Zusammenhalt muss nicht bedeuten, dass sich alle unglaublich mögen

Ein Beitrag aus ALBERT Nr. 10 "Sozialdemografie"

In Metropolen wie Berlin leben Menschen mit unterschiedlichen Lebensstilen eng aufeinander. Kann in solch dichten Stadträumen trotz aller Diversität ein Gemeinschaftsgefühl entstehen? ALBERT sprach mit der Stadt- und Regionalsoziologin Talja Blokland über Konflikte und Vertrauensbildung in urbanen Gemeinschaften – und Strategien für ein gelungenes Miteinander

Interview: Lars Klaaßen

Frau Blokland, wie divers sind Städte wirklich – etwa im Vergleich zu Dörfern?

Über Jahrhunderte waren die Lebensstile in Städten viel diverser als auf dem Land. Das Bild ist seit einigen Jahrzehnten nicht mehr so eindeutig: Auto und Bahn ermöglichen uns, im Dorf zu wohnen und ganz woanders zu arbeiten oder soziale Kontakte zu pflegen. Mobilität lässt die Grenzen zwischen Stadt und Land verschwimmen. Das zeigt sich zum Beispiel an anonymen Vororten, die weder urban noch ländlich sind. Die Digitalisierung hat das nochmals deutlich erweitert. 


Wie lässt sich Gemeinschaft in der modernen Massengesellschaft definieren, wenn die Grenzen immer mehr verschwimmen?

Die Moderne hat unser Verhältnis von Zeit und Raum stark verändert. Die Aussage „Du bist nicht von hier und gehörst deshalb nicht zu uns“ spiegelt die Realität immer seltener wider. Menschen, die ihr Leben auf dem Dorf verbringen, erleben vielleicht, wie sich die Gemeinschaft vor Ort durch Zuzug verändert. Andererseits aber auch, dass ihnen nahestehende Menschen weiter entfernt von ihnen leben als früher – zum Beispiel ihre Kinder, die in die Stadt gezogen sind. Gemeinschaft war schon immer eine Praxis: Wir verbinden uns mit anderen Menschen, streiten uns mit ihnen, lieben sie, erzählen uns Geschichten und teilen Erinnerungen. Gemeinschaft manifestiert sich immer im Kleinklein des sozialen Alltags. Der Gedanke, dass Gemeinschaft nur dann besteht, wenn sie irgendwo verortet ist, ist zwar politisch für manche nützlich, aber theoretisch und den Fakten nach nicht haltbar.


Macht uns die moderne Welt heimatlos?

Nein. Ursprünglich waren Menschen immer unterwegs. Sesshaft wurden sie erst mit der Landwirtschaft. Verstärkt wurde dies durch herrschaftliche Interessen: Wer an einem Ort lebt, lässt sich einfacher besteuern. In unserem Alltag sind die wenigsten von uns heute nur an einen Ort gebunden. Heimat ist insofern etwas Imaginäres, da sie die Vorstellung beinhaltet, dass wir in unserem Wesen naturgemäß ortsgebunden und sesshaft sind. Das stimmt so nicht. Anders als im politischen Diskurs manchmal ausgedrückt wird, ist es nicht das Volk, das eine Heimat hat, sondern die Machthaber, die ein Interesse daran haben, das Volk sesshaft zu machen und zu halten.

Kann die Vielfalt einer Gesellschaft denn ihren Zusammenhalt schwächen?

Vielfalt und Zusammenhalt sind kein Widerspruch. Ein sozial homogenes Dorf zum Beispiel, in dem alle an Gott glauben und in die Kirche gehen, kann für einen einzelnen Menschen, der Atheist ist, ein beklemmendes Umfeld sein. Ziehen diese Menschen in die Stadt, dann nimmt die Chance zu, dass dort Gleichgesinnte wohnen. Egal bei welchem Aspekt des Lebens: Geringe Vielfalt bedeutet immer auch Exklusion. Umgekehrt stellt sich bei zunehmender Vielfalt die Frage: Was meinen wir dann noch mit Zusammenhalt? Zusammenhalt muss nicht bedeuten, dass alle sich unglaublich mögen. Es kommt auf die Balance von Nähe und Distanz an. Wir müssen nicht immer unser ganzes Selbst in persönliche Beziehungen oder Gruppen hineintragen, sondern können einen Teil davon auch zu Hause lassen. Aspekte wie Religion, Politik, Essgewohnheiten oder Hobbys lassen sich auseinanderhalten. Gerade in Städten können wir auf
engem Raum gut nebeneinander leben – also ein Stück weit anonym bleiben – und uns trotzdem als Teil vieler Gemeinschaften verstehen.

Die Kunst besteht dann darin, respektvoll miteinander umzugehen und Lösungen zu finden – oder das eine oder andere einfach mal auszuhalten.

Menschen tragen im engen Stadtraum aber oft heftige Konflikte aus …

Auch Konflikte auszutragen, steht nicht unbedingt im Widerspruch zu Zusammenhalt. Das Gegenteil von Zusammenhalt ist vielmehr, wenn jeder Mensch für sich bleibt. Insofern sind Konflikte ein Teil von Gemeinschaft, da hinter ihnen immer noch ein gemeinsames Interesse steht. In der Stadt stellt sich aber auch die Frage nach Nutzungskonflikten: Wer verfügt über welche Ressourcen, um seine Bedürfnisse befriedigen zu können, ohne dass es dabei zu Nutzungskonflikten mit anderen kommt? Eine mehrköpfige Familie hat in einer kleinen Etagenwohnung mit hellhörigen Wänden sicher mehr Konfliktpotenzial als in einer weitläufigen, luxuriösen Stadtvilla.


Menschen tragen im engen Stadtraum aber oft heftige Konflikte aus …

Auch Konflikte auszutragen, steht nicht unbedingt im Widerspruch zu Zusammenhalt. Das Gegenteil von Zusammenhalt ist vielmehr, wenn jeder Mensch für sich bleibt. Insofern sind Konflikte ein Teil von Gemeinschaft, da hinter ihnen immer noch ein gemeinsames Interesse steht. In der Stadt stellt sich aber auch die Frage nach Nutzungskonflikten: Wer verfügt über welche Ressourcen, um seine Bedürfnisse befriedigen zu können, ohne dass es dabei zu Nutzungskonflikten mit anderen kommt? Eine mehrköpfige Familie hat in einer kleinen Etagenwohnung mit hellhörigen Wänden sicher mehr Konfliktpotenzial als in einer weitläufigen, luxuriösen Stadtvilla.

Wer mehr von der Ressource Raum zur Verfügung hat, lebt konfliktfreier?

Abschottung muss man sich leisten können. Dafür braucht man andere Menschen, die das ermöglichen – die putzen, das Essen liefern, den Eingang bewachen. Auch hier zeigt sich Zusammenhalt, aber nicht in Form von Solidarität, sondern von gegenseitigen Abhängigkeiten. Die reichen Bewohner einer Gated Community sind von vielen Menschen abhängig, die solche Arbeiten erledigen. Wer finanziell schlechter gestellt ist,  braucht solche Jobs. Grundsätzlich entstehen Konflikte, wenn unterschiedliche Lebensstile auf engem Raum gegensätzliche Interessen berühren: Den einen ist es zu laut, die anderen stören sich am Geruch des Grillfleischs. Die Kunst besteht dann darin, respektvoll miteinander umzugehen und Lösungen zu finden – oder das eine oder andere einfach mal auszuhalten. 


Wie kann trotz gegensätzlicher Lebensstile und Interessen ein Gemeinschaftsgefühl entstehen?

Durch die Erfahrung vertrauter Öffentlichkeit. Wer in seinem Heimatdorf lebt, begegnet ständig schon lange bekannten Menschen. Das schafft Vertrauen. In der viel diverseren Stadt mag das zunächst anders erscheinen. Aber hier in São Paulo gehe ich auch oft dieselben Wege, etwa zum Park. Dort auf der Straße sehe ich jedes Mal einen Mann, der Popcorn und Chips verkauft. Den kenne ich nicht wirklich, weiß ansonsten nichts von ihm. Aber mit der Zeit ist er Teil der mir vertrauten Umgebung geworden. Und der Mann hat mich sicher auch schon wahrgenommen. Mit der Verkäuferin beim Bäcker oder den Leuten, die jeden Tag an derselben Bushaltestelle mit uns warten, ist das ebenso. All diese sehr lockeren Begegnungen schaffen eine vertraute Öffentlichkeit, die mein Gefühl der Sicherheit stärkt. Sollte mal etwas passieren, kann ich darauf bauen, dass diese Menschen mir helfen – so wie ich es umgekehrt auch täte. Wir sehen in unserer Forschung immer wieder bestätigt, dass vertraute Öffentlichkeit mit Erfahrungen von Zugehörigkeit und Sicherheit zusammenhängt, mit unseren Erwartungen an andere Menschen und unserem Vertrauen in unsere Umwelt.

Warum erwecken dann gerade große Städte oft das gegenteilige Gefühl?

In der Stadt begegnet man vielen Menschen, die man noch nie gesehen hat und auch nie wieder sehen wird. Im Zentrum von São Paulo komme ich regelmäßig an einer Ecke mit sehr vielen Drogenabhängigen vorbei, es sind immer wieder neue Gesichter. Da weiß ich nicht, wie die drauf sind, und das verunsichert. Wenn ich in einem Berliner U-Bahnhof stehe, sind vereinzelte Menschen, die keinen gesunden mentalen Eindruck machen, nicht das Problem, solange noch andere Leute auf dem Bahnsteig stehen, die berechenbar erscheinen. 


Wie wirkt sich Zuwanderung, die Diversität potenziell verstärkt, auf diese vertraute Öffentlichkeit aus?

Unsere Alltagsumgebung hat keinen fest vorgegebenen Rahmen. Wie wir mit anderen zusammenleben und wie wir miteinander umgehen, ist immer Verhandlungssache. Rege Auseinandersetzungen schaffen sozialen Raum. Dazu gehört die Bereitschaft, sich auf andere einzulassen. Das ist selbst innerhalb einer Dorfgemeinschaft so. Je vielfältiger eine Umgebung ist, desto mehr kann man von ihr lernen und sich weiterentwickeln. Was wir nicht brauchen, ist Segregation: etwa sozial homogene Privatschulen oder Gated Communitys, deren Bewohner unter ihresgleichen bleiben. 


Ist es nicht zu viel gewollt, in hyperdiversen Städten auf Gemeinschaft zu pochen?

Es kommt darauf an, was damit gemeint ist. Verbreitet sind ja zum Beispiel Nachbarschaftsfeste, bei denen die Bewohner sich kennenlernen sollen, oft mit dem Gedanken, verschiedene Kulturen zusammenzubringen – man soll sich anfreunden. Die Erwartungen sind dabei oft zu hochgesteckt. Nachbarschaft ist etwas anderes als Familie oder Freundschaften, die man sich aussucht. Nachbarn wohnen halt nebenan – mehr muss da nicht sein. Wenn Menschen auf engem Raum nebeneinander leben, müssen sie nicht ihre Gewohnheiten teilen. Es macht aber einen Unterschied, wenn ich weiß, wer nebenan wohnt, dass man sich vom Sehen kennt und die Namen. Deshalb ist es wichtig, Strukturen zu schaffen, die ein Minimum an vertrauter Öffentlichkeit sicherstellen. Die Leute sollen gut nebeneinander koexistieren können.

Welche Strukturen können das sein?

Strukturen, die Menschen über Interessen miteinander verbinden, sind effektiver als sporadische Nachbarschaftsfeste. Denen fehlen die Basis und die Kontinuität. Wenn Leute zusammenkommen, weil sie gerne Fußball spielen, ist die Frage nach dem Verbindenden schon beantwortet. Wer sich einmal in der Woche zum Kicken trifft, spricht ganz nebenher auch über andere Themen. Man lernt sich mit der Zeit besser kennen, ohne dass das als großes Ziel proklamiert wurde. Es besteht kein Zwang, alles Mögliche miteinander zu teilen, in allem ähnlich zu sein. Man kann bestimmte Aspekte außen vorlassen, verbindend ist der Sport. Alltagsbedürfnisse können ebenso verbinden wie Sport und Hobbys, etwa in einem Gemeinschaftsgarten.


Flüchtige Kontakte sind eine Basis von Gemeinschaft?

Ja, diese Form der sozialen Kontakte wird unterschätzt. Während der Corona-Pandemie habe ich mit anderen in dem Projekt „Städtisches Leben während Corona“ viele Menschen befragt, welche Orte sie im Zuge der Einschränkungen am meisten vermissen. Die Befragten nannten Orte, wo sie Leute treffen, denen sie nur dort begegnen – keine Freunde. Außerdem vermissten die Befragten Orte, an denen sie mit Fremden ins Gespräch kommen. Solche Beziehungen, auch wenn sie locker sind und sich auf einen Aspekt beschränken, sind gut gegen Einsamkeit. Menschen wie der erwähnte Popcorn-Verkäufer – fremde, aber doch vertraute Gesichter – vermitteln uns ein Gefühl der Zugehörigkeit und Sicherheit im öffentlichen Raum.


Welche Rolle spielen positive Orte in der Stadt, um Gemeinschaft zu schaffen?

Stadtgemeinschaft ist die Mischung aller. Damit das gelingt, braucht es die richtige Balance von Nähe und Distanz. Zu viel Distanz schaffen Stadträume, die zu sehr auf das Auto ausgelegt sind und Funktionen trennen. Das Stadtmodell der 1950er- bis 1980er-Jahre, wie wir es in den suburbanen Städten bis heute fast in Reinform erleben, schafft kaum Begegnungsräume. Die klassische europäische Stadt funktioniert da manchmal besser – Abschottung war darin jahrhundertelang so gut wie nicht möglich. Eine gute Mischung entsteht nur, wenn einzelne Gruppen einen Ort nicht zu sehr dominieren. Eine gut besuchte Einkaufsstraße bietet diese Mischung. Hier wollen Leute verschiedene Dinge tun: Shoppen, Freunde treffen, sich von A nach B bewegen. Wir brauchen Räume, die nicht nur Aufenthalts-, sondern auch Durchgangsbereiche sind. Ein gut funktionierender Stadtpark ist beides. Man weiß schon lange, wie wichtig flexible Straßenmöbel, Plätze zum Rumstehen und Plaudern oder Kioske im öffentlichen Raum sind, um fluide Begegnungen zu schaffen, woraus sich vertraute Öffentlichkeit ergeben kann.

Stadtgemeinschaft ist die Mischung aller. Damit das gelingt, braucht es die richtige Balance von Nähe und Distanz.

Gibt es Formen konstruktiver Stadtentwicklung, die sich als wirkungsvoll herausgestellt haben?

Das soziale Quartiersmanagement hat sich in den vergangenen Jahrzehnten bewährt. Dadurch werden zum Beispiel Spielmöglichkeiten und Sportplätze geschaffen, an denen Anwohnende zusammenkommen können, sowie Tätigkeiten gefördert, die gesellschaftlich erwünscht sind. Werden neue Orte geschaffen, ist jedoch ein häufiger Fehler, sie einzuzäunen. Räumliche Abtrennung führt zum Gegenteil von Durchmischung. Die Idee ist ja, dass Diversität ermöglicht wird, ohne dass eine Gruppe sich den Ort voll aneignet. 


Wie viel Gemeinschaft brauchen wir denn überhaupt in der Stadt?

Die Frage ist eher, wie viel Wirgefühl eine Gemeinschaft braucht. Das erste „Wir“ in einer Stadt wie Berlin sollte sein: „Wir sind alle Berliner.“ Stattdessen werden Menschen mit Migrationshintergrund zu Ausländern abgestempelt, selbst wenn sie in der Stadt, in der sie leben, geboren sind. Ein „Wir“, das andere ausgrenzt, schadet einer Gesellschaft. Man muss sich nicht anfreunden und toll finden, wie andere leben. Aber das Mindeste ist, für alle Menschen um uns herum Empathie zu zeigen, respektvoll und fair miteinander umzugehen – auch und genau dann, wenn andere das nicht zu mir sind. In jeder Gemeinschaft sollte klar sein: Das „Wir“ sind wir alle!

Expertin

Talja Blokland ist Professorin für Stadtsoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin und Senior Fellow am Maria Sibylla Merian Centre Conviviality-Inequality in Latin America in Saõ Paulo. Sie forscht zu Urbanität, Zusammenhalt, Exklusion und Gemeinschaft. 2024 ist ihr Buch „Gemeinschaft als urbane Praxis“ im transcipt Verlag erschienen.