Den Blick weiten!

Ein Beitrag aus ALBERT Nr. 9 "Wasser"

Wasser ist nicht gleich Wasser. Wir müssen verstehen, wie unterschiedlich Menschen die Ressource wahrnehmen, um ihre Stimmen in die Gestaltung der Zukunft einzubeziehen. Wir brauchen eine Provinzialisierung des Wassermanagements. 

Plädoyer von Jörg Niewöhner

Für Westeuropa war die Moderne eine Epoche, in der Natur kontrolliert und nutzbar gemacht wurde. Diese Epoche ist nun zu Ende. Hochwasser, Dürren, Stürme, Waldbrände beweisen das weltweit. Der Aufwand, den wir als Gesellschaft betreiben müssen, um die Natur zu kontrollieren, wächst uns über den Kopf. Menschengemachter planetarer Umweltwandel erfordert einen grundlegenden Transformationsprozess unseres sozial-ökologischen Miteinanders, wenn wir zukünftig Lebensqualität und gerechte gesellschaftliche Ordnung aufrechterhalten wollen. In Berlin-Brandenburg wird diese Herausforderung beim Wasserhaushalt bereits heute greifbar. 

Natur- und kulturhistorisch hat sich Berlin-Brandenburg als wasserreiche Region entwickelt: Seen, Moore, Flüsse und Kanäle zeugen von der Urbarmachung einer eiszeitlich geprägten Landschaft. Heutzutage allerdings zählt die Region zu den trockensten Deutschlands. Ein radikales Umsteuern in der Lebens- und Wirtschaftsweise wirft Fragen auf: Was tun mit austrocknenden Seen? Was passiert mit dem Spreewald und seinen Bewohner:innen nach dem Braunkohletagebau? Woher kommt dann sauberes Trinkwasser für Berlin? Welche Infrastrukturen können Starkregenereignissen trotzen und das viele Wasser in der Landschaft halten für trockene Zeiten? 

Wie diese Fragen beantwortet werden, geht uns alle an. Daher plädiere ich dafür, die Wissensgrundlage für anstehende Entscheidungen zu erweitern. Derzeit ist eine Gruppe von hydrologischen Expert:innen in Verwaltung und Wissenschaft damit beschäftigt, den Wasserhaushalt von Berlin und Brandenburg so zu ‚managen‘, dass bestehende Bedürfnisse an Quantität und Qualität erfüllt werden. Integriertes Wasserressourcenmanagement (IWRM) hat sich zu einem bewährten Ansatz entwickelt, der darauf abzielt, mittels naturwissenschaftlich-technischer Expertise Wasser in der Region optimal zu bewirtschaften. IWRM beinhaltet partizipative Elemente, wird aber weitestgehend von einem ‚hydraulischen Duktus‘ bestimmt. Wasser gilt dabei als Ressource, die es mittels technischer Infrastruktur zu nutzen gilt. Dies ist ohne Frage eine sinnvolle Perspektive. Aber eben nur eine.

Der indische Historiker Dipesh Chakrabarty hat den Begriff der Provinzialisierung geprägt. Er fordert, dass man erkennen möge, dass das moderne Europa zwar über lange Zeit und in vielen Teilen der Welt unhinterfragt als Maßstab galt und gilt, Aufklärung, Vernunft, Natur oder Wissen jedoch Phänomene seien, die nicht universell, sondern in einer global verflochtenen Welt unterschiedlich verstanden werden. 

Das gilt auch für den Blick aufs Wasser. In Berlin-Brandenburg, so zeigt unsere Forschung in der Einstein Research Unit Climate and Water under Change (CliWaC), ist Wasser für viele Menschen mehr als nur Ressource: Es prägt Landschaften, Identitäten und Erinnerungen, stiftet Solidaritäten, gestaltet Alltage und berührt Menschen. Die Frage, wie wir in Zukunft in der Region mit Wasser umgehen wollen, muss daher ‚provinzialisiert‘ werden. 

Wir können Wasser nicht aus einer einzelnen Zentralperspektive hydrogeologischer Expertise ‚managen‘. Vielmehr müssen wir dieses Wissen einbetten in breitere Wissens- und Erfahrungsbestände, lokale Perspektiven in den wissenschaftlichen Alltag hineinwirken lassen. Eine solche Provinzialisierung erweitert und demokratisiert die Entscheidungsgrundlage für die gesellschaftliche Gestaltung unserer Zukunft – vor allem angesichts wissenschaftlich-technischer Unsicherheiten. Geben wir also die Zentralperspektive auf und lassen uns ein auf eine entscheidungsbewusste und wertebasierte Wissenschaft, die uns hilft, die Zukunft unseres Wassers in einem vielstimmigen politischen Prozess zu gestalten. Der Sozialanthropologe Jörg Niewöhner ist Professor für Anthropology of Science and Technology an der Technischen Universität München. Bis zum Sommer 2023 war er stellvertretender Sprecher der Einstein Research Unit CliWaC und Direktor des Integrative Research Institute of Human-Environment Systems (IRI THESys) der Humboldt-Universität zu Berlin.

Expert:in

Der Sozialanthropologe Jörg Niewöhner ist Professor für Anthropology of Science and Technology an der Technischen Universität München. Bis zum Sommer 2023 war er stellvertretender Sprecher der Einstein Research Unit CliWaC und Direktor des Integrative Research Institute of Human-Environment Systems (IRI THESys) der Humboldt-Universität zu Berlin.

Stand: März 2024