Unser Geist ist mehr als die Summe chemischer Reaktionen, betont der Philosoph Alva Noë. An der Wahrnehmung ist vielmehr der gesamte Körper beteiligt. Gemeinsam mit Tänzer:innen und Naturwissenschaftler:innen ergründet er die Kraft der Kunst, uns zu verändern, und hinterfragt neurozentrische Sichtweisen.
Wenn Sie in der Zeitung ein Foto vom Bobschlittenrennen bei den Olympischen Spielen sehen, ist Ihnen das Bild sofort verständlich. Ich begreife solche Bilder als ein Stück Technologie. Wir können sie genauso lesen, wie wir einen Bleistift benutzen. Gewohnheiten bilden die Grundlage für unsere Fähigkeit, in der Welt wirksam zu sein, gleichzeitig schränken sie uns aber auch ein.
Ein Kunstwerk ist nie vollkommen verständlich, es bleibt immer ein Rätsel. Und es konfrontiert uns mit der Frage: Was sind wir? Die Funktion von Kunst, wie ich sie verstehe, ist Reorganisation. Sie emanzipiert uns von unserer durch Gewohnheiten und Kultur geprägten Lebensweise. Mit der Kunst können wir uns weiterentwickeln, auch wenn wir immer eine Version dessen bleiben, was wir vorher waren. Wenn ich ein Gemälde betrachte, verändert es sich allein dadurch, dass ich mich mit ihm befasse – wobei sich das Werk selbst natürlich nicht verändert, sondern nur meine Beziehung zu ihm. Wenn wir Fragen stellen, genauer hinsehen, aufmerksamer sind, treten neue Eigenschaften zutage. Kunstwerke geben uns die Möglichkeit, uns selbst als Wahrnehmende wahrzunehmen.
Mein Projekt an der Freien Universität Berlin heißt daher „Reorganizing Ourselves“. Ich möchte Künstler:innen und Wissenschaftler:innen aus verschiedenen Bereichen zusammenbringen und die Energie der Kunst als Antrieb für persönliche und kulturelle Veränderungen erforschen.
Ich forsche an der Philosophie des Geistes. Seit meiner Studienzeit beschäftige ich mich mit Wahrnehmung, Bewusstsein und anderen Aspekten menschlichen und nicht-menschlichen Lebens. Ich untersuche die Unzulänglichkeiten neurozentrischer Denkweisen über den Geist. Viele Naturwissenschaftler:innen sind der Ansicht, wir bestünden quasi nur aus unserem Gehirn und der Körper sei lediglich ein Gefäß dafür, das Eingangs- und Ausgangssignale verarbeitet. Dieser Logik nach würden sich Wahrnehmung, Erinnerungen und Bewusstsein ausschließlich im Gehirn abspielen. Doch bisher gibt es keine richtig gute Beschreibung davon, wie das funktioniert.
Um alles, was sich mental abspielt, wirklich zu verstehen, müssen wir es als Teil eines Körpersystems betrachten, das sich in eine Lebensumwelt und Kultur fügt. Ich bezeichne das als enactive approach, als ein aktives Verständnis von Bewusstsein. Anstatt unser mentales Leben als Produkt chemischer Reaktionen im Gehirn zu begreifen, sollten wir es als Prozess sehen, der sich im Körper und im Zuge unserer Existenz als „Tier“ abspielt. Wir nehmen mit dem ganzen Körper wahr: In gewissem Sinne komponieren oder choreografieren wir unsere Alltagserfahrungen.
Diese Erklärung wird von Künstler:innen gut aufgenommen, insbesondere in der Welt des Tanzes. Sie sehen sie als intellektuelle Inspiration und Anregung, um ihre eigene Tätigkeit besser zu verstehen. Wenn wir Wahrnehmung als etwas betrachten, das wir aktiv mitgestalten, dann arbeiten Choreograf:innen im Grunde selbst an der Wahrnehmung. Mich interessiert: Ist künstlerische Arbeit eine besondere Art von Forschung? Und wenn ja, welche Art von Wissen bringt sie hervor?
Seit Tausenden von Jahren versuchen wir Menschen, uns selbst zu verstehen. Ich finde die Vorstellung, dass nächste Woche in Nature der Schlüssel zum menschlichen Wesen oder zur Funktionsweise des Geistes veröffentlicht wird, absurd. Es überrascht nicht, dass einige Wissenschaftler:innen sagen: „Früher war das ein philosophisches Problem, jetzt ist es eines der exakten Wissenschaften – und wir können uns endlich der reinen Wahrheitsfindung widmen.“ Mein Einstein-Projekt aber wendet ein: „Nein, auch Philosophie und Kunst sind unvermeidbar, um eine leistungsfähige Biologie des Menschen aufzustellen.“ Ich möchte Naturwissenschaftler:innen dazu bringen, die unverzichtbare Rolle von Kunst, Philosophie und ästhetischem Denken schätzen zu lernen. Denn wenn sie sich mit den großen Problemen des menschlichen Seins wie Liebe, Wahrnehmung oder Bewusstsein beschäftigen, können sie mit ihrer Wissenschaft dazu nur Stellung nehmen, letztlich aber wenig beweisen.
Aufgezeichnet von Mirco Lomoth