Zelluläre Prävention

In einer alternden Gesellschaft ist es ratsam, auf Prävention zu setzen. In Berlin suchen große Forschungskonsortien nach den molekularen Mechanismen, die uns gesund erhalten. Der Ansatz einer positiven Biochemie könnte die Medizin revolutionieren und dazu beitragen, Krankheiten zu therapieren, lange bevor die ersten Symptome auftreten

Text: Christina Berndt

Mit einem Mal blickten Psychologen und Psychiater ganz anders auf die Seele des Menschen als zuvor. Es war August 1998, als der neue Präsident der American Psychological Association etwas damals Revolutionäres sagte: Zu sehr hätten die Vertreter und Vertreterinnen seines Fachs zuletzt den Blick auf die Abgründe der menschlichen Seele gerichtet, beklagte Martin Seligman. In Zukunft sollten sie sich stärker darauf konzentrieren, was Menschen stark macht statt schwach, was ihnen hilft, Krisen und Herausforderungen gesund zu überstehen, worin also ihre Resilienz begründet ist, ihre psychische Widerstandskraft. Er wollte die Psychologie von einer Wissenschaft der Krankheiten zu einer Wissenschaft der Gesundheit machen. Die Ära der Positiven Psychologie hatte begonnen.

Gut 25 Jahre später scheint sich ein ähnlich revolutionärer Wandel in der Medizin zu vollziehen. Zwar wurde in den vergangenen Jahren auch dort immer häufiger über Prävention gesprochen, manch große Krankenkasse benannte sich in Gesundheitskasse um. Rückenschulen und Kurse zur herzgesunden Ernährung fanden sogar ihren Weg in das Gesundheitsmanagement großer Unternehmen. Und auch im Privaten versuchen immer mehr Menschen, sich durch Bewegung und den Verzicht auf Chips, Tabak oder Alkohol möglichst lange jung oder wenigstens gesund zu erhalten. Doch die Bemühungen waren immer sehr allgemein gehalten – es ging um Ernährung, Bewegung, solche Dinge.

Der Körper erhält Gesundheit nicht nur, indem er Krankheiten abwehrt. Der Erhalt von Gesundheit ist auch selbst ein aktiver Prozess

Andreas Diefenbach

Im Vergleich dazu ereignet sich in Berlin gerade etwas, was Fachleute unumwunden einen Paradigmenwechsel nennen. Er könnte ähnlich umwälzend sein wie einst die Hinwendung der Psycholog:innen zur Positiven Psychologie: In mehreren großen Berliner Konsortien suchen Forschende nach jenen Faktoren und Mechanismen, die Menschen in ihrem Innersten gesund erhalten. „Das bisherige Verständnis von Gesundheit beruht fast ausschließlich auf der Erforschung von Krankheiten“, sagt Andreas Diefenbach, der Direktor des Instituts für Mikrobiologie und Infektionsimmunologie an der Charité. „Aber der Körper erhält Gesundheit nicht nur, indem er Krankheiten abwehrt. Der Erhalt von Gesundheit ist auch selbst ein aktiver Prozess.“ Wie genau das funktioniert, sei wichtig zu erforschen.

Dazu hat die Charité gemeinsam mit der Freien Universität (FU) Berlin das Berlin Centre for the Biology of Health (BC-BH) gegründet, für welches das ehemalige Institut für Hygiene und Mikrobiologie am Charité-Campus Benjamin Franklin für 54 Millionen Euro saniert und mit Großgeräten ausgestattet werden soll. Andreas Diefenbach leitet das Konsortium gemeinsam mit Britta Siegmund, der Direktorin der Klinik für Gastroenterologie, Infektiologie und Rheumatologie der Charité. Unter dem Motto „Krankheiten zuvorkommen, Mechanismen der Gesundheit verstehen, Menschen lange gesund erhalten“ wollen die dort Forschenden herausfinden, was im Körper genau passiert, damit der Mensch den Herausforderungen des täglichen Lebens begegnet und nicht krank wird.

Die Mechanismen der Gesunderhaltung

„Bisherige Ansätze der Prävention sind oft allgemein gefasst. Es geht darum, nicht zu rauchen, sich gesund zu ernähren, einen gesunden Lebensstil zu führen“, sagt Diefenbach, der auch eine Einstein-Professur der Einstein Stiftung Berlin innehat. „Dabei sind diese Empfehlungen oftmals empirischer Natur und wissenschaftlich nicht immer gesichert.“ So könne eine fettarme Ernährung Herz-Kreislauf-Erkrankungen nur in weniger als zwei Drittel der Fälle lindern. Am BC-BH will man es hingegen sehr viel genauer wissen. 

Die Forschenden dort wollen im Körper jene molekularen und zellulären Mechanismen im Detail erkunden, die ihn gesund erhalten – sie sprechen von den hallmarks of health, den Kennzeichen der Gesundheit. Dabei handelt es sich oft um biochemische Signalwege im Inneren von Zellen. So produzieren Zellen Signalmoleküle und Botenstoffe, wenn sie krank sind, um sich selbst zum Wohle des übrigen Organismus zu zerstören; Apoptose nennt man diesen Prozess, „programmierter Zelltod“. Andere molekulare Mechanismen im Inneren von Zellen tragen dazu bei, dass Fehler, die tagtäglich im Körper passieren, nicht zu Krankheiten führen, sondern repariert werden. Dazu gibt es eigene DNA-Reparatursysteme.

Die Berliner Forschenden wollen wissen, wie man diese positive Biochemie gezielt für die Gesunderhaltung, für gesundes Altern und das Wiedergesundwerden von Menschen nutzen kann. Etwa indem Reparaturprozesse gezielt angestoßen werden oder die Apoptose bei Krebszellen. Denn sie ist bei Krebszellen häufig gestört, deshalb zerstören sich diese Zellen nicht selbst, obwohl sie krank sind. Je besser man diese Mechanismen versteht, desto besser kann man sie fördern, damit Krankheiten erst gar nicht entstehen. Diefenbach spricht von „molekularer Prävention“.

Mit den neuen Technologien können wir jede einzelne Zelle in einem Gewebe analysieren und so verstehen, wann und warum Veränderungen auftreten, die auf Krankheit hinweisen

Nikolaus Rajewsky

Ähnlich wie für die Positive Psychologie gilt schließlich auch für die positive Biochemie: Wenn man versteht, was den Körper stark und widerständig macht, was ihm Resilienz verleiht, dann kann man diese Prozesse befördern und nutzen. „Wir denken so oft über all die Dinge nach, die uns krank machen“, sagt Diefenbach. „Wenig wird hingegen darüber nachgedacht, wie Gesundheit eigentlich funktioniert.“ Bislang besteht Gesundheitsschutz vor allem darin, dass Menschen Dinge abwenden, die sie krank machen. „Wir könnten aber auch Mechanismen, die uns gesund erhalten, gezielt verstärken. Deshalb suchen wir die hallmarks of health“, so Diefenbach, „und das ist ein bisschen wie die Erkundung eines neuen Universums.“ Am Ende werde dadurch individualisierte Prävention möglich, die sich gezielt an die Ressourcen der einzelnen Person richtet. „Dazu müssen wir diese Netzwerke allerdings erst einmal gezielt und in der Tiefe verstehen.“

In diese Tiefe wollen die Forschenden am neuen Einstein Center for Early Disease Interception, das sich gerade in Vorbereitung befindet, mit ganz neuen Methoden blicken. Dazu haben sich Spitzenwissenschaftler: innen zahlreicher Berliner Institutionen zusammengetan, unter anderem von der Charité, dem zur Charité gehörenden Berlin Institute of Health, dem Max Delbrück Center für Molekulare Medizin (MDC), der TU Berlin, der FU Berlin und der Humboldt-Universität zu Berlin, vom Museum für Naturkunde Berlin und dem Max-Planck-Institut für molekulare Genetik. Geleitet werden soll das neue Einstein Center von Angelika Eggert, die an der Charité die Klinik für Pädiatrie mit dem Schwerpunkt Onkologie leitet, und Nikolaus Rajewsky, dem Direktor des Instituts für Medizinische Systembiologie am MDC.

Die Forschenden am neuen Einstein Center wollen hochmoderne Technologien nutzen, die den Zellen quasi beim Arbeiten zusehen. Dazu gehört zum Beispiel die Einzelzellanalyse, bei der tatsächlich einzelne Zellen untersucht werden; die Analyse winziger Organoide, die Organe des Menschen und damit auch seine Krankheiten im Miniaturformat abbilden sollen; die Multiomik, die verschiedenste Datensets zur Arbeit von Zellen miteinander verbindet, darunter die Gesamtheit aller Gene, Proteine und in RNA umgeschriebenen Gene und die Spatial Biology, welche die räumliche Organisation und Interaktion von Zellen und Geweben erfasst. Mithilfe von Methoden der Künstlichen Intelligenz (KI) können die riesigen Datenmengen zudem verarbeitet und analysiert werden.

Wie die Erkundung eines neuen Universums

„Es ist, als hätten wir ein Super-Mikroskop gefunden“, sagt Nikolaus Rajewsky, der Direktor des Berliner Instituts für Medizinische Systembiologie des Max Delbrück Center (MDC-BIMSB). „Mit den neuen Technologien, die wir entwickeln, können wir jede einzelne Zelle in einem Gewebe analysieren und so verstehen, wann und warum Veränderungen auftreten, die auf Krankheit hinweisen.“ Die Wissenschaftler:innen können schon heute sämtliche Zellen in einem Gewebestückchen genau untersuchen – das sind Millionen auf einmal. „Dazu verwandeln wir die Zellen gewissermaßen in digitale Datenobjekte, die wir mithilfe von maschinellem Lernen und KI untersuchen können“, sagt Rajewsky. „So kann man systematisch verstehen: Was sind die molekularen Mechanismen, die uns gesund erhalten, oder, wenn das nicht klappt, die uns krank machen?“ Darauf lässt sich dann jene Medizin aufbauen, die das Umschlagen von gesund in krank mit molekularen Eingriffen verhindern kann. 

Bei der Gesunderhaltung des Körpers kommt dem Immunsystem bekanntermaßen eine besondere Rolle zu. Es wehrt Krankheitserreger ab, ist an der Wundheilung beteiligt und macht Krebszellen unschädlich, die tagtäglich im Organismus entstehen, wenn Zellen bei ihrer Teilung oder durch äußere Einflüsse Schaden nehmen. Neuere Forschungsarbeiten zeigen zudem, wie wichtig das Immunsystem für die Erhaltung und Regeneration von Geweben und damit von Organen ist. „Das Immunsystem ist nicht nur essenziell, wenn man sich ein Virus einfängt, es ist die ganze Zeit damit beschäftigt, unseren Körper gesund zu erhalten“, sagt Nikolaus Rajewsky. Deshalb hat Rajewsky gemeinsam mit Andreas Diefenbach und Britta Siegmund das Konsortium ImmunoPreCept gegründet, das besonders jene hallmarks of health finden will, die mit dem Immunsystem zu tun haben. Im Mai 2025 fällt die Entscheidung darüber, ob ImmunoPreCept künftig als neues Exzellenzcluster im Rahmen der Exzellenzstrategie gefördert wird.

Immunzellen belauschen, um die Krankheitsabwehr zu verstehen

Erste Hinweise auf die aktive Rolle des Immunsystems bei der Gesunderhaltung von Geweben hat Andreas Diefenbach vor etwa zehn Jahren gefunden. Damals entdeckte er gemeinsam mit seinem Team eine spezielle Gruppe von weißen Blutkörperchen, die ILC (Innate Lymphoid Cells). Anders als viele ihrer Lymphozyten-Kollegen produzieren die ILC ständig Botenstoffe – also nicht nur dann, wenn im Körper gerade ein Krankheitsprozess durch gesteigerte Aktivität des Immunsystems zu bekämpfen ist, sondern andauernd. Mit diesen Botenstoffen scheinen die ILC zum Beispiel die Funktion des Darms aufrechtzuerhalten. Wenn Mäuse ohne die Botenstoffe dieser besonderen Immunzellen auskommen müssen, ist der Darm nicht mehr richtig gegen Keime, Entzündungen und krank machende Speisebestandteile geschützt. So wuchs die Idee, dass man womöglich nur im Körper suchen muss, um jene Mechanismen zu finden, mit denen sich Krankheiten abfangen lassen, bevor sie sich auswachsen.

Eine von Nikolaus Rajewsky entwickelte, frei zugängliche Technologie namens Open-ST ermöglicht es nun sogar, Immunzellen bei ihrer Arbeit zu belauschen und daraus zu lernen. „Mit unseren Technologien können wir digitalisieren, wie sich Immunzellen unterhalten“, sagt er, „das ist sensationell.“ So lässt sich erfassen, was in einer Immunzelle genau passiert, welche Gene zum Beispiel aktiviert werden, wenn sie mit einem Krankheitskeim Kontakt aufnimmt, und was dann zur Entscheidung führt, dass sie einen Angriff gegen den Erreger beginnt.

Zunehmend werde verstanden, dass das Immunsystem bei sehr vielen Erkrankungen eine zentrale Rolle spiele, sagt Andreas Diefenbach – und zwar längst nicht nur bei Autoimmunerkrankungen wie Asthma, Multipler Sklerose oder Colitis ulcerosa, sondern auch bei Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems, des Stoffwechsels, wie etwa Adipositas, oder auch bei Demenzen und Krebs. „Da gibt es oft eine Dauerentzündung im Körper“, sagt Diefenbach. Sie schwele meist über Jahre, bevor das System eines Tages derart aus dem Gleichgewicht gerät, dass der Mensch Symptome verspürt – und sich krank fühlt. Erst dann kommt es in der Regel zur Diagnose.

Mit künstlicher Intelligenz erkennen, wann das Gleichgewicht in den Zellen kippt

„Wir wollen wissen: Wo genau findet diese Abweichung von der Homöostase, dem gesunden Gleichgewicht, statt?“, sagt die Kinderonkologin Angelika Eggert. „Wenn wir verstehen, was da schon früh in der Erkrankung schiefläuft, dann lernen wir, Krankheiten viel eher zu erkennen und können etwas dagegen zu tun.“ Mit ihrer extremen Genauigkeit können die KI-gestützten Hightech-Methoden erkennen, wann die Zellen das Gleichgewicht verlassen, wie genau sie das tun und über welche Mechanismen das geschieht. „Bisher weiß ja niemand, was der gesunde Zustand ist. Es gibt ein Kontinuum von schwer krank bis richtig gesund“, sagt Nikolaus Rajewsky. „Je besser wir aber die frühen molekularen Abweichungen entdecken, desto mehr werden wir verstehen, was der gesunde Zustand ist.“

So ließe sich eines Tages womöglich sehr früh erkennen, dass sich gerade ein Krebs entwickelt. Um herauszufinden, was die entsprechenden hallmarks sind, haben sich zehn führende Berliner Institutionen zum Einstein Center for Early Disease Interception zusammengeschlossen, das sich seit 2023 in der Vorbereitungsphase befindet. Unter anderem untersuchen sie die Veränderungen in den Zellen von Krebspatient:innen, bei denen der Krebs zunächst verschwunden ist. Viele von ihnen werden erfahrungsgemäß einen Rückfall erleiden. Aber wen wird es treffen? „Manche zunächst geheilten Krebspatienten erleiden Rückfälle und werden wieder krank, andere bleiben dauerhaft gesund“, sagt Eggert. „Wir wollen wissen: Was genau passiert da eigentlich?“

Außer bei Krebs lasse sich das auch bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Infektionen oder neurologischen Erkrankungen erforschen, sagt Eggert: Was sind die ersten Anzeichen für einen Rückfall? Wie kann man sie entdecken, worauf muss man achten? Wenn man dann wisse, wonach man suchen müsse, und erste molekulare Veränderungen identifiziert habe, könne man Früherkennungsprogramme entwickeln, in denen gezielt nach diesen Biomarkern gesucht werde. „Ziel ist es, möglichst auf der Ebene, wo sich die ersten erkrankten Zellen zeigen, eine Diagnose zu stellen“, sagt Eggert. „Dann ließe sich der Moment, in dem der Zustand von gesund in krank umschlägt, womöglich hinauszögern oder verhindern, indem Zellen in den gesunden Zustand zurückversetzt werden.“ Zum Beispiel, indem Moleküle zugefügt werden, die die unerwünschten biochemischen Prozesse zurückdrehen.

Ziel ist es, möglichst auf der Ebene, wo sich die ersten erkrankten Zellen zeigen, eine Diagnose zu stellen. Dann ließe sich der Moment, in dem der Zustand von gesund in krank umschlägt, womöglich hinauszögern oder verhindern

Angelika Eggert

Das sei gerade mit Blick auf eine alternde Gesellschaft wichtig, die es sich kaum leisten könne, Krankheiten erst zu behandeln, wenn sie schon weit fortgeschritten seien, betonte die Gastroenterologin Britta Siegmund in einem Interview: „Momentan warten wir, bis die Leute krank sind, und dann therapieren wir sie. Die demografische Entwicklung zeigt uns aber, dass wir in zehn Jahren nicht mehr genug Ärzte, Pflegepersonal und Kapazitäten haben werden, um die Bevölkerung medizinisch so zu versorgen wie heute.“ Ganz abgesehen vom vielen Leid, das sich mit einem frühen Eingreifen verhindern ließe. Das Leid beginnt nun einmal erst mit den Symptomen. Solange der Mensch nichts von einer in ihm schwelenden Krankheit weiß, leidet er auch nicht.

Dass diese Entwicklungen zudem das Leben einzelner Menschen verlängern können, liegt auf der Hand. Denn je früher etwa ein Krebs erkannt wird, desto größer sind nun einmal die Heilungschancen. Nikolaus Rajewsky kann sich aber durchaus vorstellen, dass die in Berlin gewonnenen Erkenntnisse eines
Tages auch dazu führen werden, dass sich die Lebenserwartung insgesamt verlängern wird. Der Mensch stirbt schließlich nicht nur, weil er krank wird. Sondern auch, weil sein Körper es nicht mehr schafft, sich gesund zu erhalten. Wer versteht, die Resilienz des Körpers zu stärken, der kann vermutlich Lebensjahre schenken. Und das Beste daran: Es werden gesunde Jahre sein.