kommend, sehe ich die Demografie gerade in ihrer interdisziplinären Verknüpfung als ungemein bereichernd. Viele gesellschaftliche Fragen sind so komplex, dass sie nicht nur von einer Disziplin beantwortet werden können. Wir brauchen Brückenschläge. Kreyenfeld Mich begeistert, dass sie so nah an der Realität ist und man sozialpolitisch relevante Antworten auf Basis von belastbaren Massendaten liefern kann. Wir schauen auf Ereignisse wie Tod, Migration, Heirat oder Scheidung, die für die Menschen im Lebenslauf von substanzieller Bedeutung sind. Die Demografie lehrt einen daher sehr viel über den Lauf des Lebens und führt vor Augen, dass wir längst nicht alles selbst bestimmen – wann wir Kinder bekommen etwa. Man denkt, das entscheidet man ganz allein, aber wenn wir uns dann die demografischen Daten angucken, sehen wir, dass zu DDR-Zeiten fast alle Frauen mit 22 ein erstes Kind bekommen haben, jetzt mit um die 30.
Wir sind also viel vorhersehbarer, als wir uns einbilden?
Kreyenfeld Genau. Und erst unsere Endlichkeit ermöglicht sozialen Wandel. Am Ende geben wir den Staffelstab weiter und die nächste Generation bringt neue Ideen mit. Die demografische Brille hält uns das immer vor Augen.