Generationenlabels sind allgegenwärtig. Doch wie sinnvoll ist es für die Forschung, junge Menschen einer Generation zuzuordnen, um sie beschreiben zu können? Zwei Sichtweisen auf ein umstrittenes Konzept
PRO - Text von Klaus Hurrelmann
Der Generationsbegriff bietet einen wertvollen analytischen Rahmen, um soziale, kulturelle und historische Veränderungen zu verstehen und zu erklären. Karl Mannheim hat ihn in den 1920er-Jahren in die wissenschaftliche Diskussion eingeführt. Seine These: Durch die Analyse historischer Ereignisse, die das Leben von Menschen in ihrer Jugendzeit und im jungen Erwachsenenalter prägen, lässt sich verstehen, wie sich ihre Einstellungen, Werte, Lebensstile und Weltanschauungen formen. Für Mannheim ergab sich diese „Gestalt“ einer Generation aus ihrer „Lagerung“, also der sozialen Verortung aufeinanderfolgender Alterskohorten in einer Gesellschaft, die gemeinsame Erfahrungen und Prägungen teilen.
Der von Mannheim geprägte Generationsbegriff ermöglicht uns bis heute, historische und soziale Veränderungen zu kontextualisieren. Er hilft dabei, die Einflüsse historischer Ereignisse auf bestimmte Altersgruppen zu untersuchen, zum Beispiel die Einflüsse von Kriegen, Wirtschaftskrisen oder Pandemien. Auf diese Weise lässt sich das Gefühl der Zusammengehörigkeit innerhalb von Alterskohorten erklären. Dies ist besonders relevant in soziologischen und psychologischen Studien, die sich mit Gruppenidentitäten befassen. Es lassen sich Unterschiede und Gemeinsamkeiten identifizieren, die sich in Werten, Einstellungen, Verhaltensweisen und kulturellen Normen manifestieren.
In idealtypischer Weise kann die Ausgangslage für die Persönlichkeitsentwicklung der Gesellschaftsmitglieder in einer bestimmten sozialen politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und technischen Phase der Geschichte herausgearbeitet werden. Dadurch werden Unterschiede zwischen verschiedenen Altersgruppen zum Beispiel im Berufsleben oder in der Politik nachvollziehbar. Das ist die Voraussetzung dafür, unterschiedliche Wahrnehmungen der Lebensbedingungen und sich daraus ergebende Spannungen zwischen den Generationen zu verstehen und Ansätze für einen Interessenausgleich zu finden. Aktuell ist bei den unter 30-jährigen Berufsanfängern zum Beispiel eine große Sorge vor gesundheitlicher Überforderung zu beobachten. Sie lässt sich auf die Erfahrungen während der drei Jahre Coronapandemie zurückführen. Wenn Personalabteilungen hierauf sensibel eingehen, ersparen sie sich viele Vorurteile und Fehleinschätzungen zur Leistungsmotivation der jungen Generation.
Werden die Grenzen des Generationsbegriffs beachtet, ist er hervorragend geeignet, um die besondere Ausgangslage
einer Alterskohorte sensibel herauszuarbeiten.
Klaus Hurrelmann
Es ist wichtig, sich der erkenntnistheoretischen und methodischen Schwächen des Begriffes bewusst zu sein. Wie alle idealtypisch angelegten Begriffe birgt auch dieser die Gefahr der Übervereinfachung und Generalisierung. Die heuristisch wertvolle Suche nach der „Gestalt“ einer Generation kann dazu führen, die höchst unterschiedlichen Erfahrungen, Werte und Lebensbedingungen zu übersehen, die sich in der Realität bilden.
Die idealtypische Betrachtungsweise erschwert es zudem, Veränderungen und Entwicklungen im Zeitverlauf genau abzubilden. Denn es ist methodisch schwierig, zwischen Alterseffekten (Veränderungen, die durch das Älterwerden verursacht werden) und Generationeneffekten (Veränderungen, die durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Generation verursacht werden) zu unterscheiden. Ein weiteres Problem: Die zeitliche Abgrenzung von Generationen ist oft willkürlich. Es gibt keine einheitlichen Kriterien, um Generationen klar zu definieren, was zu Inkonsistenzen in der Forschung führt.
Als pragmatischer Ausweg hat sich bewährt, jeweils 15 aufeinanderfolgende Alterskohorten als eine „Generation“ zu bezeichnen, ihr einen anschaulichen Namen zu geben (Babyboomer, Generation Why/Y ...) und die entsprechende Zeitspanne international abzustimmen – zum Beispiel die Geburtsjahre 1995 bis 2010 für die Generation Why/Y. Werden diese Grenzen des Generationsbegriffs beachtet, ist er hervorragend geeignet, um die besondere Ausgangslage einer Alterskohorte sensibel herauszuarbeiten.
In der formativen Phase der Persönlichkeitsentwicklung zwischen der Pubertät und dem Auszug aus dem Elternhaus, also etwa zwischen zwölf und 25 Jahren, setzen sich junge Menschen besonders intensiv mit ihren Lebensbedingungen auseinander und verarbeiten dabei die jeweiligen sozialen, politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und technischen Ausgangsbedingungen, die sie vorfinden. Ihr Bild von Gesellschaft und Mensch unterscheidet sich aus diesem Grund in der Regel von dem älterer Generationen, die jeweils andere Bedingungen vorfanden.
Mithilfe des Generationenkonzepts lässt sich herausarbeiten, wie sich die Bedingungen und Herausforderungen für junge Menschen verändern, aber auch, ob es bestimmte gemeinsame Merkmale gibt, die Generationen verbinden.
CONTRA - Text von Hannes Zacher
Der Generationsbegriff wird heute in Forschung, Wirtschaft und Öffentlichkeit anders verwendet als von Karl Mannheim vor fast 100 Jahren. Mannheims Gedankenexperimente lassen sich nicht mit modernen, empirischquantitativen Methoden überprüfen. Die heutige Generationenforschung lässt Menschen Fragebögen zu ihren Einstellungen, Werten und Verhaltensweisen beantworten. Anschließend teilen Forschende sie in drei oder vier Gruppen basierend auf ihren Geburtsjahren ein und versehen die Gruppen mit prägnanten Labels, etwa „Generation Alpha“ für die Jahrgänge zwischen 2010 und 2025. Wenn Unterschiede in Einstellungen, Werten und Verhalten bestehen, werden diese zu Generationenunterschieden erklärt und mit historischen Ereignissen in Verbindung gebracht, wie mit der Einführung des iPhone 2007.
Diese Forschung ist unseriös, weil sie (a) auf keiner soliden Theorie beruht, die etwa die Grenzziehung zwischen Generationen erklärt oder die Wirkmechanismen zwischen historischen Ereignissen und individuellen Merkmalen beschreibt; (b) fragwürdige Methoden verwendet, wie das willkürliche Unterteilen eines kontinuierlichen Merkmals (Alter) in wenige Gruppen; und (c) Unterschiede sich nicht eindeutig auf das Geburtsjahr oder das Alter zurückführen lassen. Unabhängig von ihrem Geburtsjahr verändern sich Menschen mit dem Alter aufgrund von Sozialisationserfahrungen in Schule, Ausbildung und Familie, zum Beispiel werden sie im Durchschnitt zuverlässiger und gelassener.
Weil sich Mannheims Theorie nicht mit modernen Forschungsmethoden überprüfen lässt, gab es noch nie eine rigorose empirische Studie zu Generationen und es wird eine solche auch nie geben. Dennoch werden die fragwürdigen Ergebnisse der Generationenforschung häufig von der „Generationenindustrie“ – Medien, Autoren populärwissenschaftlicher Bücher, Unternehmensberatern – dankbar aufgegriffen. Diese Industrie hat keinen Grund, an Generationen zu zweifeln, denn sie verfolgt mit dem Verkauf von Zeitschriften, Büchern und Workshops finanzielle Interessen.
Die heutige Nutzung des Generationsbegriffs ist im besten Fall Zeit- und Geldverschwendung und im schlechtesten Fall gefährlich.
Hannes Zacher
Selbst kleinste Unterschiede zwischen Altersgruppen werden zu gigantischen Generationenunterschieden aufgebauscht: „Generation Alpha tickt anders!“ Oftmals benötigt die Generationenindustrie die Generationenforschung nicht einmal: Auch vollkommen willkürliche Generationen wie „Generation Golf“, „Generation Greta“ oder „Generation Beziehungsunfähig“ finden kurzfristig guten Absatz, sind aber in der Regel nicht von Dauer (siehe Greta Thunberg). Ähnlich wie bei Horoskopen gibt es einen Markt für Generationen-Erfindungen, denn Menschen haben das evolutionär geprägte Bedürfnis, einander in Gruppen einzuteilen und Stereotype zu entwickeln, um schnell Entscheidungen treffen zu können. Die Nutzung erfundener Generationen kann Menschen zudem helfen, eine komplexe Realität (Fachkräftemangel, Zunahme psychischer Probleme) begreifbarer zu machen. Wenn ein junger Mensch geringe Leistungsmotivation zeigt, können die mit der „Generation Alpha“ verknüpften Vorurteile (Smartphones!) eine leichtere Erklärung bieten als die tiefergehende Suche nach den Ursachen in der Person und ihrem Umfeld.
Karl Mannheims Werk in allen Ehren, aber die heutige Nutzung des Generationsbegriffs ist im besten Fall Zeit- und Geldverschwendung und im schlechtesten Fall gefährlich. Wir sollten aufhören, Menschen Generationen zuzuordnen und stattdessen Generationen als psychologische Phänomene der sozialen Kategorisierung begreifen, die trotz einer fehlenden wissenschaftlichen
Grundlage eine gewisse Faszination ausüben. Welche Alternative gibt es zu Generationen? Die theoretisch fundierte und empirisch gut belegte Lebensspannenperspektive versteht Menschen als Individuen, die sich dynamisch mit der Zeit und von ihrer Umwelt beeinflusst verändern, gleichzeitig aber auch ihre Entwicklung und Umwelt aktiv gestalten. Laut dieser Perspektive gibt es
universelle Bedürfnisse – zum Beispiel nach Autonomie, Kompetenzerleben und Gemeinschaft –, zugleich sieht sie jeden Menschen als Unikat. Für Forschung, Wirtschaft und Öffentlichkeit ist sie ein sinnvollerer Ansatz als das statische und stereotype Generationendenken.

