Der Germanist Thomas Levin von der Princeton University ist nicht nur international renommierter Medien- und Kulturtheoretiker, sondern auch produktiver Übersetzer, Herausgeber und Kurator. In Berlin bereicherte der vielseitige Wissenschaftler als Einstein Visiting Fellow die Friedrich Schlegel Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien. Die Graduiertenschule konnte von seinem Wissen im Bereich Film, Video und anderer visueller Künste profitieren.
»Ich betreibe akustische Spurensuche«
Schallplatten wurden auch für Sprachaufnahmen genutzt?
Ja, Anfang der 30er bis Ende der 50er Jahre war das Grammofon als Sprachaufzeichnungsgerät sehr weit verbreitet. In Europa, in Nord- und Südamerika, aber auch anderswo gab es Aufnahmekabinen in Postämtern, Bahnhöfen, Vergnügungsparks, und eine stand sogar im 86. Stock des Empire State Buildings! Großbürgerliche Haushalte hatten oft ein eigenes Gerät für Sprachaufnahmen.
Viele dieser Aufzeichnungen wurden als akustische Briefe per Post verschickt. Meine Einstein-Forschergruppe befasst sich mit der Rekonstruktion dieser Kulturgeschichte der grammofonischen Post. Für mich hat alles vor ein paar Jahren begonnen, als ich auf dem Flohmarkt einen Umschlag mit einer merkwürdigen Scheibe aus Aluminium fand, die in einem Briefumschlag steckte. Meine Recherchen ergaben, dass es sich um einen ehemals weit verbreiteten Typus der Schallplatte handelte, der von der Mediengeschichte aber bisher nicht beachtet worden war. Am Anfang unseres Projekts ging es daher zunächst einmal darum, solche Schallplattenbriefe zu sammeln, zu katalogisieren, einzuscannen und zu digitalisieren. Das so entstandene Tonarchiv dient mir nun als Grundlage für meine kulturgeschichtliche Studie.
Was ist das Besondere an diesem Tonarchiv?
Diese Aufnahmen bezeichnen den medienhistorisch außerordentlich bedeutsamen Moment, an dem viele Menschen ihre eigene Stimme zum ersten Mal so hören können, wie sie anderen zu Gehör kommt. Ab jetzt existiert ihre Stimme außerhalb des eigenen Körpers. Es verwundert daher nicht, dass oft vom Tod die Rede ist, denn den Menschen ist bewusst, dass ihre aufgezeichnete Stimme sie überdauern wird. Es ist ein Archiv überwiegend namenloser, längst verblichener Menschen. Und es ist ein Archiv der Alltagssprache: Hier sprechen ganz normale Menschen in ganz normalen Worten über ganz alltägliche Angelegenheiten.
Haben Sie sich wissenschaftlich schon immer mit Alltagsgegenständen beschäftigt?
Mein Forschungsinteresse ist durch einen medientheoretischen Materialismus geprägt, der auch dieses Projekt auszeichnet. Ich bin sehr daran interessiert, wie scheinbar banale Dinge ein neues Licht auf alle möglichen Kulturtechniken werfen können.
Besonders schön an diesem Projekt ist, dass ich meinen Sammeltrieb im Gewand wissenschaftlicher Forschung ungehemmt ausleben kann. Ich bin ein leidenschaftlicher
Jäger und Sammler, nichts verschafft mir mehr Befriedigung als ein guter Fund, und nichts ist besser für die Wissenschaft als ein guter Fund. Was für ein Glück, wenn beides zusammenkommt!
Interview: Mirco Lomoth
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