Berliner Mischung

Ein Beitrag aus ALBERT Nr. 9 "Wasser"

Lange war Berlin eine der dreckigsten Großstädte der Welt. Dann entstand eine Mischwasserkanalisation, die große Erleichterungen brachte – und zum Vorbild für viele andere Metropolen wurde. Probleme mit dem Wasser hat die Stadt jedoch bis heute

Text: Till Hein

Der „holde Duft“ der Berliner Luft wird im frühen 20. Jahrhundert durch ein Operettenlied Berühmtheit erlangen. Knapp 250 Jahre zuvor jedoch löst der Odor der preußischen Hauptstadt nichts als Ekel aus. Man rieche Berlin bereits „im Umkreis von neun Kilometern“, notiert der schwedische Naturforscher Carl von Linné 1770. Und noch im 19. Jahrhundert klagen die Einheimischen über die hygienischen Verhältnisse. „In die Rinnsteine leert man die Nachtstühle und allen Unrath der Küche und wirft krepierte Haustiere hinein“, schreibt ein Verwaltungsjurist 1808. In Wien seien die Straßen so rein wie die Gänge eines weitläufigen Hauses. „Dagegen watet man in Berlin stets im Koth oder Staube.“ 

Die Hauptstadt von Preußen hat um 1800 mehr als 170 . 000 Einwohner:innen. Die Senkgruben in den Hinterhöfen quellen über. Bestialischer Gestank liegt in der Luft. Ratten wühlen im Dreck. Nur gelegentlich werden Fäkalien von „Mistbauern“ mit Pferdewagen als Dünger für ihre Felder abtransportiert. Schmutzwasser fließt über offene Rinnsteine in die Spree. Das Gefälle dieser Gräben am Straßenrand ist niedrig. Oft setzen sich Feststoffe ab, das Abwasser staut sich. Und bei Starkregen überflutet verdrecktes, mit Krankheitskeimen belastetes Wasser die Straßen. 

So bricht im Frühling 1831 eine Choleraepidemie aus. Anfangs verbreitet sich die Seuche in den ärmeren Stadtquartieren, wo die hygienischen Verhältnisse besonders prekär sind. Bald aber stecken sich auch reiche Bürgerinnen und Bürger an. Dass die Krankheit durch mit Bakterien verseuchtes Wasser übertragen wird, ahnt niemand. Insgesamt werden in Berlin bis zum Winter über 1400 Menschen an der Cholera sterben. 

Das Trinkwasser stammt zu dieser Zeit noch ausschließlich aus Brunnen. Viele stehen unweit von Aborten und Senkgruben. Erst in den 1850er Jahren lässt die Stadtverwaltung ein Wasserwerk bauen und Flusswasser durch Rohrleitungen bis in die Wohnungen führen. 1860 verfügen rund 17 Prozent der Menschen über einen solchen Trinkwasseranschluss, fünf Jahre später sind es bereits 40 Prozent. Auch Klosetts mit Wasserspülung werden nun in Wohnungen eingebaut – und die überlasteten Rinnsteine quellen erst recht über. 

Man rieche Berlin bereits „im Umkreis von neun Kilometern“, notiert der schwedische Naturforscher Carl von Linné 1770

Schließlich erkennt König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen, dass auch die Abwasserentsorgung dringend modernisiert werden muss. Als Berater zieht er keinen Geringeren als Alexander von Humboldt hinzu, der in jungen Jahren Bergbauprojekte in Bayreuth geleitet hatte und Bergmeister war. England ist Preußen in jener Zeit technologisch weit überlegen, weiß der Universalgelehrte: auch bei der Wasserwirtschaft. Daher lässt er Berliner Ingenieure nach London reisen, um die dortige Kanalisation zu besichtigen. In der Folge arbeitet der Eisenbahningenieur und Architekt Salomon Wiebe in den 1860 er Jahren ein ambitioniertes Konzept aus: Schmutz- und Regenwasser sollen unterirdisch in Kanälen gemeinsam gesammelt und außerhalb der Stadt in Gewässer eingeleitet werden. So will Wiebe die Hinterhöfe und Straßen von Dreck und Gestank befreien, aber auch die Wäschereien und zahlreichen Freibäder schonen, die an innerstädtischen Wasserläufen angesiedelt sind – wie etwa die 1817 auf Stelzen erbaute „Pfuel’sche Badeanstalt“ auf der Kreuzberger Seite der Spree, wo sich Männer ein „Diplom der Schwimmkunst“ verdienen können, indem sie einmal quer über den mehr als 100 Meter breiten Fluss und wieder zurück schwimmen. Doch aus Kostengründen wird das Projekt verworfen. 

Die preußische Hauptstadt wächst und wächst. Die neu entstandenen Fabriken locken immer neue Arbeitskräfte an. Berlin wandelt sich von einer Residenzstadt zu einer Industriemetropole – die mehr und mehr Schmutzwasser produziert. Mitte der 1870er Jahre, kurz nach der Reichsgründung, steigt die Einwohnerzahl auf über eine Million. Die Stadt erstickt beinahe in Dreck und Gestank.

Rieselfelder gegen Epidemien

Fachleute vermuten bereits Ende des 19. Jahrhunderts, dass die mangelnde Hygiene auch Gefahren für die Gesundheit birgt. Der angesehene Medizinprofessor und Politiker Rudolf Virchow erforscht mögliche Zusammenhänge mit der Ausbreitung von Epidemien. Sein Verdacht, dass aus Fäkalien stammende Mikroorganismen im Abwasser Ansteckungen auslösen können, erhärtet sich. Schon daher plädiert er dafür, dass endlich eine moderne Kanalisation gebaut wird. Zugleich fordert Virchow aber auch, die Einleitung solchen Schmutzwassers in Flüsse und Seen zu verbieten. Bevor es in die Spree gelenkt wird, müsse das Berliner Abwasser durch ein neuartiges Verfahren von Schadstoffen befreit werden. Die Methode, die Virchow dafür vorschlägt, hat sich in England bereits bewährt: Man lässt das Schmutzwasser nach einer mechanischen Grobreinigung auf sogenannten Rieselfeldern im Boden versickern, wobei Sedimentgestein und Pflanzen Schmutz- und Dungstoffe herausfiltern und Mikroorganismen im Erdreich sie abbauen. Im Juli 1870 laufen am Fuße des Kreuzbergs entsprechende Experimente an. Fachleute untersuchen, ob die Verrieselung das Grundwasser gefährden könnte. Sie messen stark erhöhte Werte für Ammoniak, Schwefel- und Salpetersäure im Boden, geben aber trotzdem grünes Licht.

Der Bauingenieur und Stadtplaner James Hobrecht arbeitet ein Gesamt-konzept aus: Regen- und Schmutzwasser sollen durch unterirdische Kanäle gemeinsam in Pumpstationen abfließen und von dort durch gusseiserne Druckleitungen in die Bewässerungsgräben der Rieselfelder geleitet werden. Aus logistischen Gründen plädiert Hobrecht für mehrere autarke Kanalnetze, sogenannte Radialsysteme. Er teilt Berlin in zwölf Entwässerungsgebiete auf, denen jeweils ein Pumpwerk und ein Rieselfeld zugeordnet werden. Auch Rudolf Virchow trommelt für dieses Konzept. Im Frühling 1873 stimmt die Stadtverwaltung zu. 

Ehemalige Rittergüter wie Großbeeren und Osdorf im südlichen sowie Blankenfelde und Falkenberg im nördlichen Umland werden als Verrieselungsgebiete erworben. Hobrecht lässt die Straßen aufgraben. Bereits 1881 ist die gesamte Berliner Innenstadt mit fast 10. 000 Haushalten an das neue Abwassersystem angeschlossen. Bald sprießen auf den Rieselfeldern – gedüngt durch menschliche Fäkalien – Kartoffeln, Mais und Gemüse sowie Gras und andere Futtermittelpflanzen. In Nachklärbecken werden Fische gezüchtet. Das Kanalsystem entlastet die Stadt nachhaltig vom verdreckten Wasser. Allerdings hat die Verrieselung bei den Bürger:innen keinen guten Ruf. Gerüchte gehen um, dass sich in der Nähe solcher Felder Krankheiten verbreiten würden. Auf Exkursionen wirbt Professor Virchow persönlich für diese Methode: Manchmal fängt er aus Rieselfeldern abfließendes Wasser in einem Glas auf und nimmt demonstrativ einen herzhaften Schluck. Dennoch findet das dort produzierte Gemüse weiterhin wenig Zuspruch. 

Eine Erfolgsgeschichte mit Abstrichen

Die Trinkwasserversorgung der Großstadt ist ständig überlastet. Dabei ließ die Stadtverwaltung bereits Mitte der 1870er Jahre am Tegeler See ein zusätzliches Wasserwerk bauen. Schachtbrunnen zur Förderung von Grundwasser wurden ausgehoben. Doch man hat die Querschnitte der Rohre zu klein berechnet. Mangels Wasserdrucks fließt in den höheren Stockwerken von Wohnhäusern oft nur ein Rinnsal aus dem Hahn. Auch an den Hydranten ist der Druck so schwach, dass die Feuerwehr bei Bränden weiterhin zusätzliches Löschwasser aus Brunnen schöpfen muss. 

Hobrechts Mischwasserkanalisation, bei der Schmutz- und Regenwasser durch dieselben Kanäle fließen, zeigt ebenfalls Schwächen: Durch Notauslässe fließt bei Starkregen überschüssiges Niederschlagswasser – vermischt mit von Fäkalien belastetem Schmutzwasser – direkt in die städtischen Gewässer ab. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kommt es mehrfach zu großen Fischsterben in der Spree. Und die Rieselfelder verschlammen zunehmend. Das System stößt an seine Grenzen.

Um 1900 gibt es insgesamt 15 Flussbadeanstalten in Berlin. Bis 1925 werden alle diese beliebten Freizeiteinrichtungen aus hygienischen Gründen schließen müssen. Doch Fachleute sehen weiterhin keine Alternativen zu Kanalisation und Verrieselung: Eine Einleitung unbehandelter Abwässer in Flüsse oder Seen wäre noch viel schädlicher, sind sie sich einig. Und die gewaltigen Mengen Schmutzwasser müssen schnellstmöglich aus der Stadt weggeführt werden – auch aufgrund der Überflutungsgefahr bei Unwettern. So wie am 14. April 1902, als um drei Uhr morgens ein gewaltiges Gewitter einsetzt. Obwohl alle Pumpstationen auf Hochtouren arbeiten, läuft die Kanalisation so stark über, dass es zu gigantischen Überschwemmungen kommt. Das eng kanalisierte Flussbett am Unterlauf der Panke kann die Wassermassen nicht aufnehmen, in Gesundbrunnen werden die Fundamente angrenzender Gebäude weggerissen. Im Wedding, an der Gerichtstraße, stürzt ein Wohnhaus ein; an der Grenze Schönebergs zu Tempelhof rutschen Teile des Straßenbahndamms ab.

Durch die Anlage unterirdischer Wasserrückhaltebecken wird man in späterer Zeit versuchen, solchen Gefahren vorzubeugen. Doch bei Extremwetter wird die Berliner Mischkanalisation noch im 21. Jahrhundert überfordert sein.

Was die Aufbereitung von Schmutzwasser betrifft, kommt es dagegen schon im frühen 20. Jahrhundert zu weiteren Innovationen: Künstliche biologische Verfahren etablieren sich. Dabei führt man Schmutzwasser zum Beispiel in ein mit Felsbrocken oder Kies gefülltes Becken, reichert es mit Sauerstoff an und lässt es nach wenigen Stunden – weitgehend gereinigt – wieder abfließen. Solche Anlagen emittieren weniger Gestank als Rieselfelder und benötigen bei vergleichbarer Leistung viel weniger Fläche. 1925 werden sich dann Klärwerke mit Belebtschlammbecken etablieren: Bioreaktoren, in denen mit Mikroorganismen angereichertem Schlamm große Mengen Sauerstoff zugeführt werden, um einen noch effizienteren Abbau von Schad- und Schmutzstoffen zu ermöglichen. Mehr und mehr Rieselfelder werden stillgelegt. Nur vereinzelte bleiben, etwa bei Großbeeren, bis in die 1990er Jahre in Betrieb. 

Schon um 1900 trägt die Kanalisation zu einer deutlichen Verbesserung der hygienischen Verhältnisse bei und hilft, die Krankheits- und Sterberate zu senken

Trotz aller Schwierigkeiten bei Bau und Betrieb – und obwohl die Berliner:innen auch nach 1925 offiziell nie mehr wieder in der Spree baden dürfen – ist die Berliner Kanalisation eine Erfolgsgeschichte. Als ihr wichtigster Schöpfer gilt der Ingenieur und Stadtplaner James Hobrecht. Doch auch das Engagement von Gelehrten wie Alexander von Humboldt, Rudolf Virchow und vielen weiteren Forschern hat ihren Bau möglich gemacht. Schon um 1900 trägt die Kanalisation zu einer deutlichen Verbesserung der hygienischen Verhältnisse bei und hilft, die Krankheits- und Sterberate zu senken. Innerhalb weniger Jahrzehnte hat Preußen seinen technologischen Rückstand gegenüber England auf dem Gebiet der Wasserwirtschaft mehr als aufgeholt. Historiker:innen werden die Einführung der dezentralen Berliner Radialsystem-Kanalisation in Berlin später als revolutionär beschreiben – ähnlich wie die Erfindung der Dampfmaschine im frühen 18. Jahrhundert in England. Nicht nur viele große deutsche Städte werden sie übernehmen – selbst in Moskau, Alexandria, Kairo und Tokio lässt man sich von Hobrechts Konzept inspirieren. 

Und doch hat die traditionsreiche Berliner Mischwasserkanalisation Nachteile, die immer deutlicher werden. In Phasen der Trockenheit lässt sie kostbares Wasser sehr rasch aus der Stadt abfließen. Und bei Starkregen kommt es noch heute zu Überläufen und Fischsterben. Im 21. Jahrhundert steht Berlin wieder vor einer historischen Aufgabe, diesmal angesichts zunehmender Hitze und Trockenheit. Wieder trommeln Fachleute wie einst Rudolf Virchow für den Umbau Berlins. Die Idee der „Schwammstadt“ soll die Wasserversorgung der Zukunft sichern – und die Stadt wieder auf die Höhe der Zeit bringen. 

Stand: März 2024