Hélène Esnault

Hélène Esnault wurde als Professorin für Zahlentheorie an die FU berufen. Ihre Fachkollegen loben die Französin für die außergewöhnlich große Bandbreite ihrer Arbeitsgebiete, die von der Analysis über die Geometrie bis zur Zahlentheorie reicht. In den letzten Jahren haben Mathematiker die Grenzen ihrer traditionellen Teildisziplinen bewusst überschritten und dadurch neue, zum Teil sensationelle Erkenntnisse erlangt. Hélène Esnault treibt diese Entwicklung mit ihrer Forschung in der Diophantischen Mathematik weiter voran.

 


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»Auf der Suche nach dem Licht«

Ich denke in der Sprache von Licht und Nebel. Wir leben im Nebel und sehen weder Formen noch Farben, dann klart es ein bisschen auf, und wir sehen erste Formen, Licht und Farben. Das Licht ist für mich die Mathematik. Wenn wir forschen, also nachdenken, um ein Problem zu verstehen, brauchen wir Licht. Wir sind auf der Suche nach dem Licht.

Es gibt große Vermutungen in der Mathematik, von denen niemand ahnt, wie man sie beweisen kann. Wir sind ratlos. Es ist so, als würde man in einem dichten Urwald stehen, in dem kein Lichtstrahl weiter reicht als zwei Meter, und am Ende des Walds vermutet man etwas, das man erreichen möchte. Man versucht eine Strategie zu entwickeln, erst nach rechts zu gehen, ein paar Bäume zu fällen, dann nach links. Andere behaupten, man solle es lieber gleich links versuchen. Generationen von Mathematikern entwickeln Theorien, um neue Wege zu finden. Doch viele davon sind Holzwege, ganz selten kann man eine Vermutung lösen. Manchmal glaubt man auf dem richtigen Weg zu sein, und dann kommt doch ein Unbehagen, vielleicht sogar nachts, mitten in einem Traum. Genauso merkt man, wenn es stimmt.

Mein Forschungsfeld, die algebraische arithmetische Geometrie, ist ein sehr abstraktes Gebiet der Mathematik, das im Zentrum anderer Teildisziplinen steht, etwa der Arithmetik, Differenzialgeometrie oder Topologie. Ich versuche Probleme immer über die Grenzen hinweg zu verstehen. Da gab es zum Beispiel eine alte Frage, die in der Arithmetik verankert war, also in der Zahlentheorie. Ich hatte ein Bild im Kopf, das aus der Geometrie kam, die im Prinzip nichts mit der Zahlentheorie zu tun hat. Aber es hat sich herausgestellt, dass ich es übersetzen konnte, sobald ich die Analogie zwischen dem Gebilde in der Geometrie und der Frage aus der Arithmetik verstand. Das Bild ergab einfach eine Antwort auf die Vermutung. Das war ein Glücksmoment der Mathematik.

Was ich erforsche, findet Resonanz in der Grundlagenforschung. Es könnte sein, dass jemand es in 50 Jahren für etwas Angewandtes nutzt, aber bis jetzt ist das noch nicht geschehen. Meine Motivation liegt ganz in der Eigendynamik der Mathematik und in der Abstraktion – Mathematik ist für mich Abstraktion. Für meine Arbeit brauche ich nur einen Kugelschreiber, und selbst der ist nicht notwendig. Im Grunde passiert alles im Kopf. Selbst während eines Konzertes kann es passieren, dass ich mich nicht mehr auf die Musik konzentrieren kann, weil ich einen Gedanken verfolgen muss. Es ist wie bei einem Dichter, der plötzlich einen Satz findet, der so prägend ist, dass er alles andere ausblendet.


Interview: Mirco Lomoth