Das Einstein-Visiting-Fellowship war dem Cluster of Excellence „Contestations of the Liberal Script (SCRIPTS)“ angegliedert. Innerhalb dieses Clusters wurden die internen und externen Herausforderungen erforscht, denen liberale Demokratien gegenüberstehen. Das "liberale Skript" wurde im Cluster umfassend verstanden, was bedeutet, dass eine breite Palette von Ideen, Praktiken und institutionellen Ordnungen einbezogen wurde. Dazu gehörten internationale Organisationen und andere Facetten von dem, was als „globale Governance“ bekannt ist und derzeit intensiv hinterfragt wird. Diese Fragen werden sowohl von lokalen Akteuren in Form von nationalistischen Parteien als auch von den Gegnern der Globalisierung gestellt. Auch die internationalen Beziehungen haben sich in einer Weise entwickelt, die das „liberale Skript“ und die Institutionen der „globalen Governance“ weiter schwächt, wie zum Beispiel die wachsenden Rivalitäten zwischen den Großmächten und die Ungleichheiten und Instabilität, die der Kapitalismus mit sich bringt. Hinzu kommen neue Formen politischer und sozialer Mobilisierung, die oft mit den neuen Kommunikationskanälen und Technologien in Verbindung stehen.
Während der Laufzeit des Fellowship haben sich die Aussichten für das Bestehen einer globalen Ordnung merklich verschlechtert, was die Relevanz unserer Fragestellung und unserer Herangehensweise deutlich steigert. Die Komplexität der aktuellen globalen Ordnung und die wahrscheinlich zukünftigen Entwicklungen sind eng mit der Interaktion zwischen „alt“ und „neu“ verbunden. Einerseits stehen wir vor globalen Herausforderungen, die zu weltweiten Zwängen führen, sowie den Auswirkungen neuer Technologien und neuen Wissens auf die Wirtschaft, Waffen, Netzwerkfähigkeiten und ihre Muster. Andererseits gibt es die „alten“ Denkmuster und Dynamiken, insbesondere die Dynamik eines internen politischen Wettbewerbs, geopolitische Rivalitäten, unsichere Regime, nationalistische Behauptungen und bewaffnete Kämpfe.
Angesichts dieser Kombination aus dem im Cluster praktizierten Verständnis des „liberalen Skripts“ und der aktuellen Krise der globalen Ordnung schien es aus der Sicht von Andrew Hurrell angebracht, seine Kritik an der Enge der mainstream, liberalen Ideen im Fach „Internationale Beziehungen“ zu äußern. Der Liberalismus ist eine komplexe und vielfältige Tradition des politischen Denkens und der politischen Praxis. Wenn jedoch Liberalismus auf internationaler oder globaler Ebene diskutiert wird, beschränkt sich die Debatte oft auf die sogenannte „globale liberale Ordnung“ nach dem Ende des Kalten Krieges. Die reiche und vielfältige Geschichte liberaler Ideen zur internationalen Ordnung wird somit auf eine historische, kontingente Episode reduziert. Innerhalb des Clusters lag der Schwerpunkt des Fellowship darin, über die „globale liberale Ordnung“ der Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges hinauszuschauen, um den Mitgliedern des Clusters eine breitere Palette liberalen Gedankenguts zu eröffnen. Im Rückblick sehen wir, wie die Aufdeckung und Darlegung von liberalen Konzepten zu einer viel pluralistischeren Version des „liberalen Skripts“ führen. Diese betont tiefgehende Vielfalt, Abwesenheit von Herrschaft und Selbstbestimmung, wirksame politische Teilhabe und Machtbalancen. Für die Zukunft bedeutet dies, dass es nicht hilfreich ist, über Alternativen wie eine neue westzentrierte liberale Ordnung einerseits und eine Rückkehr zur Westfälischen Ordnung andererseits nachzudenken. Stattdessen müssen wir verstehen, welche Möglichkeiten für Ordnung in einer Welt bestehen, die nicht mehr so stark westzentriert ist und mit starken geopolitischen Konflikten konfrontiert ist. Teil dieser Suche ist auch das Verständnis, wie die tatsächlich von allen geteilten liberalen Aspekte und Werte identifiziert und verstärkt werden können.
Eng verbunden mit den Formen des liberalen Pluralismus ist die Notwendigkeit zu verstehen, dass sich die globale Ebene fortlaufend verändert. Die Reaktionen auf den Krieg in der Ukraine und in Gaza haben die öffentliche Aufmerksamkeit auf dieses Problem gelenkt. Genau das ist es, was die Forschungsgruppe um Andrew Hurrell zu erforschen und zu erklären versucht hat: Die aktuelle Situation in der internationalen Politik kann nur verstanden werden, wenn wir sie im Kontext betrachten, als Teil des historischen Prozesses, in dem die europäische bzw. westliche internationale Gesellschaft global wurde. Vieles von dem, was als die internationale liberale Ordnung angesehen wird, ist nicht das Ergebnis amerikanischer oder westlicher Hegemonie. Es ist eher das Ergebnis von Wettbewerb, sozialen Transformationen und revolutionären Umwälzungen, die außerhalb des Westens während der Kämpfe gegen die westliche Herrschaft und während eines konfliktreichen Kalten Krieges stattfanden.
Aus diesen Gründen hat sich die Forschungsgruppe mit folgenden Themen auseinandergesetzt: den Herausforderungen der modernen internationalen Gesellschaft während der Dekolonisierung und dem Aufkommen dessen, was man als die Dritte Welt und den Globalen Süden bezeichnete; wie eine Vielfalt von Sprachen und Forderungen, die an den Liberalismus anknüpften, sich entwickelten und schließlich in Konflikt gerieten (ein Konflikt, der sowohl aus Sicht westlicher Regierungen als auch derjenigen, die ihre Herrschaft hinterfragten, existierte); und den aktuellen Kampf um das Wesen der internationalen und globalen Ordnung, der sich in den internationalen Beziehungen der Entwicklungsländer und der mittleren Einkommensländer in der postkolonialen Welt der Gegenwart zeigt. Dieser Kampf umfasst mögliche Zukunftsvisionen, sowohl liberale als auch nicht-liberale. Zur Erforschung dieser Themen hat die Forschungsgruppe Lateinamerika als die Region ausgewählt, in der die Beiträge von außerhalb des Nordatlantiks zur bestehenden und zukünftigen liberalen Ordnung am besten identifiziert werden können.