Lauschendes Gehirn

Ein Beitrag aus der Reihe "Elephants & Butterflies" – Wissenschaft bildhaft auf den Punkt gebracht

Unser Gehirn verfolgt und bewertet alle Geräusche, die uns umgeben. Ohne „Statistisches Lernen“ wären wir nicht in der Lage, Wörter von Lärm zu unterscheiden. Der Neurowissenschaftler David McAlpine will die neuronalen Grundlagen des Hörens verstehen und Technologien für hörgeschädigte Menschen entwickeln.

Hören ist wichtig, um die Welt zu verstehen. Es schärft den Sinn für alles was uns umgibt und stellt die Verbindung mit der Umwelt wie mit anderen Menschen her. Wir können die akustischen Eigenschaften eines Raums, also die Geräusche, die er reflektiert, erlernen. Wir hören auch heraus, wenn ein Hund draußen bellt, ohne ihn zu sehen. All diese Geräusche sind im Grunde vibrierende Luftmoleküle, die wild gemischt, als große Welle auf das Trommelfell treffen. Unser Gehirn ist dennoch in der Lage, die Töne zu entwirren und uns eine umfassende Hörerfahrung zu bieten.

Eine Methode des Gehirns, die Struktur der akustischen Merkmale unserer Umgebung zu erlernen, nennen wir Statistisches Lernen. Man kann es sich als Hintergrundlernen vorstellen. Wenn man auf einer lauten Cocktailparty plötzlich seinen Namen hört – dann schaut man sich um, nicht wahr? Unser Gehirn verfolgt im Hintergrund ständig alle Geräusche in der Umgebung, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Es baut ein Muster auf, das erfasst, was, wo und wie etwas geschieht. Es bewertet sogar, ob es notwendig ist, ein bestimmtes Ereignis bewusst wahrzunehmen.

Dies geschieht in einer ständigen Schleife. Die Informationen wandern vom Ohr zum Kortex, dem oberen Teil des Gehirns, und den ganzen Weg zurück zum Ohr. Die Leistung des Innenohrs verändert sich dabei, um sich an die riesige Menge von Informationen um uns herum anzupassen. Wenn man zum Beispiel ein Buch liest, dann ändern die Ohren ihre Empfindlichkeit. Ich versuche zu verstehen, wie diese Veränderung zustande kommt.

Als junger Wissenschaftler wollte ich die Welt verändern. Dann habe ich mich den grundlegenden Neurowissenschaften zugewandt. Aber immer wieder frage ich mich: Was kann ich beitragen, um die Welt zu verändern? Ich nenne das „Wiederentdeckung der Wissenschaft“ – die Leidenschaft neu entfachen, die mich ursprünglich in die Forschung gebracht hat. In London wurde ich Gründungsdirektor des Ear Institute am University College London mit der Aufgabe betraut, das Gehör zu verstehen und Gehörlosigkeit zu bekämpfen. Neun Jahre später wechselte ich an die Macquarie University in Sydney. Hier kommen Hörforschung, klinische Arbeit, Unternehmen, staatliche Hördienste und Wohltätigkeitsorganisationen zusammen. Wir setzen uns jeden Monat zusammen und suchen nach Wegen, um das Leben hörgeschädigter Menschen zu verändern.

Es gibt bisher keinen Algorithmus, der ersetzen könnte, was das Gehirn tut: verschiedene Schallquellen sauber voneinander trennen

Auch wenn ich Neurowissenschaftler bin, ist mir sehr daran gelegen, hörgeschädigten Menschen zu helfen und eine neue Generation an Therapien zu entwickeln. Wenn Menschen ihr Gehör verlieren, wird auch die Verbindung zur Umwelt gekappt. Die wiederherzustellen ist schwierig. Auch wenn ich Neurowissenschaftler bin, ist mir sehr daran gelegen, hörgeschädigten Menschen zu helfen und eine neue Generation an Therapien zu entwickeln. Wenn Menschen ihr Gehör verlieren, wird auch die Verbindung zur Umwelt gekappt. Die wiederherzustellen ist schwierig. Es gibt bisher weder Maschine noch Algorithmus, die ersetzen könnten, was das Gehirn tut: verschiedene Schallquellen sauber voneinander trennen. Wir haben den Hörprozess längst nicht genau verstanden.

In Berlin arbeite ich mit Livia de Hoz von der Charité zusammen. Wir wollen herausfinden, wie Statistisches Lernen sich auf dem Weg vom Ohr zur Hirnrinde vollzieht und wie letztere uns in die Lage versetzt, Hintergrundrauschen herauszufiltern und Sprache zu erkennen. Neueste Bildgebungsverfahren haben bereits ermöglicht, das „zuhörende Gehirn“ beim Menschen zu beobachten und so zu Erkenntnissen zu gelangen, die Tierversuche ergänzen können. In Berlin werden wir die Hirnmechanismen von Mäusen erforschen, die ihnen in verschiedenen Hörumgebungen ermöglichen, Entscheidungen zu treffen. Mit Hilfe von optogenetischen Techniken, bei denen wir mit Licht neuronale Aktivität an- und abschalten können, wollen wir nachvollziehen, wie die stete Interaktion von Gehirn und Innenohr dem Gehirn ermöglicht, sich auf die Hörumgebung einzustellen und von ihr zu lernen. 

Um zurück zur Hörschädigung zu kommen: Menschen aus dem autistischen Spektrum und Legastheniker haben oft Probleme mit dem Statistischen Lernen. Weniger kommunikative Kinder kommen oft mit Hintergrundgeräuschen nicht zurecht und sind kaum in der Lage, einzelne Sprecher zu unterscheiden – sie verstehen also nicht, was vor sich geht. Wir wollen dazu beitragen, Algorithmen für Geräte zu entwickeln, die übernehmen, was das Gehirn normalerweise tut – sich an Umgebungen anzupassen und Klänge zu erzeugen, die verständlich sind. So könnten hörgeschädigte und neurodiverse Menschen wieder leichter kommunizieren und sich in unserer lärmenden Welt etwas wohler fühlen.

Aufgezeichnet von Mirco Lomoth