Ein Kind haben zu wollen, zählt zu den existenziellsten Wünschen des Menschen. Hierzulande bekommen die meisten Paare zwei Kinder, eines – oder keins. Woran liegt es, dass jeder fünfte Erwachsene in Deutschland kinderlos bleibt?
Text: Susanne Donner

Als Kind hatte sich Beate Faber (Name geändert) immer gewünscht, später einmal selbst Kinder zu haben. Lange Zeit hegte die Softwareentwicklerin aus Brandenburg diesen Wunsch. Doch mit Anfang 30 erkrankt sie an einer posttraumatischen Belastungsstörung und muss für längere Zeit stationär behandelt werden. Als sie aus der Klinik entlassen wird, raten ihr die Ärzt:innen zu Psychopharmaka, auch ihr Arbeitspensum muss sie auf 20 Stunden die Woche reduzieren. Sie lebt in einer stabilen Partnerschaft mit einem Mann, beide haben ihre Ausbildungen längst abgeschlossen und sich beruflich etabliert. Eigentlich könnten die Voraussetzungen für ein Kind nicht besser sein. Doch mit der Krankheit und den Medikamenten, die während einer Schwangerschaft nicht eingenommen werden dürfen, zweifelt Faber erstmals an ihrem Kinderwunsch – und wird ihn schließlich ganz ablegen.
Der Fall beschreibt einen von vielen Gründen, die dazu führen, dass Paare keine Kinder bekommen. Jeder fünfte Erwachsene bleibt in Deutschland mittlerweile gewollt oder ungewollt kinderlos – die Quote ist eine der höchsten in Europa, wo sie durchschnittlich bei etwa 15 Prozent liegt. Die Bandbreite der Gründe reicht von Krankheiten und Fruchtbarkeitsproblemen bis hin zur bewussten Entscheidung gegen Kinder.
Selbstverwirklichung und Angst vor Doppelbelastung durch Care-Arbeit
Noch vor hundert Jahren war absichtliche Kinderlosigkeit äußerst selten. Sie ist ein historisch junges Phänomen, das bisher wenig erforscht ist. Um herauszufinden, welche Einstellungen dahinterstehen, befragten die Sozialwissenschaftlerinnen Annkatrin Heuschkel und Claudia Rahnfeld von der Dualen Hochschule in Gera-Eisenach 1.000 Frauen, die bewusst kinderlos sind. Das Ergebnis der Befragung: Viele entscheiden sich für andere Wege der Selbstverwirklichung, etwa im Beruf. Sie sorgen sich vor der emotionalen Belastung ihrer Partnerschaft durch ein Kind. Dieser Aussage dürften auch Frauen zugestimmt haben, die sich wie Beate Faber aufgrund von Gesundheitsproblemen der Mutterschaft nicht gewachsen fühlen. Und die Befragten legen ausgesprochen viel Wert auf eine gleichberechtigte Aufgabenteilung in Haushalt und Kindererziehung, wie die beiden Forscherinnen 2023 in ihrem Abschlussbericht darlegten. Frauen würden sich auch deshalb mitunter bewusst gegen ein Kind oder zumindest gegen ein zweites entscheiden, weil sie es seien, die die Doppelbelastung von Beruf und Care-Arbeit überwiegend schultern müssten – und dies ablehnen.
Dieses Motiv – ein Votum gegen die Geschlechterungleichheit in Familien – wird als Ursache für die rückläufige Geburtenrate in skandinavischen Ländern diskutiert, erläutert Anne-Kristin Kuhnt, Soziologin am Institut für Soziologie und Demographie der Universität Rostock. In Skandinavien ist die staatliche Kinderbetreuung zwar besser ausgebaut als hierzulande und auch die sozioökonomischen Verhältnisse sind gut. Aber wie in Deutschland nimmt auch dort die Geschlechterungerechtigkeit ab der ersten Geburt zu. „Sie“ reduziert ihre Stunden und kümmert sich vorwiegend um die Kinder. „Er“ arbeitet fast ausnahmslos Vollzeit und sogar mehr als kinderlose Männer. In Deutschland kommen Väter zwischen 25 und 39 Jahren auf durchschnittlich etwa zwei Stunden mehr Arbeitszeit pro Woche als ihre Kollegen ohne Nachwuchs. Im Alter von 40 bis 59 liegen die Väter sogar fünf Stunden darüber, wie das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung in einer Mikrozensusbefragung erhob.
Die Entscheidung gegen ein Kind wird auch deshalb denkbar, weil anders als noch vor hundert Jahren Kinder nicht mehr Voraussetzung dafür sind, die eigene Existenz zu sichern. Auch gibt es inzwischen mehr Möglichkeiten der Sinnerfüllung im Leben. So entschied sich eine Beamtin im Ruhrgebiet gezielt gegen Kinder, da ihr Mann als leitender Oberarzt in einem Krankenhaus im Schichtdienst arbeitet und auch am Wochenende Rufbereitschaft hat. „Erziehung, Haushalt und Familienorganisation wären an mir hängen geblieben. Das wollte ich nicht“, sagt die Frau. Beide betrachten ihr Leben dennoch als erfüllt. Sie unternehmen regelmäßig Urlaubsreisen innerhalb Europas. Derzeit bauen sie sich ein Haus mit Garten.
Sichere Zukunft und stabile Verhältnisse als Voraussetzung

„Auch die weltweiten Krisen vom Klimawandel bis zum Krieg in der Ukraine rütteln an der Motivation der Paare, Kinder zu bekommen“, berichtet die Psychologin Magdalena Zacher von der Kinderwunschberatungsstelle der Universitätsklinik Heidelberg. „Denn Kinderkriegen ist ein egoistisch motivierter Wunsch.“ Paare sehen darin meist einen tieferen Lebenssinn für sich persönlich oder wollen eigene Werte weitergeben. Das ist aber mit der Hoffnung auf eine gute Zukunft für das Kind verknüpft. Wenn diese grundsätzlich infrage steht, wankt der Kinderwunsch. Die gesellschaftspolitische Strömung des Antinatalismus folgt gar dem Leitbild, dass ein freiwilliger Verzicht auf Nachwuchs das Beste für das Fortbestehen des Planeten und eine schlüssige Antwort auf die Überbevölkerung ist.
Zu Zacher in die Beratung kommen allerdings jene Paare, bei denen es mit dem Kinderkriegen nicht auf natürliche Weise geklappt hat und die deshalb auf die Reproduktionsmedizin setzen. „Sie kommen nach Jahren erfolgloser Fruchtbarkeitsbehandlungen oder nach Fehlgeburten, die im höheren Alter häufiger werden. Sie, besonders die Frauen, sind oft sehr belastet von den Behandlungen. Die Paare wollen, dass ihr Leben wieder einen anderen Fokus bekommt. Sie wollen sich von ihrem Kinderwunsch verabschieden und die Fruchtbarkeitbehandlungen beenden“, erklärt Zacher.
Eines der ersten Themen in den Beratungen ist der soziale Druck des Umfelds. „Wollt ihr keine Kinder?“, „Wann ist es denn bei euch so weit?“ – wenig feinfühlige Fragen dieser Art verletzen und belasten mitunter jene, die unfreiwillig kinderlos sind. „Bis heute ist der soziale Druck vor allem auf Frauen nach wie vor hoch, Kinder zur Welt zu bringen“, urteilt Kuhnt. Zumal: Das gesamtgesellschaftliche Ideal verharrt seit Jahrzehnten bei der Zwei-Kind-Norm. Auch in der Geburtenrate hierzulande spiegelt sich diese Konstanz letztlich wider: Sie ist gegenüber früheren Zeiten zwar gesunken, hält sich seit den Siebzigern aber ziemlich stabil bei 1,5 Kindern.
Der individuelle Kinderwunsch schwankt freilich stark im Lebensverlauf, analysiert Kuhnt. „Die Realisierung des Kinderwunsches ist sehr voraussetzungsvoll, da die Paare eine gewisse Sicherheit erwarten“, sagt die Soziologin. „Es braucht eine stabile Partnerschaft, in der beide Kinder wollen. Und zunächst möchten viele auch ihre Ausbildung abgeschlossen und eine stabile Lebensgrundlage erwirtschaftet haben.“ Da Ausbildungen heute oft lange dauern und feste Arbeitsplätze auf sich warten lassen, wird der Kinderwunsch hintangestellt. Zugleich halten Partnerschaften im Schnitt nur gut vier Jahre – wobei sie stabiler werden, wenn sie länger währen. Dennoch muss ein Drittel derer, die 2022 heirateten, in den nächsten 25 Jahren mit Scheidung rechnen, wie der Sozialbericht 2024 ausführt.
Die Frage der Fruchtbarkeit: Das biologische Zeitfenster verengt sich
Die Fülle der Voraussetzungen führt dazu, dass „viele die Familienplanung immer weiter nach hinten verschieben“, sagt Zacher. Die Folge: Männer wie Frauen sind bei der Geburt des ersten Kindes immer älter. Das Durchschnittsalter der Frauen liegt laut Statistischem Bundesamt mittlerweile bei knapp über 30 Jahren. „Dadurch entstehen Probleme bei der Fertilität“, erklärt Zacher.
Denn ab etwa 30 Jahren schwindet die Fruchtbarkeit bei Frauen; genetische Defekte in den Keimzellen beginnen sich zu häufen. Nicht wesentlich anders ist das im Übrigen beim Mann: Obwohl er seine Samenzellen nicht von Geburt an mit sich im Körper trägt, sondern diese stets aufs Neue im Hoden produziert werden, schwindet auch deren Qualität mit zunehmendem Alter. Recht schonungslos beschreiben das die Autoren einer chilenischen Untersuchung des Ejakulats von knapp 2700 Männern. Männer über 50 hatten oft auffällige Proben, was Menge, Spermienzahl und die DNA in den Keimzellen anbelangt. Ab 41 Jahren sank die Spermienkonzentration. Aber schon ab 31 ließ sich eine abnehmende Fitness der Samenzellen nachweisen: Sie waren nicht mehr so gut vorwärtsbeweglich wie die von Männern in jüngeren Jahren.
Die Folge: Das Zeitfenster, in dem Paare Kinder bekommen möchten und können, hat sich in den letzten Jahren verengt. Das sei letztlich sogar der Hauptgrund für die seit 2010 rückläufige Geburtenrate in Finnland, urteilt das Rostocker Max-Planck-Institut für demografische Forschung in einer umfassenden Analyse. Reichtum, einst gar als Voraussetzung für Kinder angesehen, geht indes sogar mit einer geringeren Geburtenquote einher. Dahinter könnten andere Zusammenhänge stehen: Wer wohlhabend ist, verdient gut und überlegt es sich vielleicht zweimal, die Bedürfnisbefriedigung im Beruf um jene durch ein Kind zu ergänzen oder sogar einzutauschen.
Das Aufschieben hat auch mit Unwissen über die eigene Fruchtbarkeit zu tun, beklagt Zacher. Den Menschen sei meist nicht klar, dass diese schon nach dem ersten Lebensdrittel zurückgeht. „Die Beratung in den Schulen ist nur auf die Verhütung unerwünschter Schwangerschaften ausgerichtet. Darüber, wie sich die Fruchtbarkeit an sich verändert, erfahren die jungen Menschen nichts.“
Die Folge: Fruchtbarkeitsmythen sind omnipräsent. Ihre Klienten und Klientinnen beklagen beispielsweise, das Umfeld rate oft, mal einen Urlaub zu machen oder sich zu entspannen, damit es mit dem Kinderwunsch klappt. „Doch Alltagsstress hat nachweislich gar keinen Einfluss auf die Fruchtbarkeit“, stellt Zacher klar. Es braucht schon mehr, um die biologischen Regelkreise durcheinanderzubringen: In Hungersnöten passiert das, auch bei einer Magersucht oder unter Hochleistungssport. Drogen und starke Medikamente etwa gegen Krebs greifen das Fortpflanzungsvermögen ebenfalls an.
Die Qualität der Spermien nimmt weltweit ab
Auch bestimmte Schadstoffe können die Fruchtbarkeit reduzieren. „Endokrine Disruptoren“ heißen jene synthetischen Substanzen, die den Hormonhaushalt stören, die Keimzellen attackieren oder direkt die Empfängnis beeinträchtigen. Bisphenol A in Kunststoffen und Kunststoffbeschichtungen ist eine solche allgegenwärtige Chemikalie. Strittig ist, ob beispielsweise auch Paracetamol während der Schwangerschaft die spätere Samenqualität der Söhne vermindert. Einer jüngsten Datenanalyse an über 1000 jungen Männern in Dänemark zufolge schadete eine einmalige Einnahme von Paracetamol während der Schwangerschaft der Mutter zwar nicht. Aber längere Einnahmen standen mit einer schlechteren Samenqualität bei den Männern später im Leben in Beziehung.
Vor allem die hormonähnlichen Substanzen sind in den Fokus der Europäischen Kommission und verschiedener EU-Behörden geraten. Denn die Spermienqualität von Männern sinkt weltweit, wie Daten aus vielen Erdteilen inzwischen gut belegen. Dem malaysischen Spermienspezialisten Pallav Sengupta vom Lincoln University College zufolge ist die Spermienzahl bei Männern in Europa in den letzten 50 Jahren um 32,5 Prozent eingebrochen. In Afrika sei sie sogar um 76,2 Prozent eingeknickt. Auch in Asien und Nordamerika kann er den Rückgang dokumentieren. Im Schnitt hat sich die Zahl der Keimzellen im Ejakulat halbiert. Der Mediziner Hagai Levine von der Hebräischen Universität Jerusalem bestätigt in einer Erhebung den weltweiten Rückgang der Zahl der Spermien um 52 Prozent in den letzten 50 Jahren.
Was die Fruchtbarkeit schwinden lässt, ist nicht abschließend klar. Es bleibt Raum für Spekulationen. So beeinflussen etwa auch genetische Faktoren die Fertilität, wie die Genetikerin Melinda Mills, Direktorin des Leverhulme Centre for Demographic Science an der Universität Cambridge und Principal Investigator am Einstein Center Population Diversity, aus den Daten von knapp 800.000 Personen herausgearbeitet hat. Sie geht davon aus, dass diese Merkmale noch immer der Evolution unterworfen sind. Doch das Zusammenspiel mit Umweltfaktoren sei komplex. Nur ein Beispiel: Das Gen ARHGAP27 erhöht laut Mills’ Forschung bei Frauen beispielsweise die Wahrscheinlichkeit, mehr Kinder zu bekommen, verkürzt aber gleichzeitig die fruchtbare Phase im Leben.

Reproduktionsmedizin als belastender Ausweg für manche
Die schwindenden Reproduktionschancen für Paare hierzulande führen zu einem Boom in den Reproduktionskliniken. 141 solcher Kliniken sind im deutschen IVF-Register erfasst. Die Abkürzung IVF bezeichnet das wichtigste Verfahren der künstlichen Befruchtung: die In-vitro-Fertilisation, bei der Ei- und Samenzelle außerhalb des Körpers miteinander verschmolzen werden. Rund drei Prozent der Kinder in Deutschland kommen mittlerweile aus der Retorte. „Das ist in jedem Klassenzimmer im Schnitt ein Kind“, betont Kuhnt.
Die gesellschaftlichen Folgen dieser Entkopplung von Sexualität und Fortpflanzung sind noch nicht absehbar, betont die Soziologin. Offensichtlich ist nur,
dass die käufliche Reproduktionsoption vorwiegend betuchten Schichten vorbehalten ist. Denn jede einzelne Behandlung kostet vierstellig und ist oft nicht beim ersten Mal erfolgreich. Die Krankenkassen zahlen nur begrenzt und unter bestimmten Voraussetzungen. „Wir haben viele Paare, die sich die Fortführung der reproduktionsmedizinischen Behandlungen nicht mehr leisten können und wollen, weil sie emotional und finanziell so belastet sind“, erzählt Zacher aus ihrem Beratungsalltag. „Während der Zeit der Eingriffe, die Jahre dauern kann, unternehmen die Paare auch keine Reisen mehr. Berufliche Pläne ruhen, weil die Kinderwunschbehandlung so einnehmend ist.“
Die einen wollen, aber können nicht. Die anderen könnten, aber wollen nicht. Fest steht aber auch: Für jährlich etwa 700.000 Paare in Deutschland gibt es keinerlei Gründe, die gegen das Kinderkriegen sprechen. Mehr als 11.000 von ihnen haben sogar Zwillinge bekommen.