Wir sind moralische Wesen

Ein Beitrag aus der Reihe "Elephants & Butterflies" – Wissenschaft bildhaft auf den Punkt gebracht

Der Verhaltensökonom Bertil Tungodden will aufzeigen, wie unterschiedlich Menschen Fairness wahrnehmen und wie das ihr Verhalten beeinflusst. Der Einstein Visiting Fellow entwirft ausgeklügelte Experimente, um in Köpfe zu schauen und daraus politische Empfehlungen abzuleiten.

Ökonomen vertreten seit langem den Standpunkt, dass alles, was den Menschen wirklich interessiert, Eigennutz ist und wir nur anstreben, was für uns selbst von Vorteil ist. Das stimmt nur zu einem gewissen Grad. Denn in jeder Situation gibt es zwei Kräfte, die an uns zerren: eine parteiische – „was ist gut für mich?“ und eine unparteiische – „was ist das moralisch Richtige zu tun?“ Die Erkenntnis, dass wir moralische Wesen sind, die zu einem gewissen Grad von ethischen Überlegungen getrieben werden, ermöglicht es uns, bessere Institutionen und politische Programme zu entwerfen. 

Die Verhaltensökonomie hat die Wirtschaftswissenschaften revolutioniert, indem sie kontrollierte Experimente als Methode einführte und einen breiteren Rahmen schuf, der Moral und Irrationalität als Beweggründe für menschliches Verhalten zulässt. Was die Wirtschaftswissenschaften umkrempelte, war das „Diktatorspiel“. In diesem Experiment wird einem von zwei Teilnehmer:innen, die sich nicht kennen und nicht kommunizieren dürfen, Geld gegeben. Diese Person muss nun entscheiden, ob sie das Geld behält oder teilen will. Typischerweise nehmen rund 30 Prozent der Teilnehmer:innen alles für sich selbst, doch die Mehrheit entscheidet sich dafür, der anderen Person etwas abzugeben. Das ist natürlich ein sehr eingeschränktes Szenario, deshalb erfinden wir für weiterführende Experimente verschiedene Gründe für Ungleichheiten und beobachten dann, wie die Menschen reagieren.

Eine wichtige moralische Motivation für menschliches Verhalten ist Fairness. Menschen beziehen sich ständig auf Fairness, sie empfinden manche Ungleichheiten als fair, andere wiederum als unfair. In meiner Forschung untersuche ich diese Pluralität der Fairnessvorstellungen und wie sie sich innerhalb einer Gesellschaft und zwischen Gesellschaften unterscheiden. Ich arbeite zum Beispiel mit den norwegischen Behörden zusammen, um Steuervermeidung zu verhindern. Es ist entscheidend, was die Steuerzahler:innen übereinander denken, ob sie etwa glauben, dass andere betrügen. Unsere Studien haben gezeigt, dass eine bessere Kommunikation über dieses Thema Steuervermeidung reduzieren kann.

Wenn eine Gesellschaft sich einig über gerechte Verteilung ist, kann sie politische Programme gegen unfaire Ungleichheit entwickeln

In Berlin entwerfen wir Experimente, bei denen einige Teilnehmer:innen härter arbeiten und andere nicht so hart. Eine unparteiische dritte Person muss dann entscheiden, wie das Geld zwischen den Personen verteilt wird. Soll Ungleichheit aufgrund ihrer Leistung akzeptiert werden? Was ist, wenn einer schlechtere Chancen hat? In einer Studie in 60 Ländern beobachten wir, dass Menschen in entwickelten Ländern eine sehr starke Akzeptanz von Ungleichheit aufgrund von Leistung zeigen, während Menschen in vielen Entwicklungsländern auch Ungleichheiten aufgrund von reinem Glück akzeptieren. Die Akzeptanz von Ungleichheit durch Leistung ist sehr förderlich für das Wirtschaftswachstum, weil sie den Menschen einen Anreiz gibt sich zu bemühen. 

Das Problem der Armut liegt mir sehr am Herzen. Ich bin ein reicher Mensch in einem der reichsten Länder der Welt in der reichsten Zeit der Geschichte der Menschheit. Das wirft grundlegende Fragen auf. Ob ein Mensch in eine arme oder eine reiche Familie hineingeboren wird, macht einen riesigen Unterschied. Aber wenn eine Gesellschaft sich einig ist, dass Ungleichheit aufgrund von Faktoren, die außerhalb der Kontrolle des Einzelnen liegen, unfair ist, dann kann sie politische Programme entwerfen, die diese Art unfairer Ungleichheiten vermeidet. Das würde tatsächlich zu einer besseren Welt beitragen.

Aufgezeichnet von Mirco Lomoth