Wie lässt sich angemessenes Verhalten in sozialen Situationen erklären? Und warum verhalten wir uns in Gruppen oft anders als allein? Der Psychologe Marcel Brass untersucht mit Verhaltensexperimenten und neurowissenschaftlichen Methoden, welche kognitiven Prozesse ermöglichen, dass wir uns sozial intelligent verhalten, und wie "soziale Ansteckung" funktioniert.
Wenn wir mit anderen Menschen kommunizieren, läuft das meist problemlos ab. Wir wechseln uns beim Sprechen ab, fallen einander nicht zu oft ins Wort und imitieren unser Gegenüber, um eine Verbindung zu schaffen. Vieles von dem, was zum Gelingen von zwischenmenschlicher Interaktion nötig ist und was wir soziale Intelligenz nennen, läuft relativ unbewusst ab. Wir müssen zum Beispiel nicht lange darüber nachdenken, wie lange wir einer Person in die Augen schauen können, ohne dass es unangenehm wird. Die optimale Dauer erschließt sich uns intuitiv.
Ein großer Teil unserer sozialen Intelligenz funktioniert also wie eine Art Autopilot, ein optimiertes Programm, das bei Bedarf einspringt. Wie wichtig dieser Autopilot ist, erkennt man daran, wie schwierig soziale Interaktionen für Personen sind, bei denen dieses Programm gestört ist, wie beispielweise bei Personen aus dem autistischen Spektrum.
Im Rahmen meiner Forschung versuche ich die hochkomplexen Prozesse besser zu verstehen, die dem Sozialverhalten zugrunde liegen. Zu diesem Zweck entwickle ich Verhaltensexperimente und beobachte Hirnprozesse mit neurowissenschaftlichen Methoden. Diese experimentelle Forschung ist ein kreativer Prozess, der mich schon immer an der kognitiven Psychologie fasziniert hat.
Im Exzellenzcluster "Science of Intelligence" untersuche ich, wie sich Verhalten in Gruppen entwickelt und ausbreiten kann. Solomon Asch hat in den 1950er Jahren bereits gezeigt, dass Menschen in Gruppen häufig dazu tendieren, sich dem Urteil der Mehrheit anzupassen. Das geschieht auch auf der konkreten Handlungsebene: Wenn bei einem Fußballspiel viele Leute klatschen, hat auch der Einzelne eine starke Tendenz dazu. Es gibt also eine Art sozialer Ansteckung, die Gruppenverhalten prägt. In der Biologie wird das als Schwarmverhalten mit mathematischen Modellen aus der Vogelperspektive untersucht. In der Psychologie betrachten wir, wie sich das Individuum in der Gruppe verhält. Wir fragen: Wie verändert sich die Wahrscheinlichkeit für ein bestimmtes Verhalten in Abhängigkeit des Verhaltens der Gruppe?
Unser Forschungsprojekt ist multidisziplinär und bringt die beiden Perspektiven zusammen. Wir kreieren soziale Situationen als Experiment und schauen, wie die Gruppe das Verhalten des Einzelnen beeinflusst. Virtual Reality-Umgebungen helfen uns, komplexe Situationen zu simulieren. Wir geben der Versuchsperson bestimmte Anweisungen, etwa nach links oben zu gucken, wenn sie einen Knall hört. Dann schauen wir auf die Reaktionszeiten. Wird sie schneller, wenn die virtuelle Gruppe das gleiche Verhalten zeigt? Zögert sie, wenn die Gruppe oder ein Teil von ihr sich anders entscheidet? Imitiert sie möglicherweise sogar die Gruppe und schaut in die gleiche Richtung, obwohl sie eine andere Anweisung erhalten hat?
In unserem Projektteam haben wir neben einem Verhaltensbiologen und einem Physiker auch eine Mikrosoziologin, die Einzelverhalten in realen Gruppenprozessen untersucht, etwa Gewaltbereitschaft bei Demonstrationen. Sie fragt: Werden Individuen gewaltbereiter, wenn die Gruppe Gewaltbereitschaft zeigt?
Gemeinsam wollen wir verstehen, wie sich Verhalten bei Demonstrationen oder auch in Fluchtsituationen ausbreitet. Fliehen bei einem Brand alle in eine Richtung? Wie muss ich die Fluchtwege gestalten? Wie kann ich eine künstliche Intelligenz programmieren, die im Fluchtfall den Weg weist? Psychologische Experimente in Kombination mit mathematischen Modellen können helfen, auf solche Fragen empirisch begründete Antworten zu finden.
Aufgezeichnet von Mirco Lomoth