Die Folgen des demografischen Wandels für den Arbeitsmarkt werden gravierend sein. Doch Lösungsideen liegen auf dem Tisch: Wir brauchen mehr Menschen, die länger arbeiten, eine sinnvolle Technisierung und eine bessere Verteilung der Arbeit zwischen den Geschlechtern
Text: Martin Kaluza

Die Debatte um den demografischen Wandel begleitet die deutsche Arbeitsmarktpolitik seit der deutschen Einheit. In den frühen 1990er-Jahren ging die Geburtenrate in den ostdeutschen Bundesländern stark zurück – in den westdeutschen Ländern war sie ohnehin bereits niedrig. Schon damals sah man einen Arbeitskräftemangel und Engpässe bei der Finanzierung der Renten aufziehen. Möglichkeiten, dem entgegenzuwirken, waren schnell identifiziert: Die Renten müssen sinken, das Renteneintrittsalter steigen, wir brauchen Zuwanderung und Frauen müssen mehr Erwerbsarbeit leisten. Zudem hoffte man, durch technologischen Fortschritt die Produktivität steigern zu können.
Die Erwerbsbevölkerung schrumpft nicht wie erwartet
„Seit Mitte der Neunzigerjahre hat man darauf gewartet, dass ein großer Bevölkerungsrückgang einsetzen würde“, sagt die Arbeitsmarktexpertin Anke Hassel, Professorin für Public Policy an der Hertie School. „Doch der Rückgang hat nie stattgefunden.“ Eine Liberalisierung des Einwanderungsrechts für Arbeitsmigration auf der einen sowie Fluchtbewegungen und Asylsuche auf der anderen Seite haben, so Hassel, den Verlust der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter seit 2015 sogar überkompensiert: Die deutsche Bevölkerung ist um rund fünf Millionen gewachsen. „Ich glaube nicht, dass es zu einem Zusammenbruch der Bevölkerungsgruppe im arbeitsfähigen Alter kommen wird“, sagt Hassel. „Aber die Altersstruktur der Bevölkerung wird sich verändern.“ Wenn die geburtenstarken Jahrgänge in den nächsten Jahren in Rente gehen, kommen gleichzeitig weniger starke Jahrgänge ins erwerbsfähige Alter. Das Verhältnis verschiebt sich.
Die Boomergeneration arbeitet weiter
Doch längst nicht alle Erwerbstätigen der Boomergeneration stellen bei Renteneintrittsalter das Arbeiten sofort ein. „Zwischen 1995 und 2022 stieg die Erwerbsquote der 65- bis 69-Jährigen von knapp fünf auf mehr als 20 Prozent. Und sogar bei den 70- bis 74-Jährigen hat sich die Quote von zwei auf zehn Prozent erhöht“, sagt Hassel. Die Gründe sieht sie zum Teil in der wachsenden Altersarmut, zum Teil auch in der höheren Fitness heutiger Älterer. Der Arbeitssoziologe Martin Krzywdzinski, Direktor am Weizenbaum-Institut für die vernetzte Gesellschaft und Leiter der Forschungsgruppe „Globalisierung, Arbeit und Produktion“ am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, erkennt in der Alterung der Gesellschaft bereits heute eine Herausforderung, auf die Unternehmen reagieren müssen: Wie kann man das Erfahrungswissen der Mitarbeiter: innen noch eine Weile im Betrieb behalten? „Dazu würden neue Arbeitszeitmodelle beitragen, denn die über 65-Jährigen wollen nicht unbedingt acht Stunden am Tag arbeiten“, sagt Krzywdzinski. „Man kann für sie auch andere Rollen im Unternehmen schaffen, zum Beispiel in Form von Mentoringmodellen.“ Das eine sei eine Aufgabe für die Politik, das andere eine für die Personalentwicklung in den Unternehmen.
Zuwanderung verjüngt die Gesellschaft
Über Zuwanderung findet derzeit eine Verjüngung statt“, sagt Krzywdzinski. Dazu zählen Geflüchtete aus Syrien oder Ukraine genauso wie junge Leute, die beispielsweise mit einem einjährigen Visum kommen, etwa über Work and Travel, und dann schauen, ob sie in Deutschland Fuß fassen. „Der Einstieg findet häufig über prekäre, plattformbasierte Dienstleistungsarbeit statt: Essen ausfahren über Lieferando und Wolt, Putzjobs über Helpling“, so Krzywdzinski.
Doch er betont auch: Wir brauchen dauerhaft eine hohe Zuwanderung, selbst wenn gleichzeitig die Erwerbsquote unter Frauen und bei allen jenseits der 65 steigt. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) hat verschiedene Szenarien durchgerechnet: Ohne Zuwanderung fehlen dem deutschen Arbeitsmarkt in 25 Jahren im Vergleich zu heute rund 12 Millionen Arbeitskräfte, wenn die Erwerbsquote bleibt, wie sie ist. Eine Steigerung der Erwerbsquoten würde die Situation nur leicht entspannen, die Wissenschaftler: innen schätzen, dass dann bis 2050 „nur“ 9 Millionen Arbeitskräfte fehlen würden. Um den heutigen Stand zu halten, müssten die Erwerbsquoten steigen und zusätzlich jedes Jahr 400.000 Menschen aller Altersgruppen mehr nach Deutschland einwandern als fortziehen.
Die Steuerung von Zuwanderung und eine Erhöhung der Erwerbsquote sind Aufgaben für die Politik. Anke Hassel setzt zudem Hoffnungen in die Industrie: „Der demografische Wandel sollte Grund für die Unternehmen sein, Produktivitätsfortschritte durch Digitalisierung zu erzielen. Damit könnte auch weniger Arbeit mit gleichbleibendem oder auch zunehmendem Wohlstand verknüpft werden.“
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