Die Forschungsgruppe untersuchte den literarischen Kanon der "jüdischen homosexuellen Moderne", der im deutschen Kulturraum zwischen 1890 und 1945 entstand. Sie zeigte, dass die moderne hebräische Literatur, die in hohem Maße durch den deutschen Kanon der Moderne geprägt wurde, an der Konstruktion und Verbreitung des jüdisch-homosexuellen Kanons maßgeblich beteiligt war. 

Das literarische Korpus, das im Rahmen des Projekts zum ersten Mal definiert, rekonstruiert und untersucht wurde, ermöglichte neue Lesarten der Verbindungen zwischen deutschen und hebräischen Literaturen, zwischen Zentrum und Peripherie und zwischen Territorium und Deterritorialisierung über die Grenzen von Zeit und Raum hinweg. Das Projekt näherte sich seiner Fragestellung aus drei verschiedenen Blickwinkeln. 

Erstens unterzog es literarische Werke bekannter Schriftstellerinnen und Schriftsteller einer neuen Lektüre. Ein Beispiel ist Leah Goldberg, die in der zeitgenössischen hebräischen Kultur zu einer populären queeren Ikone avanciert ist. An ihrem Roman „Verluste“, der in den späten 1930er Jahren geschrieben, aber erst 2010 veröffentlich wurde, ließ sich ihre kritische Reflexion über die Verschränkung von Antisemitismus und Homophobie im Berlin der 1930er Jahre aufzeigen. 

Auch Thomas Manns Roman „Joseph und seine Brüder“ (1933 - 1943) lässt sich der jüdisch-homosexuellen Moderne zurechnen. Mann, der sich seit Beginn seines literarischen Schaffens antisemitischen Angriffen ausgesetzt sah und dessen Homosexualität durch die postume Veröffentlichung seine Tagebücher bekannt wurde, ergriff den biblischen Stoff aus doppeltem Interesse: zum einen, um einem identitätsstiftenden Kapitel der jüdischen Tradition ein literarisches Denkmal zu setzen; zum anderen, um in der androgynen Gestalt Josephs neue Vorstellungen von Geschlecht und Begehren zu gestalten, die in der Weimarer Republik entwickelt wurden. 

Ein drittes Beispiel ist Shmuel Yosef Agnon, an dessen Erzählungen sich eine Poetik der Phantasie aufzeigen ließ, die es ihm ermöglichte, mit der jüdisch-homosexuellen Moderne zu experimentieren. Ein viertes Beispiel für die Revision des literarischen Kanons ist Yosef Arichas Kurzgeschichte „Das Bekenntnis“ (1938), eine der ersten hebräischen Erzählungen, in die ein lesbischer Handlungsstrang eingewoben ist. 

An zwei weiteren Autoren wurde das Verhältnis der Sprachen Deutsch, Jiddisch und Hebräisch im Kontext der homosexuellen Moderne untersucht: So ergaben sich neue Perspektiven auf David Vogels Roman „Eine Ehe in Wien“ und auf die Lyrik des bedeutenden hebräischen Dichters Uri Zvi Greenberg. 

Der zweite Schwerpunkt des Projekts war die Recherche und Untersuchung bislang unbekannter Erzählungen und Gedichte, die in jüdischen und homosexuellen Zeitschriften des deutschen Kaiserreichs und der Weimarer Republik erschienen. Am Beispiel des Topos der „schönen Jüdin“ und der Figur des Ahasver ließen sich Überkreuzungen jüdischer und homosexueller Denkfiguren aufzeigen. Auch Alfred Lichtensteins Gedichte und Kurzgeschichten über die fiktive Figur Kuno Kohn gehören in diesen Zusammenhang. Die wiederentdeckten Texte werden demnächst in einer kommentierten Anthologie erstmals veröffentlicht. Auch der Blick in den Albatros, eine jiddische „Zeitschrift für neue Dichtung und Graphik“, an der Uri Zvi Greenberg als Schriftleiter beteiligt war, brachte neue Erkenntnisse. 

Einen dritten, flankierenden Fokus stellte die Verflechtung von Homophobie und Antisemitismus im Nationalsozialismus dar, wie sie nicht nur in medizinischen, anthropologischen und rassentheoretischen Schriften, sondern auch in völkischen Artikeln und Reden zum Ausdruck kam.