Stadtidylle

Ein Beitrag aus ALBERT Nr. 9 "Wasser"

Lebensmittel müssen nicht vom Land kommen. Zwei Berliner Modellprojekte machen vor, wie Gemüseanbau durch optimierte Stoffkreisläufe auf engstem Raum funktioniert. Die autarken Systeme nutzen Abwasser, vermeiden Abfall – und zeigen neue Wege für die Nahrungsmittelproduktion auf

Text: Nora Lessing

Von der Straße aus gesehen wirkt das Quartier zunächst etwas trist. Leere Bürgersteige, versiegelte Flächen. Weiße, graue, ockerfarbene Fassaden, Mietskaserne reiht sich an Mietskaserne. Doch wer unweit des Potsdamer Platzes den Innenhof des Hauses in der Bernburger Straße 22 betritt, erlebt eine grüne Überraschung. Die Luft ist angenehm kühl hier, gelblich-braune Schilfstängel wiegen sich im Nachmittagswind. Vögel zwitschern. Ein kleines Gewächshaus ragt aus dem Schilf. Gebaut hat es das Forschungsteam „Roof Water Farm“ um Grit Bürgow und Anja Steglich von der Technischen Universität (TU) Berlin. 2013 riefen die beiden Ingenieurinnen für Stadt- und Landschaftsgestaltung das Modellprojekt für urbane, blau-grüne Infrastrukturen ins Leben – für Infrastrukturen also, die das Betongrau der Städte mit Parks, Gärten und Wasserflächen durchsetzen. Stadtplaner:innen, Forschende und Interessierte aus aller Welt besichtigen die „Roof Water Farm“ auf der Suche nach Inspiration. Könnte so die Zukunft unserer Städte aussehen? 

Die Idee für die „Roof Water Farm“ entstand infolge einer Ausschreibung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. „Es ging darum, urbane Wasserinfrastrukturen intelligenter zu nutzen. Grit und ich wollten das auf Haus- und Quartiersebene denken: Projektentwicklung von der Schraube bis zur Gesamtstadt“, erinnert sich Steglich. 

Auf der Suche nach einem passenden Ort stießen die Ingenieurinnen auf das IBA-Quartier „Block 6“, ein sozial-ökologisches Modellprojekt aus dem Jahr 1987. Hier waren bereits Ende der 1980er Jahre doppelte Abwasserleitungen verlegt worden. „Das Grauwasser – Wasser, das in der Dusche oder im Küchenspülbecken abfließt – sammelte man zunächst in einer Zisterne im Innenhof“, sagt Bürgow. 

„Hier floss es durch eine ‚Pflanzenkläranlage‘ – Mikroorganismen an den Wurzeln der Schilfpflanzen filtern die Nährstoffe heraus – und dann floss das ökologisch gereinigte Wasser zurück ins Haus, um damit die Toiletten zu spülen.“ Das Recyclingprojekt war technisch und landschaftsgestalterisch erfolgreich, erwies sich auf Dauer jedoch als zu teuer. Anfang der 2000er Jahre entschied man sich für ein Upgrade: Der Umweltingenieur Erwin Nolde und ein Team aus Planer:innen und Architekt:innen bauten das Wasserkreislaufmanagement um, errichteten eine kompaktere, leistungsfähigere und ökonomischere Grauwasseraufbereitung auf 100 Quadratmeter Fläche. Auf dem Fundament des ehemaligen Sammelbeckens entstand ein Besucherhaus in Holzbauweise, die schilfbewachsene Pflanzenkläranlage im Innenhof funktionierte man zum Regenwasserfeuchtgebiet um. Erhalten blieben die doppelten Abwasserleitungen im Block – ein Glücksfall für die „Roof Water Farm“. 

Stadtplaner:innen, Forschende und Interessierte aus aller Welt besichtigen die „Roof Water Farm“ auf der Suche nach Inspiration

Im Gewächshaus wachsen leuchtend rote Chilischoten und knallgelbe Paprika. Gegossen werden sie mit aufbereitetem Grauwasser der etwa 250 Bewohner:innen des Quartiers. Das Wasser läuft durch eine kleine Filtrationsanlage, landet in einem Tank und wird dann zur hydroponischen Pflanzenzucht verwendet. Zusätzlich mit Nährstoffen angereichert umspült es die Wurzeln der Pflanzen. Eine Zeit lang nutzte das Team das aufbereitete Wasser auch zur Fischzucht. Im Gewächshaus tummelten sich die Fische in großen Bottichen, wuchsen zu stattlicher Größe heran. „Die Fische müssen allerdings auf Dauer von jemandem betreut werden, und wir hatten hier auch keine Schlachterlaubnis wie klassische Aquakulturproduktionsanlagen“, sagt Bürgow.

Nach Abschluss der Projektförderphase entschied das Team daher, sich auf die Gemüseproduktion zu konzentrieren – mit tatkräftiger Unterstützung von Studierenden. Ob nun Fisch- oder Gemüsezucht – beides zeigt: Urbanes Abwasser ist kein wertloser Abfall, der im Klärwerk landen muss. Begreift man es als Ressource, finden sich viele Möglichkeiten, es lokal zu nutzen. Und das muss weder aufwendig noch besonders teuer sein.

"Goldwasser" aus der Toilette

Selbst Schwarzwasser – stark verschmutztes Wasser aus Toiletten – bildet keine Ausnahme. So entwarfen Bürgow und Steglich auch hierfür gemeinsam mit Erwin Nolde, weiteren Forschenden und dem Fraunhofer-Institut für Umwelt-, Sicherheits- und Energietechnik (UMSICHT) eine Aufbereitungsanlage. Mithilfe einer Kombination aus biologisch-mechanischer Aufbereitung und Membranfiltration gelang es, das nährstoffreiche Schwarzwasser in einen Flüssigdünger zu überführen. Hierzu arbeitete das Projektteam mit einem Filtrationssystem, das pathogene Keime und Medikamentenrückstände aus dem Toilettenwasser entfernte. Übrig blieb eine goldgelbe Flüssigkeit. „Mit diesem ‚Goldwasser‘ ließen sich unsere Pflanzen im Gewächshaus genauso gut ziehen wie mit herkömmlichem Industriedünger“, freut sich Grit Bürgow. Durch regelmäßige Qualitätskontrollen stellte das Forschungsteam dabei sicher, dass keine Gesundheitsgefahren drohten. Ein weiteres Plus: Das „Goldwasser“ ist ein nachhaltiger Rohstoff aus sich immer wieder füllenden Toiletten. 

Über die Jahre bauten Steglich, Bürgow und ihre Mitstreitenden auf der „Roof Water Farm“ die unterschiedlichsten Pflanzen an – Erdbeeren, Gurken, Bohnen. Über die Bernburger Straße hinaus liefert das Projekt dabei Impulse für die Stadtplanung der Zukunft: Ob Dachgewächshaus oder Vertikalfarm – der hier erprobte Ansatz lässt sich in der Stadt in verschiedensten Kontexten adaptieren. Verbrauch und Produktion sind dabei nicht mehr räumlich getrennt, Stoffkreisläufe werden für Anwohnende sicht- und erfahrbar. „Mietshäuser, Schulen, Bürogebäude werden so zu Produktionsorten“, erklärt Bürgow die Vision. Ganz nebenbei kann so auch die urbane Klimaanpassung gelingen: Infrastrukturen wie Regenwasserteiche und Gemüsebeete schmeicheln nicht nur dem Auge. Sie entschärfen auch Hitzeinseln, sorgen für Abkühlung.
 

Abfall als neuer Wertstoff

Im Südwesten der Stadt eilt Christian Ulrichs durch die Gänge des Albrecht Daniel Thaer-Instituts für Agrar- und Gartenbauwissenschaften der Humboldt-Universität (HU) zu Berlin, holt seinen Schlüsselbund aus der Tasche. Der Rohbau des CUBES-Circle-Projekts liegt hinter dem Hauptgebäude, zwischen Testflächen und Gewächshäusern, in denen Gemüse, Obst und derzeit auch Cannabispflanzen sprießen. Die Tür gibt den Weg frei in einen lichtdurchfluteten zweistöckigen Container. Im Erdgeschoss, dicht an dicht, sind große, dunkelgrüne Plastik-behälter installiert – Reservoire für Wasser und Nährlösungen. Komplexe Leitungssysteme führen an der Decke entlang, bringen die Flüssigkeiten dorthin, wo sie gebraucht werden. Bald werden hier in großen Becken Fische schwimmen, Insekten in einem platzoptimierten Regalsystem herumkrabbeln. Auf der oberen Ebene, wo die Lichtverhältnisse besonders gut sind, planen Ulrichs und seine Mitstreitenden, Tomaten und andere Nutzpflanzen zu ziehen. Das ambitionierte Ziel: Auf engem Raum einen Produktionskreislauf aus Pflanzen, Fischen und Insekten zu schaffen, in dem keinerlei Abfall entsteht. 

„Die Grundidee kommt aus der Biologie: Es gibt keinen Abfall – lediglich Reststoffe, die anderen Systemen als Wertstoffe dienen“, sagt Ulrichs, Professor für Urbane Ökophysiologie der Pflanzen an der HU Berlin. Anders als in der Natur werden im CUBES Circle jedoch alle Erträge auf die Bedürfnisse des Menschen angepasst. Pflanzenabfälle dienen dabei als Insektenfutter, Insekten werden an Fische verfüttert. Alle drei Produktionslinien erzeugen gesunde, essbare Nahrungsmittel – mag auch der Verzehr von Insekten zumindest in Deutschland bislang kaum etabliert sein. Ein kleiner Technikcontainer mit Reglern und digitalen Anzeigen dient zur Steuerung und Überwachung der Produktion. Die Bedienung soll am Ende so einfach sein, dass eine einzige Person das System steuern kann. Der Ansatz folgt der Triple-Zero-Idee: Energie aus erneuerbaren Quellen, keine Emissionen, keine Abfälle.

Die Grundidee kommt aus der Biologie: Es gibt keinen Abfall – lediglich Reststoffe, die anderen Systemen als Wertstoffe dienen

Christian Ulrichs, Biologe und Agrarwissenschaftler

„Aufgrund der immensen Komplexität verbinden Forschungsgruppen in der Regel lediglich zwei Trophieebenen miteinander – also zum Beispiel Pflanzen und Fische“, erklärt Ulrichs. So übrigens auch im preisgekrönten „Tomatenfisch“-Projekt, das Fisch- mit Pflanzenproduktion verband und hierbei Pionierarbeit leistete. Die daraus hervorgegangene Expertise von Professor Werner Kloas’ Arbeitsgruppe am Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) fließt nun in den CUBES Circle ein. Zudem baut das Projekt auf dem Forschungsprojekt ZINEG auf, in dem Professor Uwe Schmidt und sein Team Konzepte für Niedrigenergie-Gewächshäuser erarbeiteten und hierfür – ebenso wie Kloas’ Arbeitsgruppe – den Nachhaltigkeitspreis der deutschen Bundesregierung erhielten. „Der CUBES Circle bündelt nicht nur unheimlich viel Expertise“, kommentiert Ulrichs, „wir verknüpfen hier auch drei agrarische Produktionssysteme miteinander. In der Konsequenz, in der wir das hier betreiben, gibt es das nirgendwo sonst auf der Welt.“ 

Am Ende der Entwicklungsphase soll der CUBES Circle als multipel anpassbares Baukastensystem funktionieren, sollen verschiedene Varianten des Systems am besten überall auf der Welt einsetzbar sein – ob im australischen Outback oder in Berliner Industriegebieten. Denn die möglichen Anwendungsfälle sind zahlreich. „Ein riesiger Vorteil ist, dass man sich damit von Umweltbedingungen relativ unabhängig machen kann“, erklärt Ulrichs. So funktioniert der Containeranbau auch dort, wo es zu kalt oder zu warm ist, kaum oder zu viel regnet. Zudem kommt die Produktion ohne Erde aus: Die Wurzeln der Pflanzen wachsen auf einem anorganischen Substrat, werden von Nährlösung umspült. So ist die Produktion nicht auf fruchtbare Böden angewiesen. Und das Projekt macht selbst vor dem Weltraum nicht halt. „In der zweiten Förderphase ist das Luft- und Raumfahrtzentrum einer unserer Partner“, sagt Ulrichs. „Wenn die eine Mission starten, zum Beispiel zum Mars, dann muss die 100 Prozent autark sein, müssen 100 Prozent der Materialien recycelt werden. Hier kommt der CUBES Circle ins Spiel.“

Nur eine Gabe Wasser bis zur Ernte

Derzeit optimiert das CUBES-Circle-Konsortium, zu dem neben der HU und vielen weiteren Universitäten auch das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt sowie die REWE-Gruppe als Industriepartner zählen, die Wasser- und Stoffkreisläufe, tüftelt an einer Vielzahl komplexer Einzellösungen. So muss jede Fisch- und Pflanzenspezies bestimmte Bedingungen vorfinden, um optimal zu gedeihen. Veränderte Umweltbedingungen führen immer auch zu einer veränderten Nährstoffzusammensetzung – ob im Fisch, im Insekt oder in der Pflanze. Damit die Insekten sich nicht den Magen verderben, müssen die Pflanzenreste also auf Insektenbedürfnisse optimiert sein – und die Insekten müssen enthalten, was die Fische zum Leben brauchen. Eine komplexe Aufgabe, die sich nur interdisziplinär lösen lässt. So sind an dem Projekt Expert:innen aus unterschiedlichsten Disziplinen beteiligt – von Spezialistinnen für Nährstofftransport und Gasaustauschprozesse, Biologen und Chemikerinnen über Ingenieurspsychologen bis hin zu Agrarexpertinnen. Unter anderem mit Blick auf den Wasserverbrauch der Systeme verzeichnet das Konsortium schon beachtliche Erfolge. „Für Erdbeeren und Paprika kommen wir tatsächlich mit einer einmaligen Gabe von Wasser aus, müssen bis zur Ernte kein Wasser mehr zuführen.“ 

Die zweite Förderphase für CUBES Circle beginnt 2024 und ist auf fünf Jahre ausgelegt. In dieser Zeit soll ein funktionierender Wasserkreislauf im Container entstehen. „Dafür arbeiten wir ganz klassisch mit Hydroponik und Aquaponik“, beschreibt Ulrichs. Bei Letzterer fließt das mit Fäkalien angereicherte Wasser aus den Fischtanks zunächst durch eine Filteranlage und dann zu den Pflanzen. Diese nehmen die Nährstoffe über die Wurzeln auf und geben Wasser als Wasserdampf an die Umgebungsluft ab. Nachdem die Forschenden den Dampf gezielt kondensiert haben, leiten sie das Wasser zurück in den Kreislauf. „Der Wasserverbrauch wird am Ende sehr, sehr gering sein: Nichts ist so wassereffizient wie eine intensive Produktion in einem geschlossenen System“, erklärt Ulrichs. Notgedrungen verdunstet dennoch Wasser über die Lüftungsklappen – um die Temperatur im Container effizient zu regulieren, müssen diese gelegentlich geöffnet werden. Im Vergleich zum Lebensmittelanbau auf dem Feld, betont der Professor, sind diese Verluste jedoch verschwindend gering. 

Noch gilt es, zahlreiche komplexe Probleme zu lösen. Wenn alles glattgeht, wird der CUBES Circle in Serie gehen als ein klimaresilientes Produktionssystem, das eine hohe Lebensmittelqualität garantiert – bei sicherer Ernte. Wie gering die Anschaffungs- und Betriebskosten dafür am Ende ausfallen, hängt von vielem ab, zum Beispiel von den Energiepreisen. Doch Ulrichs ist zuversichtlich: „Wir begreifen den CUBES Circle als ein Agrarsystem der Zukunft, das sich für alle möglichen Standorte eignet – ob Stadt oder Wüste.“ Gerade in Zeiten des Klimawandels dürfte das Projekt für viele Gemeinden, Städte und Länder interessant sein.

 

Stand: März 2024